Forschungsgruppe „Digitalisierung – Subjektivierung – Verkörperung“

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In der Beurteilung des Verhältnisses von Mensch und Technik oder genauer: von handlungsfähigen Subjekten und digitalisierter Welt lassen sich zwei Sichtweisen beobachten. Euphoriker*innen betonen die Erweiterung der Möglichkeitsspielräume durch zunehmende Digitalisierung und technische Erweiterungen, die mithin in transhumanistisch-technizistische Utopien münden. Dem steht ein Pessimismus entgegen, der in den neuen Datentechniken v.a. Entfremdungs- oder Herrschaftstechnologien sieht. Hier wie dort handelt es sich um Vereinseitigungen. Denn, einerseits wird die Neuartigkeit der digitalen Techniken überschätzt, wenn nicht angegeben werden kann, worin der kategoriale Unterschied zwischen einfachen Werkzeugen und digitalen Eingriffen bestehen soll. Andererseits hat die Gefahr einer totalen „Kalkulation des Sozialen“ nicht erst mit der digitalen Kultur ihren Anfang genommen. Das Forschungsvorhaben der Forschungsgruppe „Digitalisierung – Subjektivierung – Verkörperung“ (FG I) positioniert sich dementsprechend zwischen diesen beiden Einseitigkeiten.

Die Forschungsgruppe fragt danach, wie verkörperte Subjektivität unter Bedingungen der digitalen Kultur zu formulieren wäre. Aber gegenüber der Diagnose, dass „die“ Subjektivität sich in der digitalen Welt auflöse, „die“ Körper im Virtuellen an Bedeutung verlieren und „die“ Digitalität die Herrschaft übernähme, geht die Forschungsgruppe von Prozessen aus, in denen sich Verschiebungen ergeben, ohne die vermeintlichen Residualkategorien zum Verschwinden zu bringen. Vielmehr entstehen symbiotische Beziehungen zwischen Subjekten und digitalen Technologien, Assemblagen von Körpern, Apparaturen und Techniken, die sich aufs Neue (re-)kombinieren und instabil bleiben. In diesen Beziehungen gelten weder Mensch noch digitale Technologie als Schöpfer und Herrscher der Dinge. Von den statisch-substantiellen Begriffen wie „Subjekt“, „Digitalität“ und „Körper“ wird umgestellt auf die dynamisierten Prozessbegriffe von „Subjektivierung“, „Digitalisierung“ und „Verkörperung“.

Schwerpunkte

An der Forschungsgruppe sind verschiedene Disziplinen und Forscher*innen beteiligt, die jeweils unterschiedliche, durch das Fach und die eigenen Forschungsinteressen geprägte Perspektiven auf das skizzierte Forschungsfeld einnehmen.

Philosophie

Traditionelle Theorien wie die Hermeneutik und die Phänomenologie sehen sich sowohl von den Digitalisierungsprozessen als auch von den darauf reagierenden Theorieangeboten flacher Ontologien herausgefordert (STS, ANT). Umgekehrt gewinnen sie jedoch an Relevanz, da sie an Begriffen wie Reflexivität, Verstehen und Handeln festzuhalten bestrebt sind. Zu erforschen wäre hier das begriffliche Verhältnis zwischen diesen beiden theoretischen Operationen. Als Leitfrage dieser Verhältnisbestimmung dürfte sich herausstellen, ob in flachen Ontologien noch Differenzierungen zwischen Objekten verschiedener Ordnung zu machen sind, d.h. zwischen Aktanten mit und ohne Reflexivität unterschieden werden kann. Will man an Reflexivität als Bedingung für Orientierung und letztlich die Bearbeitung normativer Fragen festhalten, muss man angeben können, wo sie situiert sein soll.

Die Verkörperung digitaler Alltagspraktiken könnte dafür ein probates Forschungsfeld abgeben. Wenn auch immersive Techniken verwischen, wo bloß Anstöße, Anreize (nudgings) und Widerstände auszumachen sind und wo wir es mit Handlungen zu tun haben, bietet möglicherweise die aus der Phänomenologie bekannte Leib/Körper-Differenz eine Handhabe, die leibliche Erfahrung mit der körperlichen Habitualisierung zu vermitteln und sie dennoch nicht zusammenfallen zu lassen. Diese Differenz aufzuweisen und in den zahllosen digitalen kulturellen Praktiken sichtbar zu machen, wäre der Ansatz für die Wahrung einer Instanz der Reflexion in den neuen Ontologien.

Geräte und mehr noch Algorithmen schieben sich gleichsam zwischen traditionell unvermittelte Körper-/Leib-Beziehungen. Hier sei beispielsweise diejenige zum eigenen Körper angesprochen, die zur gerätevermittelten Selbstvermessung wird, oder die zwischenmenschliche Dimension, die im einfachsten Fall medial vermittelt ist, sich aber bis zur Interaktion zwischen Mensch und Maschine (wie in der Pflege oder in Lernprozessen) wandeln kann. Diese Vermittlung verschiebt unser Verständnis von Beziehungen zu uns selbst und zu anderen. Die flachen Ontologien verschieben hier auch den Blick auf eine Ontologie der Relationen. Der begrifflichee Referenzrahmen ist bislang aber noch nicht hinreichend ausdifferenziert.

Literatur- und Medienwissenschaft

Die literatur- und medienwissenschaftliche Perspektive interessiert sich insbesondere für Veränderungen, die (digitale) Medien angestoßen haben und die sich unter bzw. als „technologische Bedingung“ zu manifestieren beginnen: Gemeint sind u.a. Veränderungen des Körperlichen, die Entstehung neuer Ideologien, die Umgestaltung der Subjektivierungsprozesse und des Unbewussten und die damit verbundenen Denk-, Sinn- und Wahrnehmungsprozesse. Literatur, Film und Internet sind dabei sowohl integraler Bestandteil dieser Redefinitions- und Umgestaltungsprozesse. Ebenso jene Medien, durch die eine (Selbst-)Reflexion der Kultur möglich sowie die Flüchtigkeit und Künstlichkeit der Welt zumindest zum Teil erfassbar wird.

In diesem Zusammenhang schließt das Projekt vor allem an Ansätze des kritischen Posthumanismus, des New Materialism und des Cyber- und Xenofeminismus an. Objekte werden hier aus ihrer historisch konstruierten Passivität gehoben und die gegenseitige konstitutive (Ver-)Formung von human und non-human matter beschreiben. Vor dem Hintergrund dieser (post-)anthropologischen und (post-)anthropozentrischen Revision, der Dynamisierung der Sinnkontexte, aber auch der Entstehung neuer Exklusionsmechanismen geht es konkret um Fragen wie: Wie öffnet das Internet neue Kommunikationsräume für einst subalterne Gruppen, wie wird queeres Begehren zu entfalten ermöglicht und wie wirkt sich dies auf die Ästhetik etwa von Serien und Vorstellungen von Geschlechterordnung zurück? Weiterhin ist die wissenspoetologische Dimension der Literatur von Bedeutung: Wie hat die Literatur technische Innovationen avant la lettre als bestimmte Denkfiguren vorbereitet, die nun für die Erfassung des Digitalen Verwendung finden? Welche Transformationen finden in literarischen Bildern statt? Welche Begehrensformen produziert die Digitalisierung und welche neuen (Subjekt-)Ideologien, mit denen unsere Wahrnehmung und unser Denken umgestaltet werden, entstehen im Zuge dessen?

Bildungswissenschaften

Die Trias aus Autonomie, digitaler Materialität und Macht führt zu unterschiedlichen bildungswissenschaftlichen Forschungsperspektiven, die im Kontext des gemeinsamen Forschungsvorhabens wiederum aus drei Blickwinkeln untersucht wird.

Innerhalb instrumenteller Betrachtungen ist es erstens möglich, den Transformationen der Digitalisierung mit einem „unaufgeregten Realismus“ gegenüberzutreten. Die Annahme, dass Formen und Dimensionen der Subjektivierung in neue digitale Praktiken aufgespannt werden, geht mit Fragen und Reflexionen darüber einher, unter welchen Voraussetzungen Subjekte in Zukunft autonom leben können und inwiefern das Ideal der Autonomie noch aufrecht zu erhalten ist oder gar zu modifizieren wäre. Ganz wesentlich spielt dies auf den Umgang mit komplexen Datenmengen und kontingenten Informationssphären an, die im Zeitalter des Digitalen und Künstlicher Intelligenz eine zentrale Aufgabe der individuellen und gesellschaftlichen Lebensbewältigung darstellt. Gerade durch Algorithmen entstehen so neue Voraussetzungen und Möglichkeiten lebensweltlicher Praktiken andererseits werden aber auch neue Abhängigkeiten geschaffen. Es stellen sich anschließend Fragen, welche neuen Felder der Subjektivierung mit algorithmischen Strukturen einhergehen, welche Veränderungen sich dadurch für tradierte individuelle und gesellschaftliche Praktiken erwarten lassen und wie sich Bedingungen und Vollzüge einer autonomen Handlungs- und Urteilsfähigkeit dadurch verändern.

Digitale Medien lassen sich zweitens unter einer machttechnologischen Perspektive in den Blick nehmen. Untersucht werden die Regulierung von Selbststeuerungs- und Fremdregierungsweisen im Zuge der Digitalisierung von Lehr- und Lernverhältnissen sowie die Herstellung eines quantifizierenden Vergleichsrahmens digitaler Ungleichheit. Erforscht werden soll darüber hinaus, wie machtinduzierte Wandlungsprozesse unsere Auffassung von einem Lernsubjekt in mediatisierten Lernumgebungen verändert haben. Anhand ausgewählter Beispiele aus dem E-Learning-Bereich (moodle, Mahara, Moocs, Blended Learning, Flipped Classroom) werden im Rückgriff auf gouvernementalitätstheoretische und soziometrische Ansätze die hinter der Digitalisierung stehenden Optimierungsideologien aus einer bildungstheoretischen Perspektive kritisch beurteilt.

Drittens lassen sich digitale Medien aus einer posthumanistischen Perspektive reflektieren. Hierbei werden insbesondere die Indienstnahme des Digitalen als Äquivalenzkategorie zur Naturkategorie in pädagogischen Ordnungen und die daraus resultierenden Konsequenzen für eine digitale Umweltbildung in den Blick genommen. Hierzu können Spezialdiskurse zum „Digitalen Lernen“ rekonstruiert werden, um daraus Implikationen für eine Umweltbildung in Zeiten der Digitalisierung abzuleiten, die ja auf ökologische Ressourcen angewiesen bleibt. Fernerhin sollen Diskurse zur Künstlichen Intelligenz und deren inhärente anthropologische Konzeptionen als Schlüssel zu einer materialistischen Erweiterung von ‚dekonstruktiven Pädagogiken‘, untersucht werden. Hierzu sind Interdiskurse zur den ‚harten Formen‘ der Künstlichen Intelligenz zu rekonstruieren, um so Erkenntnisse über Episteme zur Agentialität von (digitaler) Materie im Bildungsgeschehen und darüber hinaus zu erhalten.

Soziologie

Die hier einschlägigen Forschungsarbeiten der Soziologie sind an der Schnittstelle zwischen Technik- und Sozialwissenschaften angesiedelt. Als solche machen sie es sich zur Aufgabe, innerhalb der Forschungsgruppe die von den Entwicklungen der Künstlichen Intelligenz (KI) aufgeworfenen Probleme auf ihre soziologischen Bedingungen hin zu befragen. Untersucht werden soll die Forschungsfrage, welche parasoziologischen Theoreme zur Entwicklung von Softwaresystemen der Verteilten Künstlichen Intelligenz (VKI) genutzt werden und inwiefern diese zur Robustheit von technischen Systemen beitragen. Am Beispiel einer digitalen Tauschbörse werden vor allem verschiedene Tauschmechanismen untersucht, die in den technischen Systemen der VKI zum Einsatz kommen. Dabei geht es um die techniksoziologische Frage, welche Folgen die Durchsetzung des digitalen Tauschhandels mit Algorithmen der VKI für die Tauschpraxis hat. Bekannte Beispiele hierzu finden sich bereits im digitalen Aktienhandel, der sich durch die VKI massiv verändert hat mit Wirkungen auf das gesamte Feld der Wirtschaft in der Gegenwartsgesellschaft. Diese Entwicklung dringt inzwischen massiv in digitale Tauschplattformen wie Ebay ein und verändert das Konsumverhalten der Gegenwart fundamental. Das Forschungsprojekt will diesen Entwicklungen nachgehen und ihre Konsequenzen für die Gegenwartsgesellschaft exemplarisch an digitalen Tauschbörsen aufzeigen. Die soziologische Perspektive auf die digitale Kultur ist demnach nicht nur gesellschaftsdiagnostisch angelegt, sie will auch sozial- und gesellschaftstheoretische Konsequenzen aus der Digitalisierung der Sozialität ausloten.

 

Mitglieder

LG Philosophie III: Technik, Geschichte, Gesellschaft

Prof. Dr. Thomas Bedorf

Leitung

E-Mail: thomas.bedorf

Profil

Sarah Kissler, M.A.

Koordination

E-Mail: sarah.kissler

Profil

Junior-Professur für literatur- und medienwissenschaftliche Genderforschung

Jun.-Prof. Irina Gradinari

E-Mail: irina.gradinari

Profil

Carolin Rolf

E-Mail: carolin.rolf

Profil

Lehrgebiet Soziologie I: Allgemeine Soziologie und Soziologische Theorie

Prof. Dr. Frank Hillebrandt

E-Mail: frank.hillebrandt

Profil

Dr. Jasper Böing

E-Mail: jasper.boeing

Telefon: +49 (0)2331-987-2525

Amela Radetinac, B. A.

E-Mail: amela.radetinac

Telefon: +49 (0)2331-987-4473

Lehrgebiet Soziologie II: Soziologische Gegenwartsdiagnosen

Prof. Dr. Uwe Vormbusch

E-Mail: uwe.vormbusch

Profil

Eryk Noji, M. A.

E-Mail: eryk.noji

Profil

Lehrgebiet Bildung und Differenz

Prof. Dr. Katharina Walgenbach

E-Mail: katharina.walgenbach

Telefon: +49 2331 987-2751

Dr. Maximilian Waldmann

E-Mail: maximilian.waldmann

Profil

Dr. Maik Wunder

E-Mail: Maik.Wunder

Profil

Lehrgebiet Bildungstheorie und Medienpädagogik

Prof. Dr. Claudia de Witt

E-Mail: Claudia.deWitt

Profil

Dr. Christian Leineweber

E-Mail: christian.leineweber

Profil

Arbeitsstelle Kulturwissenschaftliche Grundlagen

Dr. Daniel Schubbe-Åkerlund

E-Mail: daniel.schubbe

Profil

David J. Lensing, B. A.

E-Mail: david-johann.lensing