Angewandte Psychologie bei der Deutschen Bundesbahn

Schaufenster zum Forschungsarchiv Nr. 47

In einer Arbeit zur Geschichte der Psychologie und Psychotechnik der Eisenbahn (Gundlach, 2002) wurde betont, dass die psychologischen Untersuchungen bei der Eisenbahn in Deutschland vom Anfang des 20. Jahrhunderts bis weit in die Dreißigerjahre nicht von Psychologen, sondern in der Regel von Ingenieuren durchgeführt wurden. Die meisten Professoren mit Lehraufgaben in der Psychologie und deren MitarbeiterInnen hatten an diesem Gebiet vermutlich auch wenig Interesse, da das Studium der Psychologie an philosophischen Fakultäten selten anwendungsorientiert war. Das Diplom in Psychologie konnte erst ab 1941 an einigen Universitäten erworben werden; die weitaus meisten Studierenden bevorzugten noch längere Zeit danach den weiterhin möglichen Abschluss der Promotion (meist zum Dr. phil.) ohne Diplom.

Eine „Psychologie bei der Eisenbahn“ im Sinn von angestellten Psychologinnen und Psychologen findet man in Deutschland also erst nach Kriegsende. Die „Deutsche Bundesbahn“ entstand 1949 mit der Gründung der Bundesrepublik und fand ihr Ende mit der Bildung der Deutschen Bahn AG nach der Wiedervereinigung. Das Psychologiegeschichtliche Forschungsarchiv der FernUniversität hat 2021 den wissenschaftlichen Nachlass den Psychologen Hanspeter W. Dvorak (1941–2018) erhalten, der von 1969 bis 1986 Leiter der Forschungs- und Entwicklungsstelle für die Eignungstests der Deutschen Bundesbahn (DB) in München war. Durch diese Funktion hatte Dvorak lange Zeit Einfluss auf die Entwicklung von Eignungsuntersuchungen für große Probanden­gruppen.

Foto: FernUni-Hagen
Vorwiegend in Bundesbahn-Zeitschriften veröffentliche Hanspeter Dvorak seine Berichte über die Tätigkeit der Forschungs- und Entwicklungsstelle für Eignungstests

Dvorak erinnerte sich: „Alte psychotechnische Verfahren, wie z.B. Lückentext, Auftragserledigung, Wagenablauf, Bremsfahrt, Scheibenausgeber, Mehrfachhandlung sowie Such- und Abstreichprobe waren bei der DB noch bis Anfang der 1970er Jahre praktisch unverändert in Gebrauch“ (2015, S, 2). Als „aktuell“ sah Dvorak dagegen die Prüfung der Daueraufmerksamkeit an. Die neueren Verfahren mussten den in der Psychologie inzwischen üblichen Gütekriterien entsprechen (Dvorak 1977, 1980). Dvorak kooperierte in der Testentwicklung mit Arbeitspsychologen und Arbeitsmedizinern (z.B. Dvorak, Hoyos & Metzen, 1981).

Der Nachlass umfasst daher vor allem Doku­mente zur Be­währung diagnostischer Verfahren im Bereich der Deutschen Bundesbahn, insbesondere Testverfahren, an deren Entwicklung Dvorak beteiligt war, wie dem DAT (Dauer-Aufmerksamkeits-Test), der allein in ca. 400.000 Fällen als Teil der Eignungs­unter­suchungen diente. Derartig große Probandenzahlen erklären sich auch dadurch, dass die Bundesbahn Mitte der Siebzigerjahre das größte Unternehmen der Bundesrepublik war, gemessen an der Zahl von weit über 300.000 MitarbeiterInnen.

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Um Bewerberinnen und Bewerber auf die anstehenden Untersuchungen vorzubereiten, wurde 1992 eine Broschüre gedruckt, in der anschauliche Beispiele für die Testaufgaben gegeben wurden.

An der Arbeit von Eignungsuntersuchungen bei der Bundesbahn lässt sich die Entwicklung der Psychodiagnostik mit dem Verschwinden der Psychotechnik, mit der Einführung neuer Testverfahren und dem zunehmenden Einsatz von Computern ablesen.

Neben der Diagnostik bekamen Psychologen bei der Bundesbahn auch andere Aufgaben. So sollte u.a. untersucht werden, wie Fahrgäste in Hochgeschwindigkeitszügen die Einfahrt in den Tunnel erleben. Hierzu hatte es u.a. in England experimentelle Untersuchungen gegeben, auf die sich Dvorak in seinen Untersuchungen und Berichten beziehen konnte.

Dvorak, H. (1977). Psychische Eignungsanforderungen an das Betriebspersonal der DB. Die Bundesbahn, 3, 198-200.

Dvorak, H. (1980). Strukturwandel bei der Deutschen Bundesbahn aus arbeitspsychologischer Sicht. Die Bundesbahn, 2, 96-98.

Dvorak, H. (2015). Anmerkungen zur Eignungsuntersuchung bei den deutschen Eisenbahnen. Unveröffentlichtes Manuskript.

Dvorak, H.; Hoyos, C. Graf; Metzen, H. (1981). Arbeitsanalyse und Ermittlung der Eignungsanforderungen bei Fahrdienstleitern der deutschen Bundesbahn. Arbeits-, sozial- und Präventivmedizin, 7, 170-174.

Gundlach, H. (2002). Psychologie und Psychotechnik bei der Eisenbahn. Vortrag, 38. BDP-Kongress für Verkehrspsychologie 2002 Regensburg. http://psydok. psycharchives.de/jspui/bitstream/20.500.11780/3466/1/gundlach

Gerhard Tübben | 08.04.2024