Ein Tonvariator für Graz

Schaufenster zum Forschungsarchiv Nr. 46

Der Psychologe William Stern (1871-1938) wird heute als Begründer der Differentiellen Psychologie, als Wegbereiter der Entwicklungspsychologie und als Schöpfer der Begriffe „Psychotechnik“ und „IQ“, genannt. Er selbst sah den Kritischen Personalismus als wichtige Lebensleistung. Fast vergessen ist heute, dass Stern von der experimentellen Psychologie herkam, in diesem Bereich aktiv war und bekannt wurde. Vor allem ist durch William Stern der sog. Tonvariator bekannt geworden. Unter dem Einfluss seiner Lehrer und Kollegen Hermann Ebbinghaus, Carl Stumpf und Friedrich Schumann entstanden mehrere Arbeiten von William Stern über die Wahrnehmung von Helligkeitsveränderungen, Bewegungen und Tonhöhenveränderungen. Schließlich war die Veränderungsauffassung auch Thema seiner Habilitationsschrift (1897).

Den Tonvariator entwickelte Stern zusammen mit dem Mechaniker der von Arthur König geleiteten Physikalischen Abteilung des Physiologischen Instituts in Berlin. Einfach gesagt handelt es sich um ein Gerät, mit dem Tonhöhen in einem bestimmten Bereich durch Veränderung eines Kolbens erzeugt und kontinuierlich verändert werden können (Anon.). Der Tonvariator wurde von Stern ständig verbessert (Stern, 1902) und 1904 bei der Gründungsversammlung der Gesellschaft für experimentelle Psychologie (heute Deutsche Gesellschaft für Psychologie) in Gießen in einer Ausstellung von experimental-psychologischen Apparaten und Methoden gezeigt (Sommer, 1904, S. 33).

Foto: FernUni-Hagen

Das Hagener Archiv bewahrt als Schenkung acht Briefe von Alexius Meinong an William Stern aus der Zeit 1853-1920, die vor allem den Tonvariator betreffen. An diesem Gerät war Meinong interessiert und Stern wollte dessen Verkauf nach Graz gern vermitteln. Die Briefe von Meinong ergänzen sich mit den Briefen von William Stern, die im Archiv der Universität Graz im Nachlass Meinong vorhanden sind (Lück, 1990).

Meinong fragte am 15. Mai 1897:

„1. zu welchem Preise kann Ihr Mechaniker einen dieser Apparate liefern?
2. wie viel Apparate wären nötig um den Bereich etwa zwischen 200 und 800 Schwingungen damit bearbeiten zu können?

3. Werden die Schwingungszahlen in ausreichend kleinen Abständen schon vom Mechaniker eingetragen und sind derlei Daten ebenso zuverlässig wie etwa die auf den König'schen Stimmgabeln mit Laufgewichten?

4. Wird man sich auf Ihren Berliner Mechaniker noch gleich gut verlassen können, seit Sie nicht mehr in Berlin sind, oder wäre eventuell nun ein Breslauer zu empfehlen?“

William Stern erwies sich als geschäftstüchtig, er beantwortete die Fragen und empfahl fünf in den Tonhöhen aufeinander abgestimmte Geräte mit gemeinsamem Untergestell. Meinong war dagegen zurückhaltend, vielleicht auch aufgrund seines knappen Etats: Er will sich erlauben, „sobald es an´s Bestellen gehen soll“, den definitiven Untersuchungsplan mitzuteilen. Er glaubt „indes nicht, dass vor Beginn des nächsten Winter-Semesters in dieser Richtung etwas wird unternommen werden können.“

Foto: FernUni-Hagen
PGFA Bestand 30-VIII 986, Schenkung H.E.L.

[Anon.], Tonvariator nach Stern. URL: https://www.uni-wuerzburg.de/awz/archiv/apparate-instrumente/tonvariator-nach-stern/

Lück, H. E. (1990). Ein Briefwechsel zwischen William Stern und Alexius Meinong. Psychologie und Geschichte, 1 (4), 38-54.

Sommer, [R.], (1904). Die Ausstellung von experimentalpsychologischen Apparaten und Methoden bei dem Kongreß für experimentelle Psychologie Gießen 18.-21. April 1904. Leipzig: Ambrosius Barth.

Stern, L. W. (1897). Theorie der Veränderungsauffassung. Breslau: Philosophische Fakultät der Universität Breslau (Habilitationsschrift; Teildrucke in: Stern, W. 1898. Psychologie der Veränderungsauffassung. Breslau: Preuss & Jünger).

Stern, L.W. (1902). Der Tonvariator. Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane. 30, 422-432.

H.E.L.

Gerhard Tübben | 08.04.2024