Die Psychotechnik in Misskredit

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In Vorlesungen zu aktuellen Themen der Psychologie ist der Begriff der Psychotechnik heute kaum noch zu hören und auch in Lehrbüchern nicht mehr zu finden. Psychotechnik gilt als überholter, historischer Begriff der Angewandten Psychologie. Geprägt wurde der Begriff 1903 von William Stern und verbreitet wurde er vor allem durch Hugo Münsterbergs programmatische Monographie „Grundzüge der Psychotechnik“ (1914). Münsterberg fasste den Begriff auf als „Wissenschaft von der praktischen Anwendung der Psychologie im Dienste der Kulturaufgaben“ (1914, S. 1). Damit waren große Bereiche wie Gesundheit, Wirtschaft, Recht, Erziehung, Kunst und Wissenschaft gemeint, für die die Psychologie nützlich sei.
In der Folgezeit erlebte der Begriff der Psychotechnik eine Einengung auf den Anwendungsbereich der Personalauswahl bzw. der Eignungsuntersuchungen.
Es entstanden zahlreiche Institute, Verbände, Zeitschriften und Untersuchungsverfahren zur Psychotechnik. Große Unternehmen beschäftigten eigene Psychotechniker, die allerdings in der Regel nicht Psychologen, sondern Ingenieure waren.

Der Begriff verlor seine positive Bedeutung bereits in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre. Ein Grund war die umstrittene Orientierung an Unternehmerinteressen. So hatte zum Beispiel Walther Moede in einem Aufsatz sechs unterschiedliche Verfahren beschrieben, wie Unternehmen unliebsame Mitarbeiter loswerden könnten; diese Tricks waren offenbar als Hilfestellung für Unternehmer und Vorgesetzte gedacht. In der Öffentlichkeit entstand so ein negatives Bild der Psychotechnik. Die Zeitschrift „Der freie Angestellte“ sprach 1930 von „Psycho-Schuftik“. William Stern, Hans Rupp und andere distanzierten sich öffentlich von dieser Art Psychotechnik, denn die Gefahr war groß, dass die Psychologie insgesamt so in Mitleidenschaft gezogen wurde.

Der Niedergang der Psychotechnik hing auch damit zusammen, dass zu viel versprochen worden war und die Methoden nicht ausreichend überprüft worden waren. In einem Zeitungsausschnitt der Berliner Zeitung „Der Tag“ vom 22. Februar 1929 ist gleich in der Überschrift von der Psychotechnischen Folterkammer die Rede (s. Abbildung). Berichtet wird von einem Psychologen R. W. Schulte, der u.a. einen „Handzitterprüfer für Datterich bei Damenfriseuren“ ersonnen und andere seltsame Dinge entwickelt habe, mit denen die ansonsten verdienstvolle Psychotechnik „ins Groteske“ gerate.

Foto: FernUni-Hagen
Zeitungsausschnitt aus „Der Tag“, Berlin, 22. Febr. 1922. FernUniversität, PGFA, Bestand Psychotechnisches Institut Wien, Dr. Karl Hackl.

Mit „R. W. Schulte“ konnte in diesem Bericht nur Dr. Robert Werner Schulte (1897–1933) gemeint sein, der bei Wilhelm Wundt in Leipzig studiert hatte. Schulte zog nach Abschluss seines Studiums 1919 nach Berlin und begann mit der Entwicklung von Auswahlverfahren. Auf Bitte des Leiters einer Berliner Friseurfachschule entwickelte er auch Verfahren zu Berufseignungsprüfungen für das Damenfriseurgewerbe (Schulte, 1920, 1921).
1920 wurde Schulte Dozent für Psychologie und Pädagogik an der neugegründeten Deutschen Hochschule für Leibesübungen in Berlin. An dieser von Carl Diem (1882–1962) geleiteten Hochschule richtete Schulte – gerade erst volljährig – das erste sport­psycho­­logische Laboratorium in Deutschland ein, in dem er eine große Zahl von Apparaten und Untersuchungsmethoden entwickelte und erprobte.
Kritik erfuhr diese Art von Psychotechnik auch durch die aufkommenden geisteswissenschaftlichen Strömungen der Zwischenkriegszeit. Autoren wie Eduard Spranger (1882–1963) kritisierten die „Apparatepsychologie“. Unter diesem Eindruck ging auch Carl Diem auf Distanz zur Psychotechnik von Schulte (Lück, 1994).
Die Verbindung der Worte Technik und Psychologie im Begriff Psychotechnik tat ein Übriges, so dass in den dreißiger Jahren der heute weit verbreitete Begriff Wirtschaftspsychologie vorgeschlagen wurde (Erdélyi, 1933).
Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass im Englischen ein ähnlicher Begriff wie Psychotechnik nie verbreitet war. Schon Münsterberg sprach von „applied psychology“. Im Französischen wurde dagegen noch lange nach dem Zweiten Weltkrieg von psychotechnique gesprochen. In einzelnen Bereichen ist der Begriff dort heute noch zu finden.

Erdélyi, M. (1933). Der Begriff „Psychotechnik“. In. O. Lipmann & W. Stern (Hrsg.), Prinzipienfragen der Psychotechnik, (S. 18-24). Leipzig: Barth.

Lück, H. E. (1994). “Und halte Leib und Leben auf meiner ausgestreckten Hand...” Zu Leben und Werk des Psychologen Robert Werner Schulte. In: H. Gundlach (Hg.), Arbeiten zur Psychologiegeschichte, (S. 39-48). Göttingen: Hogrefe.

Moede, W. (1930). Zur Methodik der Menschenbehandlung. Industrielle Psychotechnik 7, 107-111.

Münsterberg, H. (1914). Grundzüge der Psychotechnik. Leipzig: Barth.

Schulte, R. W. (1920). Eignungsprüfungen im Friseurgewerbe. Praktische Psychologie, 1(12), September 1920, 371-378.

Schulte, R. W. (1921). Die Berufseignung des Damenfriseurs. (Schriften zur Psychologie der Berufseignung und des Wirtschaftslebens, herausgegeben von Otto Lipmann und William Stern, Nr. 17). Leipzig: J.A. Barth.

H.E.L.

Gerhard Tübben | 08.04.2024