Psychologie im „Wiederaufbau“

Interviews mit Zeitzeugen

Schaufenster zum Forschungsarchiv Nr. 49

Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) hat der Hagener Sozialpsychologie vor vielen Jahren ein Forschungsprojekt bewilligt, das dem „Wiederaufbau“ der Psychologie in Deutschland gewidmet war[1]. Gegenstand des Projektes war die Ermittlung unterschiedlicher Rollenstrategien von Psychologinnen und Psychologen im Zeitraum 1945 bis ca. 1955. Bei dieser Zielgruppe handelt es sich um Psychologinnen und Psychologen aus Arbeitsverwaltungen, Erziehungsberatungsstellen, aus der ehemaligen Heerespsychologie und anderen Einrichtungen. Deren Studium der Psychologie lag zwischen 1930 und 1950. Entsprechend den bisherigen Erfahrungen der Oral-History-Forschung wurde in den 20 Interviews mit 21 Zeitzeuginnen und -zeugen versucht, die Erzählstruktur als Teil der Äußerungen des jeweiligen Interviewpartners zu berücksichtigen. Fragen an die Zeitzeugen sollten das Interview nicht vorstrukturieren, sondern durch zusätzliche Stichworte Anregungen liefern. Sämtliche Interviews wurden von Dr. Hermann Feuerhelm 2000-2003 durchgeführt. Von wenigen Ausnahmen abgesehen wurden die Interviews mit Einwilligung der GesprächspartnerInnen vollständig aufgenommen, fast alle Tonaufnahmen wurden transkribiert. Der älteste Gesprächsteilnehmer war Prof. Dr. Erwin Gniza (1910-2006), Dresden, der bereits 1934-1942 beim heerespsychologischen Dienst tätig war. Zu den jüngeren Personen gehörte Elisabeth Müller-Luckmann (s. Kasten).

Fernuniversität in Hagen

In einem Anschlussprojekt wurden weitere Psychologinnen und Psychologen dieser Zielgruppe sowie einige Personen aus benachbarten Fachgebieten in gleicher Weise befragt. Einige wenige Personen der beiden Teilprojekte wurden zweimal befragt. In wenigen Fällen wurden Angehörige, z.B. die Witwe eines bekannten Psychologen, befragt. So entstanden 48 Interviews mit 45 Interviewpartnern. Die Interviews erwiesen sich insgesamt als wertvoll, um die Frage differenzierter zu betrachten, ob es nach 1945 in der Psychologie einen Neuanfang gegeben hat oder ob man eher von einer Kontinuität nach dem Ende der Nazizeit sprechen kann, wie dies seit den achtziger Jahren von mehreren Autoren dargestellt wurde. Kontinuität war gesehen worden für

  • die Hochschulen, z.B. deren Struktur und Funktionen,
  • den Lehrkörper bei nur sehr wenigen Professoren, die nach der Entnazifizierung nicht wieder eingestellt wurden, und
  • die Lehrinhalte, die an der fast unveränderten Prüfungsordnung von 1941 orientiert waren.

Die Interviews wurden in einer neueren Studie (Bettenhausen, 2020) inhaltsanalytisch ausgewertet. Dazu wurden Domänen (Problembereiche, wie z.B. Lehrstuhlbesetzung, Arbeitsmarkt und Wissenschaftlergemeinschaft) festgelegt und 324 einzelne, gewonnene Zitate aus den Interviews einem Rating durch sieben eingewiesene Personen unterzogen. Die Rater sollten auf Skalen schätzen, ob es sich bei der Aussage um einen Hinweis auf Kontinuität (1) oder um Neuanfang (10) handelte. Bei hoher Übereinstimmung der Rater deuten die Ergebnisse nicht auf ein „Entweder-oder“ hin, denn die durchschnittliche Beurteilung auf den 10er-Skalen lag nahe der Mitte, die Bereiche „Hochschule“ und „Institutionalisierung“ tendierten zu Neuanfang; dagegen Fachinhalte, Arbeitsfeld und auch Lehrstuhlbesetzung zu Kontinuität. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass diese Domänen für die Frage „Kontinuität oder Neuanfang?“ bedeutsam sind; auch Unterschiede zwischen den Hochschulen waren bedeutsam, möglicherweise gab es auch Unterschiede zwischen den Besatzungszonen.

[1] Expertenstatus und Selbstbetroffenheit - Zur Entwicklung des Rollenkonflikts in der deutschen Psychologie des „Wiederaufbau“; DFG-Projekt Nr. 433 00 607 / 433 00 608.

Bettenhausen, M. (2020). Psychologie im Nachkriegsdeutschland: Kontinuität oder Neuanfang? Eine psychologiegeschichtliche Untersuchung anhand von Zeitzeuginnen und Zeitzeugeninterviews. In M. Wieser (Hrsg.), Psychologie im Nationalsozialismus (S. 223-247). Berlin: Peter Lang.

H.E.L./M.B.

Patrick Rostane | 08.04.2024