Zur Psychologie des Schaffensprozesses von Otto Dix

Ein Projekt von Julius Bahle

Schaufenster zum Forschungsarchiv Nr.

Der Psychologe Julius Bahle (1903-1986) hat mit originellen Methoden den künstlerischen Schaffensprozess von Komponisten untersucht (s. „Schaufenster“ Nr. 6 und Nr. 22). Er hatte jedoch weiterführende Pläne. Früh bemühte er sich darum, kreative Leistungen beim Luftschiffbau zu untersuchen, was sich aber nicht verwirklichen ließ. Später ergab sich die Gelegenheit, den künstlerischen Schaffensprozess des Malers Otto Dix zu untersuchen. Dix war in den 1920er Jahren führender Repräsentant der Neuen Sachlichkeit.

Julius Bahle wurde 1903 in Tettnang/ Württemberg geboren. Er hätte gern Musik studiert, schrieb sich dann aber in München und in Mannheim für Wirtschaftswissenschaften ein und erwarb das Diplom. An der Universität Würzburg promovierte Bahle 1930 mit der Dissertation „Zur Psychologie des musikalischen Gestaltens. Eine Untersuchung über das Komponieren auf experimenteller und historischer Grundlage“. Diese Arbeit hatte sein Lehrer Otto Selz in Mannheim betreut. Bahle zog dann in den 1930er Jahren mit seiner Familie nach Hemmenhofen (1974 eingemeindet nach Gaien­hofen) bei Radolfzell am Bodensee, nahe der Grenze zur Schweiz, wo ihn Otto Selz auch besuchte. Von dort ging Bahle an die Universität Jena, wo er sich habilitieren konnte.

Otto Dix wurde 1891 in Gera geboren, erhielt eine künstlerische Ausbildung, war durch seine Anti-Kriegsbilder bekannt geworden und lehrte an der Dresdner Akademie. Gleich zu Beginn der Nazizeit verlor er 1933 seine Professur an der Akademie. 1936 bezog die Familie Dix ihr neues Wohnhaus in Hemmenhofen am Bodensee. Mit Unterbrechungen wohnte und arbeitete Dix hier mit bis zu seinem Tod 1969. Er widmete sich in seinen Arbeiten zunehmend der Landschaft am Bodensee.

Dix und Bahle wohnten also in unmittelbarer Nähe und pflegten freundschaftlichen Kontakt (Bosch, 2018). So wurden Julius Bahle und seine Frau Irmgard, geb. Scherr (1901–1981), von Dix gezeichnet und gemalt.

Foto: FernUni-Hagen

Interessiert an dem Schaffensprozess des Malers unternahm Bahle Wanderungen mit Dix, beobachtete dessen Verhalten und sprach mit ihm über künstlerische Absichten, Eindrücke und Naturerleben. Dazu führte Bahle 1939 ein einfaches Schulheft, in das er mit Bleistift Beobachtungen eintrug (s. Abb.). Am 8. August notierte er:

„auf einem Spaziergang gegen Wangen: a) ständiges Beobachten der Natur unter künstlerisch verwertbaren Gesichtspunkten. Bald sind es einzelne Bäume, die ihn infolge ihrer Gestalt fesseln, bald sind es Baumgruppen + Waldpartien, die ihn zum Studium anregen, bald sind es reife Gersten- oder Weizenfelder, die er einzeln / vergleichsweise auf ihre Farben prüft, bald die verschiedenartigen Stufen des Grüns der Wiesen. Bei Marbach auf der Höhe wirkt er vom Anblick des Abendhimmels begeistert. ...“

Die Eintragungen sind anschaulich, brechen jedoch schon nach 20 Seiten ab. Eine Veröffentlichung zum Thema ist von Bahle nicht erschienen. Vielleicht fand Bahle nicht den wirklichen Zugang zum Schaffensprozess des Malens wie bei den Komponisten. Es kam wohl auch zum Konflikt zwischen den beiden Persönlichkeiten.

Jedenfalls begann mit dem deutschen Überfall auf Polen am 1. September 1939 der Zweite Weltkrieg, und beide Nachbarn hatten nun andere Sorgen. Sowohl Bahle als auch Dix waren zum Nationalsozialismus kritisch eingestellt und hatten sich bewusst weitgehend aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Am 8. November 1939 fand das Attentat von Georg Elsner auf Hitler im Münchener Bürgerbräukeller statt, in dessen Folge Dix kurze Zeit verhaftet wurde. 260 Bilder von Dix wurden aus Museen entfernt. In der propagandistischen Ausstellung „Entartete Kunst“ zeigte man ab 1937 Bilder von Dix als Beispiele unerwünschter Kunst. Bahle musste von Februar 1941 bis Juni 1942 als Heerespsychologe Wehrdienst leisten. Dix, der schon im Ersten Weltkrieg freiwillig Kriegsdienst geleistet hatte, wurde 1945 noch zum Volkssturm eingezogen. Er erlebte nach dem Krieg Anerkennungen seines Werkes und erhielt in der DDR und der Bundesrepublik mehrere Auszeichnungen. Otto Dix starb 1969 in Singen am Hohentwiel.

Julius Bahle lehrte nach dem Krieg in Gießen und arbeitete in Hemmenhofen psychotherapeutisch nach seiner Theorie der schöpferischen Synthese (Dvorak, 2018), er wirkte als Autor und unterhielt einen kleineren Verlag.

Der Nachlass von Julius Bahle wird im Hagener Archiv bewahrt.

Bosch, M. (2018). „… wer Kultur besitzt hat Hemmungen“. Der Kulturpsychologe Julius Bahle (1903–1986) – Eine biographische Skizze. Hegau Jahrbuch 75 („Umbruchzeiten“), (S. 243–270). Singen (Hohentwiel).

Dvorak, H. W. (2018). Schöpferische Psychosynthese und Logotherapie. Julius Bahle (1903–1986) und Viktor Frankl (1905–1997): Eine Gegenüberstellung zweier Psychotherapiemethoden. Wiesbaden: Ludwig Reichert.

H.E.L.

Gerhard Tübben | 08.04.2024