Rassismuskritisches Glossar

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Über dieses Glossar

Das rassismuskritische Glossar wurde in einer gemeinsamen, Disziplinen übergreifenden Unternehmung von Forscher*innen und Lehrenden der FernUniversität zusammengestellt, um sich an den Internationalen Wochen gegen Rassismus 2024 zu beteiligen und die Ziele der Stiftung gegen Rassismus zu unterstützen.

Aufgrund der fächerübergreifenden Autor*innenschaft, sind die Begriffe aus unterschiedlichen disziplinären Perspektiven verfasst, welche die Vielfalt der Forschung an der FernUni abbilden. Die jeweiligen Autor*innen sind als Quelle unter jedem Eintrag genannt. Das Glossar erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit und ist als Work-in-Progress gedacht, das wachsen und weiterentwickelt werden kann.

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  • Das 18. Jahrhundert ist ein Zeitraum, in dem sich in Europa – und zumal im deutschsprachigen Raum – gleichsam als Begleiterscheinung der Aufklärung mit ihrem Systematisierungs- und Kategorisierungsbedürfnis auch ein dem Selbstverständnis nach wissenschaftlicher Rassismus entwickelte, der zur Rechtfertigung von Sklaverei herangezogen wurde.[1] Zugleich etablierte sich aber auch eine die Abschaffung der Sklaverei fordernde Abolitionsbewegung. Damit verbunden ist eine intensive diskursive Verhandlung dessen, was in kulturwissenschaftlicher Terminologie heute als race bezeichnet wird. Die Frage der Sklaverei, wie auch die nach dem Verhältnis von weißen Menschen und BPoC, brannte den Zeitgenoss*innen des 18. Jahrhunderts auf den Nägeln.

    Das heute weitgehend vergessene, innerhalb der Literaturwissenschaft erst in den letzten Jahren diskutierte Abolitionsdrama steht in der Tradition des bürgerlichen Trauerspiels. Der „Anspruch des Bürgers auf Pathosfähigkeit, für Lessing ein „unmittelbarer Akt der Emanzipation“[2], wird um 1800 mit mindestens derselben Sprengkraft auf Sklav*innen übertragen. Die Tragödienfähigkeit des Bürgers kommt jetzt auch den aus Afrika verschleppten Sklaven zu. Dabei spielt Mitleidein heute häufig kritisch gesehenes Gefühl – eine zentrale wirkungspoetische Rolle als dasjenige dramatische Mittel, dem zugetraut wird, die Zuschauenden zu Veränderungen anzustiften. Um solches Mitleid bei den Zuschauer*innen auszulösen, diese damit für die Sache der Abolition zu gewinnen, perspektiviert das Abolitionsdrama um 1800 Sklav*innen als Entführte. So gelingt es dem Genre, an die vom bürgerlichen Trauerspiel etablierte Ästhetik anzuschließen und diese in den Dienst des abolitionistischen Anliegens zu nehmen.

    Das Abolitionsdrama leistet damit einen wesentlichen Beitrag zur im 18. Jahrhundert virulenten Debatte um Sklaverei. Beispiele sind August von Kotzebues Die N****sklaven (1796) oder Wolfgang Heribert von Dalbergs Oronooko (1786). Die Sklavenfiguren werden in beiden Dramen im Zeichen des Mitleids exponiert. Während aber Kotzebue stark in proto-rassistischen Narrativen verhaftet bleibt und sein Stück suggeriert, Sklaverei sei nur dann ein Problem, wenn Kolonialherren besonders grausam agieren, fordert Dalbergs Oronooko (eine Adaption der gleichnamigen Erzählung von Aphra Behn) die Abschaffung der Sklaverei. Die Auseinandersetzung mit den Abolitionsdramen kann ein Weg sein, die im 18. Jahrhundert relevanten Debatten und ihren literarischen Niederschlag differenziert zu diskutieren. Dass sich gerade das Unterhaltungstheater der Frage der Sklaverei angenommen hat, gehört zum Gesamtbild der Goethezeit.

    PD Dr. Irmtraud Hnilica, Institut für Neuere deutsche Literatur- und Medienwissenschaft (LG Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Medientheorie)

    Literatur
    Dalberg, Wolfgang Heribert von: Oronooko. Ein Trauerspiel in fünf Handlungen für die Mannheimer National-Bühne, Mannheim 1786.
    Wulf D. Hund, Wulf D.: Rassismus. Die soziale Konstruktion natürlicher Ungleichheit, Münster 1999.
    Kotzebue, August von [1796]: Die N****sklaven. Ein historisch-dramatisches Gemählde in drey Akten, Hannover 2019.

    Szondi, Peter: Die Theorie des bürgerlichen Trauerspiels im 18. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1973.


    [1] Zu Kants Systematisierung der Menschheit in vier „Rassen“ vgl. Wulf D. Hund: Rassismus. Die soziale Konstruktion natürlicher Ungleichheit, Münster 1999, S. 121ff.

    [2] Szondi, Peter: Die Theorie des bürgerlichen Trauerspiels im 18. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1973, S. 153.

  • Alman und Kartoffel sind Slang Begriffe für stereotypische Deutsche. Das Wort Alman bedeutet auf Türkisch „Deutscher“, und auch in anderen Sprachen ist die Bezeichnung für Deutsche ähnlich. Das Wort Kartoffel bezieht sich auf das Klischee der Vorliebe von Deutschen für kartoffelbasiertes Essen. Die Begriffe Alman und Kartoffel beziehen sich vor Allem auf Klischees des „deutschen“ Verhaltens, wie etwa Pünktlichkeit, Pingeligkeit und eine Liebe zu Regeln. Oft werden die Begriffe verwendet, um sich über ebendiese Eigenschaften lustig zu machen, zum Beispiel im Internet und auf sozialen Medien über Memes.

    Einige Deutsche sehen hierin Rassismus. Allerdings sollte beachtet werden, dass es im Gegensatz zu rassistischen Beleidigungen hier weder eine historische Nutzung der Begriffe zur Diskriminierung, noch einen aktuellen strukturellen Rassismus gegen Deutsche gibt.

    Dr. Lea Barbett, Fakultät für Psychologie (Lehrgebiet Community Psychology)

  • Ambiguitätstoleranz meint Vieldeutigkeit, Unsicherheit, gegensätzliche Erwartungen oder Interpretationen und mehrdeutige Informationen wahrnehmen und auch aushalten zu können. Ambiguitäten unterscheiden sich dabei von Widersprüchen insofern, als dass Widersprüche sich auf Dichotomien, also zwei Pole beziehen. Im Alltag existieren jedoch zahlreiche verschiedene Bedeutungen für eine Sache, die auch im Konflikt miteinander stehen können. Es ist schwieriger diese Wahrzunehmen und auszuhalten, je unsicherer man sich selbst fühlt. Menschen gehen ihrem Bedürfnis nach Sicherheit nach, indem sie ihre Umwelt kategorisieren und bewerten. Je sicherer sich eine Person fühlt, desto leichter fällt es dieser, Unsicherheiten auszuhalten. Ambiguitätstoleranz ist zudem eine Voraussetzung für interkulturelle Kompetenz.

    Cornelia Jenke, Wirtschaftswissenschaft (Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre, insbes. Personalführung und Organisation), Institut ABD und Projekt "Führung im digitalen Raum: Chance jenseits der Gender-Falle?"

  • Der Begriff „Antimuslimischer Rassismus“ wurde von der Rassismusforscherin Iman Attia eingeführt und macht – im Gegensatz zu Begriffen wie Islamfeindlichkeit, Muslimfeindlichkeit, Islamophobie – die historische Kontinuität der Diskriminierung, Marginalisierung und Ungleichbehandlung muslimischer und muslimisch gelesener Menschen sichtbar. Auch wenn oftmals im Zusammenhang mit antimuslimischem Rassismus auf den 11. September 2001 rekurriert wird, geht er bis in die Kreuzzüge zurück (vgl. Attia 2007, S. 7). Eine Analyse von antimuslimischen Narrativen in öffentlichen Diskursen zeigt, dass dem antimuslimischen Rassismus „ein spezifisches Wissensarchiv zur Verfügung [steht], das sich aus einer langen Tradition europäisch-christlicher und orientalistischer Islambilder speist“ (Shooman 2014, S. 53) und somit vielfältige Narrative möglich sind. Außerdem legen Analysen dar, dass in diesen Narrativen unterschiedliche Differenzlinien (z. B. Kultur, Religion, Geschlecht und Klasse) ineinander übergehen und ein komplexes Geflecht bilden (vgl. ebd., S. 222). Von daher ist es bei antimuslimischem Rassismus von großer Bedeutung, eine intersektionale Perspektive zu berücksichtigen. Kurzum: Mit dem Begriff Antimuslimischer Rassismus wird die Diskriminierung, Marginalisierung und Ungleichbehandlung unter Rückgriff auf Religion, Kultur und Ethnie von muslimischen und muslimisch gelesenen Menschen beschrieben.

    Dilek Dipçin-Sarıoğlu, Institut für Bildungswissenschaft und Medienforschung (Lehrgebiet Empirische Bildungsforschung)

    Literaturverzeichnis:

    Attia, Iman (2007): Kulturrassismus und Gesellschaftskritik. In: Dies. (Hrsg.): Orient- und Islambilder. Interdisziplinäre Beiträge zu Orientalismus und antimuslimischem Rassismus. Münster, S. 5-44.
    Shooman, Yasemin (2014): „… weil ihre Kultur so ist.“ Narrative des antimuslimischen Rassismus. Bielefeld.

  • Antisemitismus ist der Hass auf Juden. Der Begründer der Kritischen Theorie Theodor W. Adorno hat diese Definition um eine wichtige Nuance bereichert: Antisemitismus ist das „Gerücht über die Juden“. Antisemitismus ist demnach keine Meinung, der man argumentativ begegnen kann und muss, sondern ein Affekt, der das Weltbild des Antisemiten beherrscht. Darin liegt bereits ein wesentliches Element des Antisemitismus, der sich dadurch von anderen Formen von Diskriminierungen gegenüber Kollektiven unterscheidet, dass er zumeist in einen umfassenden ideologischen Horizont eingebettet ist. So werden die Jüdinnen und Juden nicht einfach „als sie selbst“ diskriminiert aufgrund stereotyper Zuschreibungen, sondern zugleich verantwortlich gemacht für zahlreiche Übel der Welt, als deren Verursacher sie angesehen werden. Zu den klassisch antisemitischen Stereotypen gehören die Fixierung auf das Mathematisch-Wissenschaftliche, den Profit, die Heimat- und Wurzellosigkeit und folglich der Internationalismus. So eignet sich der Antisemitismus dafür, für Fehlentwicklungen der Gegenwartsgesellschaft einen Schuldigen zu finden: Für die Herrschaft des Technologischen, die neoliberale Ökonomie, die Migration oder den übergroßen Einfluss globalisierter Konzerne auf die gesellschaftlichen Ordnungen. Belege braucht es dafür nie, da „der Jude“ der Antisemiten ein Phantasma ist, das der Antisemitismus benötigt. „Gäbe es den Juden nicht, würde der Antisemit ihn erfinden“, schrieb Jean-Paul Sartre. „Der Jude“ ist die Projektion, die Antisemitismus benötigt, um als Verschwörungserzählung zu funktionieren. Dementsprechend kann sich diese Projektion auch auf Kollektive erstrecken, in denen die Jüdinnen und Juden die Mehrheit sind: Israel. Da gerade in politischen hochgradig aufgeladenen Zeiten sich zwischen Antisemitismus, „israelbezogenem Antisemitismus“ und Kritik an der Politik des Staates Israel nicht immer eindeutig unterscheiden lässt, führt dies in der Öffentlichkeit zu teils aggressiven Diskussionen.

    Prof. Dr. Thomas Bedorf, Philosophiesches Institut (Lehrgebiet Praktische Philosophie: Technik, Geschichte, Gesellschaft)

  • Die strukturelle Diskriminierung von Menschen, die vermeintlich oder selbstgewählt zur sozial-konstruierten Gruppe der »Slaw:innen« zählen, wird als antislawischer Rassismus oder Antislawismus bezeichnet. Da sich diese Diskriminierungsform gegen Menschen richtet, die als »weiß« gelesen werden, findet bisher kaum Beachtung, dass es sich hierbei um Rassismus handelt.

    Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts werden »Slaw:innen« als eine eigene, minderwertige »Rasse« konstruiert. Dabei handelt es sich um gruppenbezogene Fremdzuschreibungen, die nicht den Selbstbeschreibungen der Menschen entsprechen, die damit gemeint sind. Die Diskriminierungsform kann sich pauschal gegen die Bevölkerung von Staaten wie Russland oder der Ukraine aber auch Polen, Serbien, Bulgarien u. w. richten oder gegen Menschen, denen eine nationale oder ethnische Zugehörigkeit zu einem dieser Länder zugeschrieben wird. Auch Menschen, die als sogenannte Russlanddeutsche oder jüdische Kontingentflüchtlinge aus den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland gekommen sind, werden so rassistisch adressiert.

    In der deutschen Gesellschaft spezifisch verankert ist der Antislawismus insbesondere durch den Nationalsozialismus. Dort diente er der Abwertung und Entmenschlichung vermeintlicher »Untermenschen«, die im Antislawismus auch heute noch (nach-)wirkt. In der Diskursfigur des »Jüdischen Bolschewismus« ging der antislawische Rassismus mit Antisemitismus, Antibolschewismus und Antikommunismus einher und diente als Begründung für die deutsche Vernichtungskrieg-, Vertreibungs- und Siedlungspolitik in Osteuropa.

    Janine Fubel, Historisches Institut (Lehrgebiet Public History)

B Bild: *
  • Die Bamboo Glass Ceiling beschreibt besondere Hürden für Frauen mit asiatischen Wurzeln im Beruf. Sie werden zwar als ehrgeizig, hart arbeitend und gut ausgebildet stereotypisiert, aber sexualisiert und infantilisiert und gelten als gute Follower, nicht aber als Leader.

    Der Begriff kommt von der „gläsernen Decke“ (glass ceiling), eine Metapher für nicht sichtbare, aber undurchlässige strukturelle Barrieren, die Frauen und Menschen aus Minderheiten am beruflichen Aufstieg nach hindern. Der Blick in die höheren Machtetagen erscheint frei, bestimmte Personen kommen aber nicht durch.

    Prof. Dr. Brigitte Biehl, Wirtschaftswissenschaft (Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre, insbes. Personalführung und Organisation)

    Quelle: Biehl, Brigitte (2023): Gender und Leadership. Führung jenseits der Geschlechterklischees. Wiesbaden: Springer, S. 2.

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  • Politisch und historisch ist die „Dekolonisierung“ präzise zu fassen, als Prozess der Emanzipation und Unabhängigkeit vormals kolonialer Gebiete. In dieser Auffassung lässt sich die Dekolonisierung in verschiedene Hauptphasen teilen, von der Unabhängigkeit lateinamerikanischer Staaten zu Beginn des 19. Jahrhunderts über die emanzipierten Staaten im Nahen Osten, Südasien und Südostasien Ende der 1940er Jahre (darunter Indien, Syrien, Israel, Indonesien) sowie um 1960 die Staaten Nordafrikas (zum Beispiel Libyen, Algerien und Tunesien) und Westafrikas (beispielsweise Ghana, Guinea, Kamerun). Nach dieser Lesart gibt es heute nur noch wenige abhängige Gebiete, wie etwa Gibraltar und Neukaledonien.

    Abgesehen von der formellen, politischen Unabhängigkeit bestehen jedoch noch starke Abhängigkeitsverhältnisse im Welthandel, die sich beispielsweise am Einfluss westlicher Unternehmen im „Globalen Süden“ und der Kreditpolitik der Industriestaaten ablesen lassen. Diese andauernden oder neuen Asymmetrien werden mit dem Begriff „Neokolonialismus“ adressiert. Daneben bestehen in der Mehrheitsgesellschaft vieler „westlicher“ Staaten noch in kolonialen Spannungsverhältnissen gefasste Denkstrukturen. Diese aufzudecken und ihnen entgegenzuwirken haben sich zahlreiche zivilgesellschaftliche decolonize-Initiativen zur Aufgabe gemacht.

    Dr. Fabian Fechner, Historisches Institut (Lehrgebiet Geschichte Europas in der Welt)

    Literatur:
    Zwischenraum Kollektiv (Hg.): Decolonize the City! Zur Kolonialität der Stadt. Gespräche, Aushandlungen, Perspektiven, Münster 2017.
    Hiery, Hermann: Dekolonisation, in: Ders. (Hg.): Lexikon zur Überseegeschichte, Stuttgart 2015, S. 203f. [dort konzise die Untergliederung der politischen Dekolonisation in sieben Phasen]

  • Dichotomisierung meint die Einteilung der Welt in binäre Denkmuster unter Ausblendung anderer möglicher Aspekte oder gar der Gesamtheit. In der Rassismuskritik ist damit die Zweiteilung einer Gruppe nach kulturellen oder biologischen Merkmalen gemeint. Dadurch werden Differenzen gebildet, bewertet und markiert und Hierarchien hergestellt. Damit einher geht die Zuschreibung bestimmter Eigenschaften zu den jeweiligen Polen und entsprechender Ausgrenzung und Bewertung. Beispiele sind Schwarz-weiß, Mann-Frau, Arm-Reich, Deutsche*r-Nicht-Deutsche*r, Erwachsene-Kinder, u.v.m., welche mit bestimmten inneren Bildern einhergehen, die entsprechende Verhaltensmuster nach sich ziehen und alles andere, was nicht dem entspricht, verkennt und ausgrenzt. Das „eigene“ wird dabei aufgewertet und das „andere“ abgewertet.

    Cornelia Jenke, Wirtschaftswissenschaft (Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre, insbes. Personalführung und Organisation), Institut ABD und Projekt "Führung im digitalen Raum: Chance jenseits der Gender-Falle?"

E Bild: *
  • Der Begriff (Epistem, gr. Wissen) stammt aus den postkolonialen Theorien (Gayatri Spivak 1988). Es existieren demnach verschiedene Formen indirekter Gewalt, die mit der Entwicklung, Verbreitung und Anerkennung von Wissen etabliert werden. Auf diese Art werden scheinbare Wahrheiten und Wirklichkeiten konstruiert. Der Begriff Epistemische Gewalt wird vornehmlich im Zusammenhang mit dem Kolonialismus und Eurozentrismus gebracht, bei dem es um die gewaltsame Verbreitung des christlichen Glaubens in kolonialisierten Ländern und die Unterwerfung anderer Personengruppen aufgrund ihrer Herkunft ging.

    Epistemische Gewalt bezeichnet die Durchsetzung einer dominanten epistemischen Perspektive, die eine Hierarchisierung vornimmt. So werden bspw. körperliche Merkmale bestimmten Bevölkerungsgruppen zugeordnet und mit spezifischen (negativen, abwertenden) Eigenschaften verbunden [epistemische Ebene], die zu Ausgrenzung oder Benachteiligung führen. Dieses „Wissen“ wird dann bspw. in Schulen oder anderen staatlichen Institutionen (vgl. Asylrecht) etabliert [institutionelle Ebene] und verbreitet. Wodurch wiederum alle Menschen eine normierte Vorstellung beziehen und diese sogar zutiefst mit ihrer Identität verknüpfen und sich damit auch gegenseitig auf dieses Wissen und das zugehörige Verhalten hin kontrollieren [personale Ebene]. Vor allem die Verknüpfung des „Wissens“ mit der Identität entfaltet eine hierarchisierende und überaus durchgreifende Macht.

    Ein Beispiel hierfür lautet: es gibt nur Männer und Frauen und diese müssen heiraten und Kinder bekommen und Frauen kümmern sich um die Kinder und Männer gehen arbeiten, um die Familie zu ernähren. Der Staat richtet sich auch institutionell u.a. bzgl. Eherecht oder Familiendarstellungen in Schulbüchern darauf aus und schließt andere Gruppen davon aus und benachteiligt damit Frauen, nicht heteronormative Lebensentwürfe und alle anderen Geschlechter.

    Cornelia Jenke, Wirtschaftswissenschaft (Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre, insbes. Personalführung und Organisation), Institut ABD und Projekt "Führung im digitalen Raum: Chance jenseits der Gender-Falle?"

  • Ethnie bezeichnet eine soziokulturelle Gruppe, die sich gleichermaßen aus der Eigenverortung ihrer Mitglieder und deren Fremdzuweisung ergibt. Innerhalb der Gruppe wird die Zugehörigkeit über kulturelle Elemente definiert, die als gemeinsam erfahren angesehen werden. Dabei spielen gemeinsame Herkunft und Sprache wie auch Religion eine wesentliche, aber nicht ausschließlich Rolle. Die Bedeutung der einzelnen Kriterien ist je noch Gruppe variabel und verändert sich im Zeitverlauf. In der Außenbetrachtung erscheinen die Kriterien noch vielfältiger, wobei neben faktischen Beobachtungen auch subjektive Zuschreibungen und Vorurteile zum Tragen kommen können. Zudem bedingen sich Innen- und Außenperspektive gegenseitig, indem relevante Kriterien übernommen werden. Ethnien sind kein auf Dauer gestelltes, starres Gefüge, sondern je nach Entwicklung der eigenen Verortung ihrer Mitglieder als auch der Wahrnehmung durch ihre Umwelt flexibel und immer wieder in einem Wandlungsprozess begriffen. Im Gegensatz zur veralteten und pejorativen Bezeichnung „Stamm“ enthält der Begriff Ethnie in diesem Verständnis keine Konnotationen, welche die innere soziopolitische Verfasstheit der betreffenden Gemeinschaft beschreibt. Ethnien sind nicht an Staatlichkeit und Territorialität gebunden. Sie unterschieden sich insofern von der Nation und bewegen sich in der Regel auf einer Ebene darunter, wo formale Grenzziehungen keine wesentliche oder allenfalls eine hemmende Rolle spielen.

    Prof. Dr. Jürgen G. Nagel, Historisches Institut (Lehrgebiet Geschichte Europas in der Welt)

  • Ethnizität stellt den konzeptionellen Überbau zum Begriff der Ethnie dar. Er betont einen Zugriff auf menschliche Gesellschaftsbildung, der über die Ebene der staatlichen und territorialen Bindung hinausgeht und der komplexen Realität weitaus besser gerecht wird. Dabei verweist er darauf, dass in diesem Kontext keine festgelegte, dauerhafte, unverrückbare kulturelle Identität bestehen kann und somit keine eindeutige, nicht hintergehbare Zuordnung möglich ist. Der Begriff Ethnizität steht vielmehr für fließende Grenzen und dynamische Entwicklungen bei der Genese und Existenz soziokultureller Gruppen.

    Prof. Dr. Jürgen G. Nagel, Historisches Institut (Lehrgebiet Geschichte Europas in der Welt)

  • „Eurozentrismus“ ist die Kritik an einer Weltsicht, die Europa (und auch Nordamerika als Teil „des Westens“) als Dreh- und Angelpunkt des Globus und der neuzeitlichen Geschichte sieht. Die europäischen Metropolen und Staaten vereinigen demnach Macht und Wohlstand und kolonisieren große Bereiche der übrigen Welt.

    Der Begriff zielt in drei Richtungen: zunächst in Richtung einer Fokussierung des öffentlichen Interesses. Je weiter ein Ereignis entfernt ist, desto aufsehenerregender muss es sein, um auch heute hier in die Nachrichten zu gelangen. Doch ist eigentlich „eurozentrisch“ oftmals schon zu weit gegriffen. Griechenland schafft es beispielsweise in die Tagesschau, wenn ein Staatsbankrott droht oder ein Generalstreik ansteht, sonst eher selten. Die Wahrnehmung ist statt „eurozentrisch“ eher gar nur „germanozentrisch“ oder „anglozentrisch“.

    Überzeugend ist das Konzept „Eurozentrismus“ in Sachen Kategoriendenken: Was ist „Nationalismus“? Wie definieren sich „Nationalstaaten“? Wo wurden die „modernen Wissenschaften“ institutionalisiert? Diese Kategorien wurden im (westlichen) Europa des 18. und 19. Jahrhunderts festgelegt, und die übrige Welt hat sich bis heute daran zu messen. „Failed“ oder „fragile“ states finden sich überall auf der Welt, nur nicht in Europa oder Nordamerika, wo definiert wurde, wie ein wohlgeordneter Staat auszusehen hat.

    Banal wird der Begriff „Eurozentrismus“ im Bereich der Blickwinkel. Seit Ludwik Fleck ist klar, dass jede Äußerung standortgebunden ist. Der Standort und Bezugspunkt eines Europäers wäre also – Europa. Kontinentübergreifende Projekte und Experimente mit der Perspektivumkehr – besonders gelungen etwa bei Rodney und de Kom – können offenlegen, wie voraussetzungsvoll der eigene Standort ist.

    Dr. Fabian Fechner, Historisches Institut (Lehrgebiet Geschichte Europas in der Welt)

    Literatur:
    Rodney, Walter: Wie Europa Afrika unterentwickelte, Berlin 2023. [Erstaufl. engl., 1972]
    de Kom, Anton: Wir Sklaven von Suriname, Berlin 2021. [Erstaufl. niederld., 1934]
    Fleck, Ludwik: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, Frankfurt am Main 1980. [Erstaufl. 1935]
    Conrad, Sebastian u.a. (Hg.): Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, 2. Aufl., Frankfurt am Main/New York 2013.

  • Mit dem Begriff „Exotisierung“ bezeichnet man eine Perspektive, bei der das räumlich wie zeitliche „Fremde“ im Vergleich zu dem „Eigenen“ als besonders faszinierend markiert, bestimmt und beschrieben wird. Ihren Ursprung hat diese Perspektive in der Europäischen Expansion, d. h. in der kolonial konnotierten kulturellen Begegnung. Dabei wurden die scheinbar unverdorbene Natürlichkeit und die Emotionalität des/der außereuropäischen „Fremden“ als begehrenswerte Qualitäten wahrgenommen, die der Europäer durch seine Zivilisiertheit verloren glaubte. Die daraus abgeleitete Figur des „edlen Wilden“ stand in Opposition zur Figur des als abstoßend empfundenen „Barbaren“, der die fremdländische Welt ebenfalls bevölkerte. Beiden Perspektiven ist gemein, dass sie die jeweils betroffenen Menschen als grundlegend „anders“ definieren. Folglich sind beides sozial wirksame Zuschreibungen mit ausgrenzendem bzw. diskriminierendem Charakter. Insofern ist die Exotisierung eine Spielart des europäischen Rassismus, der durch seine Popularität in Kunst, Literatur, Wissenschaft, Tourismus und Werbung noch immer weit verbreitet ist. Die Exotisierung erscheint harmlos, gleichwohl aber lädt die damit verbundene Faszination am „Fremden“ mitunter dazu ein, die derart gekennzeichneten Menschen als eine Art Genussmittel wider den zivilisatorischen Überdruss zu betrachten und zu benutzen.

    Barbara Schneider, Historisches Institut (Lehrgebiet Geschichte Europas in der Welt)

    Literatur:
    Hakenesch, Silke (2016): Der Sarotti-M*** (1918/ 1922). Oder: Was hat Konsum mit Rassismus zu tun?, in: Stieglitz, Olaf/Martschukat, Jürgen (Hg.): race & sex. Eine Geschichte der Neuzeit, Berlin, S. 217-225.
    IDA Informations- und Dokumentationszentrum für Antirassismus e. V.: Glossar. URL: https://www.idaev.de/recherchetools/glossar/ [26.02.2024].
    Martin, Peter (2001): Schwarze Teufel, edle Mohren. Afrikaner in Geschichte und Bewußtsein der Deutschen, Hamburg.

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  • Der Begriff Genozid (Völkermord) leitet sich vom altgriechischen Wort genos (Volk) und dem lateinischen Verb caedere (töten, fällen) ab. Der polnisch-jüdische Jurist Raphael Lemkin erdachte den Begriff als Namen für ein Konzept der „Zerstörung von Nationen“. Erstmals stellte er Begriff und Konzept 1944 in seinem Werk Axis Rule in Occupied Europe: Laws of Occupation – Analysis of Government – Proposals for Redress vor, in dem er die deutsche Besatzungspolitik mit Fokus auf das besetzte Polen und den Holocaust beschrieb. Mit dem Genozidkonzept wollte Lemkin ein neues Instrumentarium im internationalen Strafrecht einführen, das auf Fälle anwendbar sei, die bisher aufgrund unzureichender Straftatbestände nicht geahndet werden konnten.

    Genozid in Axis Rule

    Lemkin bezeichnete Genozid als „koordinierten Plan verschiedener Aktionen” mit der Absicht, eine nationale Gruppe in Gesamtheit „zu vernichten“, indem deren „wesentliche Lebensgrundlagen“ zerstört werden. Nach Axis Rule hat ein Genozid zwei Phasen: eine unterdrückende Gruppe zerstört erstens das „nationale Muster“ (national pattern) einer unterdrückten Gruppe und zwingt ihr zweitens das eigene auf. Diese zweite Phase kann sich sowohl auf die Bevölkerung beziehen oder aber – im Falle der vollständigen Vernichtung derselben – allein auf deren Territorium. Darüber hinaus definierte Lemkin verschiedene „Techniken eines Genozids“: politisch, sozial, kulturell, ökonomisch, biologisch, physisch, religiös und moralisch.

    Die Genozidkonvention der Vereinten Nationen

    Lemkin war maßgeblich daran beteiligt, dass die Vollversammlung der Vereinten Nationen im Dezember 1948 die „Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Genozids“ verabschiedete. Genozid wurde damit als Verbrechen völkerrechtlich bindend definiert und ist seit dem Inkrafttreten 1951 eines von insgesamt vier Straftatbeständen des Völkerstrafrechts.

    Die der Konvention zugrunde liegende Definition verengt das ursprünglich von Lemkin erdachte Konzept auf nationale, ethnische, rassische (racial) oder religiöse als von Genoziden potenziell betroffene Gruppen. Politische Gruppen sind damit explizit ausgeschlossen. Die Intentionalität der Vernichtung wird aus Lemkins Konzept in der Genoziddefinition der UN-Konvention übernommen. Die UN-Konvention ist das Ergebnis internationaler Aushandlungsprozesse, deren beteiligte Staatsvertreter:innen das Interesse hatten, das von eigenen Staaten in der Vergangenheit verübte oder noch andauernde Massenverbrechen nicht als Genozid unter internationale Gerichtsbarkeit fallen können (UdSSR: stalinistische Säuberungen, USA: Ausrottung der Native Americans, Rassismus, Sklaverei, UK, Niederlande, Frankreich: Kolonialpolitik). Die Genozidkonvention blieb in den nächsten Jahrzehnten juristisch bedeutungslos. Sie wurde erstmals im September 1998 im Akayesu-Urteil im Zusammenhang mit dem Genozid in Ruanda praktisch angewedent.

    Genozid als Konzept in den Geschichts- und Sozialwissenschaften

    In den Geschichts- und Sozialwissenschaften entwickelte sich ab den 1980er Jahren im anglo-amerikanischen Raum das Forschungsfeld der genocide studies (Genozidforschung), das bis heute vor allem durch Interdisziplinarität und Internationalität gekennzeichnet ist. Das Forschungsfeld vereint insbesondere geschichts-, sozial-, politik- und rechtswissenschaftliche Fragestellungen nach Herkunft, Vergleich und Prävention von Genoziden. Die in der Konvention niedergeschriebene Definition bildet inzwischen auch den Ausgangspunkt für sozial- und geschichtswissenschaftliche Debatten. Mit dem Transfer des Konzepts von den Rechts- in die Sozial- und Geschichtswissenschaften wurden auch dessen Ungenauigkeiten und Interpretationsspielräume übernommen, die zu anhaltenden Diskussionen im Forschungsfeld führen. Im Zentrum der Debatten stehen zwei Hauptkritikpunkte: zum einen die von der Konvention stark eingeschränkten Gruppen, die Angriffsziel eines Genozids werden können. Zum zweiten die Nachweisbarkeit der Intention und der Zerstörungsabsicht, die ausschlaggebend für die juristische Anerkennung eines Genozids sind. Verschiedene Wissenschaftler:innen haben den Begriff Genozid deshalb neu- oder umdefiniert, inzwischen existieren über 20 verschiedene Definitionen des Begriffs. Der estnische Historiker Anton Weiss-Wendt kommentiert die Situation wie folgt: „Genocide has been a legal, political, moral and empirical concept, that means different things to different people”.

    Der US-amerikanische Historiker Anson Rabinbach unterscheidet bei den Neudefinitionen zwischen einem inklusivistischen und einem exklusivistischen Ansatz. Entscheidend dafür ist das Absichtskriterium: Sind die Inklusivist:innen der Ansicht, dieses sei nicht zentral und auch Massenbombardements, die Folgen von Besatzungsherrschaft, Hungersnöten, Vertreibungen, Seuchen oder auch Fahrlässigkeit, wie sie bspw. zur Atomkatastrophe in Tschernobyl führte, sollen als Genozid gewertet werden, verlangen Exklusivist:innen einen historischen Nachweis der Absicht zur kompletten Vernichtung – wie sie im Falle des Holocaust existiert. Der exklusivistische Ansatz resultiert aus der Überzeugung der Singularität des Holocaust, der inklusivistische Ansatz lehnt diese ab, weil sie die Sinnhaftigkeit des Genozidbegriffs an sich in Frage stelle.

    Genozid als symbolisches Chiffre

    Neben der fachwissenschaftliche Debatten hat der Begriff Genozid starke Popularität erlangt und ist zum moralisch aufgeladenen „politischen Kampfbegriff“ (Jürgen Zimmerer) geworden. Die Popularität des Begriffs liegt seinem Verständnis nach vor allem an seiner „globalen Verständlichkeit“ und „moralischen Anschlussfähigkeit“. Wer ihn benutze, wolle damit auch eine implizite Verbindung zur Shoah und deren „moralischer Verwerflichkeit“ herstellen. Als „crime above all crimes“ ist Genozid zum Symbol für das höchste Maß an zu erleidender oder auszuübender illegitimer Massengewalt geworden. Einige Wissenschaftler:innen lehnen ihn deshalb als analytischen Begriff ab.

    Gundula Pohl, Historisches Institut (Lehrgebiet Public History)

    Zum Weiterlesen:
    Rabinbach, Anson, Lemkins Schöpfung. Wie Völkermord zum juristischen und politischen Begriff wurde, in: Internationale Politik, 60 (2), S. 21-31.

    Schaller, Dominik J., Genozidforschung: Begriffe und Debatten, in: Ders., Boyadjian, Rupen; Berg, Vivianne; Scholtz, Hanno (Hrsg.), Enteignet, vertrieben, ermordet. Beiträge zur Genozidforschung, Zürich 2004, S. 9–26.

    Robel, Yvonne, Verhandlungssache Genozid. Zur Dynamik geschichtspolitischer Deutungskämpfe, Paderborn 2013.

    Weiss-Wendt, Anton, Somebody Else’s Crime: The Drafting of the Genocide Convention as a Cold War Battle, 1946–48, in: Andrea Graziosi, Frank E. Sysyn (Hrsg.), Genocide. The power and problems of a concept, Montreal, Kingston, London, Chicago 2022, S. 22–43.

    Zimmerer, Jürgen, Kolonialer Genozid? Möglichkeiten und Grenzen einer historischen Kategorie für eine Globalgeschichte der Massengewalt, in: Schaller, Dominik J. Boyadjian, Rupen; Berg, Vivianne; Scholtz, Hanno (Hrsg.), Enteignet-Vertrieben-Ermordet. Beiträge zur Genozidforschung, Zürich 2004, S. 109-128.

  • Der Begriff der globalen Gerechtigkeit bezieht sich auf die Frage, wie sich Menschen, Communities und Institutionen in verschiedenen Teilen der Welt einander gegenüber verhalten sollten. Globale Ungerechtigkeit zeigt sich in vielen Bereichen. Hinsichtlich der Wirtschaft ist hier etwa die hohe Anzahl von Menschen im Globalen Süden zu nennen, die auch heute noch weit unter der Armutsgrenze leben und von einer Vielzahl von mit dieser Armut einhergehenden Problemen konfrontiert sind (beispielsweise Mangel an Nahrung, Gesundheit, Bildung). Globale Ungerechtigkeit ist auch hinsichtlich des Klimawandels offensichtlich, dessen Auswirkungen deutlich stärker den Globalen Süden treffen, während der Globale Norden den weitaus größeren Anteil an Emissionen ausstößt, die zur Klimakrise beitragen. Eng verwoben mit der Debatte um globale Gerechtigkeit sind auch die Begriffe des Rassismus und des (Neo-)Kolonialismus, da die globalen wirtschaftlichen Strukturen auf der Ausbeutung des Globalen Südens beruhen.

    Nadja Peter, Fakultät für Psychologie (Lehrstuhl für Community Psychology)

    Quelle:
    Brock, G. & Hassoun, N. (2023, June 9). Global Justice. https://plato.stanford.edu/entries/justice-global/#GlobEconInju

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  • Zu Deutsch „Hassrede“ ist die Bezeichnung für Beleidigungen, Herabsetzungen, Verunglimpfungen, Bedrohungen und Ausgrenzungen von bestimmten Personen oder Personengruppen, oft in sozialen Netzwerken. Diese Äußerungen können direkt oder indirekt in Worten, Symbolen oder Bildern veröffentlicht werden und beinhalten oft rassistische, antisemitistische, sexistische oder rechtsextremistische Aussagen. Ziel von hate speech ist es oft, bestimmte Personen oder Personengruppen einzuschüchtern, damit diese ihre eigenen Meinungen und Positionen nicht weiter äußern. Es handelt sich bei hate speech nicht um einen juristischen Begriff oder einen speziellen Straftatbestand. Dennoch können entsprechende Äußerungen strafbare Beleidigungen oder Bedrohungen darstellen. Nach nationalem und europäischem Recht sind Anbieter:innen sozialer Netzwerke aber dazu verpflichtet, Mechanismen zur Moderation von rechtswidrigen Inhalten einzurichten.

    Jun.-Prof. Dr. Hannah Ruschemeier, Rechtswissenschaft (Lehrgebiet Öffentliches Recht mit Schwerpunkt Recht der Digitalisierung/Datenschutzrecht)

    Film des Forschungsschwerpunkt digitale_kultur zum Thema Hate Speech (Episode 1): https://theorie-apparate.de/

  • Der Ausdruck der homosozialen Reproduktion beschreibt die Präferenz für bestimmte Personen in Bezug auf Geschlecht, Herkunft, Sexualität, Alter und Ausbildung. In Machtpositionen gilt nach wie vor „think leader, think white heterosexual male“: Führung ist weiß, männlich, heterosexuell, nicht behindert. Dies zeigt sich im „Thomas-Kreislauf“. Die Vorstände der börsennotierten Unternehmen in Deutschland sind von Thomas geprägt: Es gab dort 2017 mehr Männer, die Thomas heißen (49), als es insgesamt Frauen gab (46) oder People of Colour. Im Jahr 2020 gab es bei den Börsenneulingen mehr Vorstandsvorsitzende, die Christian heißen, als weibliche Vorstandsvorsitzende. Es reproduzieren sich gleichgerichtete Führungsteams, die eine begrenzte Perspektive haben und andere Menschen ausschließen.

    Prof. Dr. Brigitte Biehl, Wirtschaftswissenschaft (Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre, insbes. Personalführung und Organisation)

    Quelle: Biehl, Brigitte (2023): Gender und Leadership. Führung jenseits der Geschlechterklischees. Wiesbaden: Springer, S. 67.

    Weitere Informationen:
    Video zum Thema: „Gender und Leadership: Sprache“
    AllBright (2017): Ein ewiger Thomas-Kreislauf? Wie deutsche Börsenunternehmen ihre Vorstände rekrutieren.

  • Hybridität ist eine Grundtatsache jeder menschlichen Gesellschaftsformation. Die Menschheitsgeschichte zeichnet sich durch eine variable, jedoch letztendlich ungebrochene Kette von Kulturbegegnungen aus, die konfrontativ oder integrativ, kompetitiv oder amalgamierend ausfallen konnten und immer noch können. Nur in den allerwenigsten Ausnahmefällen ist historisch eine uneingeschränkte Eliminierung oder Assimilierung einer Seite der Kulturbegegnung zu beobachten. In der Regel kam und kommt es zu einem Prozess der Hybridisierung, indem entweder Kulturelemente von einer Seite in modifizierter Form von der anderen Seite aufgenommen werden oder eine grundsätzlich neue Formation aus den Elementen diversen Ursprungs entsteht. Eine eindeutig zu identifizierende kulturelle Identität kann also niemals mehr als eine Momentaufnahme darstellen. In der Konsequenz bedeutet dies zweierlei. Zum einen muss jede gesellschaftliche Gruppe – ob als Nation, Gesellschaft, Zivilisation oder Ethnie verstanden – ihre Werte und Charaktermerkmale in einem beständigen Diskurs neu bestimmen, um sich der eigenen Identität zu versichern. Zum anderen müssen sich alle Beteiligten immer bewusst sein, dass es sich um einen Prozess aus kontinuierlich wandelnden Eigenschaften handelt und nicht um die Genese einer unwiderruflichen kulturellen Einheitlichkeit.

    Prof. Dr. Jürgen G. Nagel, Historisches Institut (Lehrgebiet Geschichte Europas in der Welt)

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  • Grundsätzliche Definition
    Westliche Gesellschaften sind durch Differenzkategorien wie Geschlecht, sexuelle Identität, Race, Klasse oder Ableismus (also körperliche oder psychische Fähigkeiten) strukturiert. Entlang dieser Kategorien werden kulturelle Grenzen gezogen und Unterschiede gemacht. Dabei handelt es sich nicht nur um die Herstellung von Unterscheidungen im horizontalen Sinne, sondern insbesondere um Unterscheidungen im vertikalen Sinne. Das bedeutet, dass mit diesen Kategorien bestimmte Auf- und Abwertungen und Ungleichheit reproduziert werden. So ist kulturhistorisch beispielsweise Männlichkeit gegenüber Weiblichkeit privilegiert, Weißsein gegenüber Schwarzsein privilegiert und so weiter. Der Begriff Intersektionalität wurde von der Juristin Kimberlé Crenshaw aufgeworfen und geprägt, um zu erklären, dass Differenzkategorien nicht unabhängig voneinander wirken, sondern miteinander verschränkt sind. Hierbei addieren sich Privilegien oder Diskriminierungen nicht einfach auf, sondern bilden jeweils spezifische Positionierungen. So macht eine Schwarze junge Frau im Rollstuhl andere Erfahrungen als eine weiße Frau aus der Mittelschicht. In Anlehnung an dieses Konzept entwickelten Nina Degele & Gabriele Winkler eine Mehrebenenanalyse als sozialwissenschaftliche Methode, um den Einfluss der miteinander verschränkten Differenzkategorien auf das Leben der Menschen zu untersuchen.

    Kontext
    Historisch betrachtet kommt der Begriff aus dem sogenannten Schwarzen Feminismus in den USA, der schon in den 1970er Jahren kritisierte, dass weiße Feminist*innen die Belange ihrer Schwarzen Mistreiter*innen nicht genügend berücksichtigen. Diese Kritik zielte darauf ab, die feministische Perspektive zu erweitern, um politische Forderungen stellen zu können, von denen nicht nur weiße Frauen aus der Mittelschicht profitieren. So rückten weitere Analysekategorien wie sexuelle Orientierung, Klasse, Race aber auch Dis-Ability ins Blickfeld, um die Verwobenheit der Ungleichheitskategorien miteinzubeziehen.

    Bedeutung im Feld ‘Digitale Kultur’
    Differenzkategorien wirken nicht nur im Analogen, sondern auch im Digitalen weiter und strukturieren die digitale Kultur. Sowohl mit Blick auf die Art und Weise der Nutzung digitaler Technologien sowie auch auf der Ebene des Symbolischen lassen sich zahlreiche Beispiele dafür finden, dass verschiedene Differenzkategorien miteinander verschränkt sind. Das zeigt sich besonders deutlich bei der Beschäftigung mit Diffamierungen und Bedrohungen, die sich häufig sowohl auf Geschlecht, aber auch Religion und Race beziehen. Aber es betrifft auch die materiellen Grundlagen des Internets: So werden beispielsweise globale Ungleichheiten durch Digitalen Kolonialismus reproduziert. Dies zum Beispiel bei der Content Moderation in Ländern des globalen Südens – hier wirken Klasse, Race und Gender zusammen, wenn die Arbeit junger Menschen aus den Philippinen darin besteht, Inhalte zu filtern – hierbei sind junge Frauen noch einmal anders betroffen als junge Männer.

    Andererseits bietet die digitale Kultur auch Vernetzungsräume und Sichtbarkeit für mehrfach marginalisierte Positionierungen in der Gesellschaft. Eine intersektionale Perspektive erweitert somit den Analyserahmen, um digitale Kulturen zu untersuchen und kann als unverzichtbar gelten.

    Abgrenzung zu anderen Begriffen
    Das Besondere an einem intersektionalen Ansatz ist die Idee, dass die unterschiedlichen Differenzkategorien miteinander verschränkt sind und sich daraus spezifische Positionierungen ergeben. Diese Perspektive ist abzugrenzen von Ansätzen, die entweder nur eine Differenzkategorie in den Fokus nehmen oder davon ausgehen, dass die Differenzkategorien nebeneinanderstehen oder sich einfach addieren.

    Julia Fischer & Jun.-Prof. Dr. Jennifer Eickelmann, Interdisziplinärer Arbeitsbereich der Fakultät für Kultur- und Sozialwissenschaften (Lehrgebiet Digitale Transformation in Kultur und Gesellschaft)

    Audioglossar Intersektionalität

    Zum Weiterlesen
    Der Text von Kimberlé Crenshaw aus dem Jahr 1989 mit dem Titel Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine, Feminist Theory and Antiracist Politics,", erschienen im University of Chicago Legal Forum, Heft 1, Artikel 8, online auf der Website der University of Chicago frei verfügbar.

    Und ergänzend das Buch von Gabriele Winker und Nina Degele aus dem Jahr 2009 mit dem Titel „Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheiten.“, erschienen im transcript Verlag, Bielefeld.

  • Institutioneller Rassismus ist eine Form von Rassismus, die von gesellschaftlichen Institutionen, ihren Gesetzen, Normen und Praktiken ausgeht, und nicht von individuellen Einstellungen oder Handlungen. Institutioneller Rassismus führt zu Ausgrenzung, Benachteiligung oder Herabsetzung von Menschen aufgrund ihrer (vermuteten) ethnischen, religiösen oder kulturellen Zugehörigkeit.

    Muamer Andelija

    Quellen:
    Thompson, Vanessa Eileen: Racial Profiling, institutioneller Rassismus und Interventionsmöglichkeiten. https://www.bpb.de/themen/migration-integration/kurzdossiers/migration-und-sicherheit/308350/racial-profiling-institutioneller-rassismus-und-interventionsmoeglichkeiten/
    Gomolla, Mechtild/Radtke, Frank-Olaf: Institutionelle Diskriminierung. Die Herstellung ethnischer Differenz in der Schule. Leske + Budrich, Opladen 2002, S. 270ff.
    Otto, Franziska: Institutioneller Rassismus: Definition, Wirkung. https://www.liberties.eu/de/stories/institutioneller-rassismus/44513

  • Bei der Islamkritik muss zwischen den Formen legitimer Religionskritik und der vorurteilsbasierten Islamkritik unterschieden werden. Eine Islamkritik im ursprünglichen Sinne nimmt eine differenzierte Sicht ein, die eine Pauschalisierung oder Polarisierung vermeidet. Es sind Einwände zum Islam, die aus einer aufklärerisch-rationalen Religions- oder Sozialkritik heraus erhoben werden und welche die Glaubensinhalte aus ethischen oder historischen Gründen anzweifeln. Dabei werden die kulturellen Normen und sozialen Traditionen des Islam kritisch betrachtet. Dieser Diskurs über den Islam wird auf unterschiedlichen Ebenen geführt, beispielsweise im Kontext theologischer und empirisch-wissenschaftlicher Diskurse.

    Allzu schnell findet jedoch eine Einordnung mit dem Fokus auf Terror, Fundamentalismus, Gewalt und Bedrohung statt, die den rationalen Diskurs schwächen. Es ist eine Mischung aus Vorurteilen und Verbreitung von Stereotypen entstanden, die die Religion des Islam von vornherein negativ kritisch betrachten. Dies wird durch eine problemfokussierte öffentliche Medialisierung vertieft, so dass sich oftmals eine negative Meinung zum Islam in der Bevölkerung zeigt. Die sozialpolitischen Auseinandersetzungen um Zuwanderung und Integration von Muslimen in Deutschland fördert die Kritik am Islam. Derartige Auffassungen entstanden vielfach durch Eindrücke des Alltagslebens. Ganz besonders sind es aber die kritischen öffentlichen Debatten um kulturelle Differenz, die sich in Deutschland auf den Islam konzentrieren.

    Ute Kemmerling, Historisches Institut (Lehrgebiet Geschichte Europas in der Welt)

  • Islamophobie meint ein auf den Islam oder die Muslime bezogenes ausgeprägtes Gefühl der Angst. Eine Angst, die seit dem 7. Jahrhundert in Europa besteht. Im 7. und 8. Jahrhundert drangen kämpfende Heere im Namen des Kalifats in das Zentrum der christlichen Welt vor. Sie besetzten beispielsweise das Heilige Land, Nordafrika, Spanien und Sizilien. Die meisten Christen standen dem Islam während der ersten tausend Jahre der Konfrontation unwissend gegenüber. Sie schauten mit einer Mischung aus Furcht, Verwirrung und Angst auf den Islam, weil er kulturell wenig Ähnlichkeiten zum Christentum aufwies. In den folgenden Jahrhunderten bis in unsere heutige Zeit manifestierte sich in Europa eine Islamophobie, welche vielfach durch die Medien verstärkt wurde.

    Für eine breite Rezeption des Begriffs „Islamophobia“ sorgte die britische Anti-Rassismus-Stiftung RunnymedeTrust. 1997 veröffentlichte die Stiftung eine einflussreiche Definition des Begriffs, welche den Islam im Kontext der Phobie als monolithisch und statisch, gesondert und fremd, aggressiv und minderwertig einordnet. Es ist ein Schema, dass die Phobie als eine unbegründete Angst definiert. Islamophobie steht für die generelle ablehnende Haltung gegenüber muslimischen Personen sowie den religiösen Praktiken des Islam.

    Ute Kemmerling, Historisches Institut (Lehrgebiet Geschichte Europas in der Welt)

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  • Grundsätzliche Definition
    Digitaler Kolonialismus beschreibt die koloniale Geschichte und Gegenwart der heutigen Wertschöpfungskette für digitale Medientechnologien. Wir stellen uns das Internet häufig als eine Technologie vor, die in den Wolken schwebt und unabhängig von materiellen Begebenheiten zu existieren scheint. Schließlich liegen unsere Daten in der sogenannten ‚Cloud‘. Der Begriff des digitalen Kolonialismus verweist darauf, dass es sich hierbei um eine folgenschwere Fehlannahme handelt. Digitale Medien benötigen materielle Ressourcen, um gebaut zu werden und um zu funktionieren. Keine Software ohne Hardware. Kein Twitter ohne Tablet, Handy oder Computer. Kein TikTok und keine Moodle-Plattform ohne Datenspeicher oder Glasfasernetzwerke, die Daten übertragen. Die digitale materielle Infrastruktur benötigt Ressourcen und seltene Materialien, die wiederum Arbeitskraft, d.h. arbeitende Körper, brauchen, um abgebaut und bearbeitet zu werden. Dieser Abbau wird entlang kolonialer Kontiunitäten aus dem Westen in ehemals kolonialisierte Gebiete verlagert. Kohleminen, die im Westen geschlossen werden, werden auf dem afrikanischen Kontinent ausgebaut oder eröffnet. Dies gilt ebenso für die Entsorgung von digitalem Elektroschrott. Auch die Verlegung der Glasfaserkabel folgt der Routen ehemaliger Sklavenschiffe zwischen dem europäischen, afrikanischen und amerikanischen Kontinent. So zeichnen die Glasfaserkabel das ehemalige Dreieck des transatlantischen Sklav*innenhandels nach. Die koloniale Vergangenheit wird also in die digitale Infrastruktur eingeschrieben.

    Kontext
    Köppert entwickelt den Begriff in Abgrenzung zu einem Verständnis, dass das Internet als nicht-materiell oder gar als neutrale Technologie versteht. Stattdessen knüpft das Verständnis vom digitalen Kolonialismus an den historischen Kolonialismus an, denn auch hier wird Land und Landschaft ebenso erneut okkupiert und angeeignet wie die ‚anderen‘ Körper, z.B. bei der Ausbeutung von Arbeitskraft im Bereich der Content Moderation. Wenn also darüber gesprochen wird, dass neue Minen oder mehr Abbau seltener Materialien nötig sind um zum Beispiel in Deutschland den Breitband-Ausbau voranzutreiben, dann sollten wir uns die Frage stellen, wo diese Minen liegen und wer für den Abbau verantwortlich ist oder sein wird.

    Bedeutung im Feld ‘Digitale Kultur’
    Die Bedeutung des Begriffs für die Digitale Kultur liegt gerade in der Hervorhebung der materiellen Infrastruktur digitaler Technologien. Oftmals wird das Internet als „Raum der sozialen Mobilität vermarktet“ (köppert, 2021a), was verkennt, dass gerade die materielle Beschaffenheit dieses Raums auf kolonialen Kontinuitäten basiert. Dort, wo die Glaserfaserkabel den Routen ehemaliger Sklavenschiffen folgend an Land kommen, wohnen auch heute teilweise Menschen, die am wenigsten Mobilitätsfreiheit genießen. Die Grenzen des als grenzenlos geltenden Internets werden durch die materielle Infrastruktur sichtbar. Wenn wir also über digitale Kultur und ihre Infrastruktur sprechen, ist es essenziell über die materielle Beschaffenheit nachzudenken und die kolonialen Kontinuitäten und noch immer aktuelle koloniale Machtverhältnisse miteinzubeziehen.

    Abgrenzung zu anderen Begriffen
    Der Begriff des digitalen Kolonialismus geht zunächst über die Bedeutung zweier eng verwandter Begriffe hinaus. Zum einen ist dies der Daten-Kolonialismus, indem Daten zum Rohstoff erklärt, geplündert und extrahiert werden. So ist es als Eigentümer*in nicht möglich nach dem Hochladen eines Bildes die Kontrolle über die weitere Verwendung zu behalten. Der zweite Begriff ist der algorithmische Kolonialismus mit dem beschrieben wird, wie Algorithmen Menschen anhand kolonialer Stereotype klassifizieren und hierarchisieren.

    Daneben wird der Begriff in anderen Kontexten anders verwendet. So beschreibt die Menschenrechtsaktivistin Renata Avila mit dem Begriff die imperiale Praxis globaler Unternehmen wie Google oder Facebook, weltweit Daten abzuschöpfen, mit diesen zu handeln und die Inhalte zu kontrollieren, die die Menschen sehen. So wie sich Staaten früher andere Regionen angeeignet hätten, tun dies heutzutage globale Tech-Konzerne durch ihre Dominanz bei der Bereitstellung von digitalen Diensten. Mit dieser Perspektive liegt der Fokus dann insbesondere auf den ökonomischen Infrastrukturen.

    Der breitere Begriff des digitalen Kolonialismus geht über diese Begriffe insofern hinaus, als dass die koloniale Geschichte globaler Ungleichheiten und Infrastrukturen mit Blick auf das vielfältige Spektrum materiell bedingter Ungleichheits- und Gewaltverhältnisse berücksichtigt wird.

    Julia Fischer & Jun.-Prof. Dr. Jennifer Eickelmann, Interdisziplinärer Arbeitsbereich der Fakultät für Kultur- und Sozialwissenschaften (Lehrgebiet Digitale Transformation in Kultur und Gesellschaft)

    Audioglossar Digitaler Kolonialismus

    Zum Weiterlesen
    Insbesondere der Text „DIGITALER KOLONIALISMUS. IN DER VISUELLEN KULTUR“ von katrin köppert, erschienen 2021 auf der Website des Fotomuseums Winterthur mit dem Titel „from print to pixel, fotomuseum winterthur. Online verfügbar .

    Zudem noch, ebenfalls von katrin köppert und ebenfalls 2021 erschienen der Titel „Rifted Algorithms. Digitale Medienkunst postafrikanischer Zukünfte. Tabita Rezaire: „Deep Down Tidal“ (2017), erschienen in Navigationen - Zeitschrift für Medien- und Kulturwissenschaften. Jahrgang 21, Heftnummer 2, S. 145–158. Online verfügbar.

    Auch empfehlenswert, wieder von Katrin Köppert, aus dem Jahr 2019 der Titel „Internet is not in the Could.“, zu finden auf den Websites der Heinrich-Böll-Stifung, zum Themenschwerpunkt „Digitaler Kolonialismus“. Online verfügbar.

    Weiterführend auch noch interessant: Renata Avilas Text „Widerstand gegen den digitalen Kolonialismus“ aus dem Jahr 2018, erschienen im Internet Health Report, ebenfalls online verfügbar.

  • „Koloniale Kontinuitäten“ sind ein Thema, bei dem sofort und unvermittelt auffällt, dass koloniale Strukturen sowohl in den ehemals kolonisierten als auch in den kolonisierenden Gesellschaften noch immer eine Rolle spielen. Ein gutes Beispiel hierfür sind die existierenden Wirtschaftsbeziehungen zwischen dem Globalen Süden und dem Globalen Norden. Sie haben ihren Ursprung in einer kolonial konnotierten Ökonomie, die ausschließlich auf die Versorgung der europäischen/ westlichen Märkte mit diversen Rohstoffen und „Kolonialwaren“ ausgerichtet war. Dabei achteten die Kolonialherren stets darauf, die Handelstätigkeiten lokaler Vermittler zu begrenzen bzw. vom Handel mit den jeweiligen europäischen Zentren auszuschließen. Die sich rasch entwickelnde Plantagenwirtschaft verdrängte und diskriminierte die traditionellen Produktionsweisen in Landwirtschaft und Handwerk und die entstehenden Verkehrswege führten von den Rohstofflagern im Binnenland zu den Küstenstädten, wo die jeweiligen Güter zur industriellen Weiterverarbeitung nach Europa bzw. Amerika verschifft wurden. Auch wenn dieses kolonial begründete asymmetrische Wirtschaftssystem nach dem Zweiten Weltkrieg den „Besitzer“ wechselte, blieb die kolonial begründete Struktur bestehen, sodass die ehedem kolonisierten und jetzt unabhängigen Territorien noch immer systematisch und zum Nachteil der Akteur:innen des Globalen Südens ausgebeutet werden (können). Ein Blick auf die globale Verteilung des Wohlstands und des politischen wie wirtschaftlichen Einflusses bestätigt diese diagnostizierte Nachhaltigkeit kolonial begründeter Verflechtungen.

    Barbara Schneider, Historisches Institut (Geschichte Europas in der Welt)

    Literatur:
    Kleinschmidt, Harald (2003): Europa und der Kolonialismus. URL: https://www.desk.c.u-tokyo.ac.jp/download/es_4_Kleinschmidt.pdf [29.02.2024].
    Reinhard, Wolfgang 4(2018): Die Unterwerfung der Welt, München, S. 999-1018.

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  • Grundsätzliche Definition
    Mit Michel Foucault geht es weniger darum zu klären, was Macht ist, sondern danach zu fragen, wie sie ausgeübt wird. Genauer geht es um die Vielfalt von Machtbeziehungen als »handelnde Einwirkung auf andere« (Foucault 2005, 255). Macht ist somit relational und wird innerhalb von Beziehungen ausgeübt. Daher gibt es nicht die eine Macht, sondern vielfältige Machtverhältnisse. Diese Machtverhältnisse durchziehen Gesellschaften wie ein Netz und werden daher nicht nur von den Regierungsinstitutionen ausgeübt, sondern sind auch zum Beispiel innerhalb von Schulen, Gefängnissen oder Familien zu finden. Machtverhältnisse sind dabei oftmals asymmetrisch, lassen sich jedoch auch umkehren. Daher wohnt in ihnen ein Moment des Widerstands, ein Ringen darum, wer Macht über wen ausübt. Doch wie wird Macht ausgeübt? Grundlegend für die Ausübung von Macht ist die Anerkennung des Anderen als handelndes Subjekt, so dass sich in den Machtverhältnissen stets Wahlmöglichkeiten eröffnen. Machtausübung besteht nicht darin, etwas zwanghaft zu unterbinden, sondern in der Lenkung von Lebensführungen. Davon auszugehen, dass Macht nicht etwa wie Herrschaft biegt und bricht, sondern dass sie produktiv ist und sogar lustvoll sein kann, ist eine der Besonderheiten des Foucault’schen Machtbegriffes.

    Macht und Freiheit schließen sich bei Foucault also nicht aus, sondern bedingen sich gegenseitig. Wenn einem Machtverhältnis der Aspekt der Freiheit entzogen würde, so ließe sich demnach nicht mehr von Macht, sondern von Zwang oder Gewalt sprechen (vgl. Foucault 2005, 259ff.). Macht und Gewalt unterscheiden sich also entlang von Freiheit – das bedeutet aber auch, dass Macht jederzeit in Gewalt umkippen kann, nämlich dann, wenn keine oder kaum noch Möglichkeitsräume für Freiwilligkeit bestehen.

    Kontext
    Foucault entwickelte sein Verständnis von Machtbeziehungen in Abgrenzung zu einer juridischen Machtkonzeption. In dieser steht die Souveränität eines Leviathans oder Herrscher*in, der*die eine Macht besitzt und gewaltvoll ausübt im Zentrum. Eine Untersuchung unterschiedlicher Machtverhältnisse bedeutet für Foucault eine Analyse von Beziehungen und ihren historischen Bedingungen.

    Bedeutung im Feld ‘Digitale Kultur’
    Der Begriff der Machtverhältnisse von Foucault ist insofern für das Feld der ‚Digitalen Kultur‘ produktiv, als dass eben nicht von einem Zentrum der Macht ausgegangen wird, sondern von einer netzhaften Verflechtung von Machtbeziehungen. Auch im Internet ist es schwer, ein einziges Machtzentrum zu lokalisieren. Es gibt zwar große Tech-Unternehmen wie Google oder Amazon, aber eben auch unzählige andere Webseiten und Interaktionsmöglichkeiten. Mit Foucault können wir daher untersuchen, wie einzelne Machtbeziehungen das Internet durchziehen und wie diese wirken. Ein Beispiel wäre ein bestimmter Beauty-Trend auf Instagram, bei dem nicht klar ist, woher er kommt.

    Hinzu kommt, dass unsere freiwillige Partizipation und Datenweitergabe als Effekt von Machttechnologien erfasst werden kann, denn Macht und Freiheit schließen sich bei Foucault ja gerade nicht aus. Dadurch, dass sich Menschen zum Beispiel dem besagten Social Media Trend lustvoll und freiwillig unterwerfen, d.h. z.B. Selfies dazu posten und teilen, werden unterschiedliche und sich überkreuzende Machtverhältnisse sichtbar, die nicht ohne die Komplexität digitaler Technologien, d.h. auch: ihre historischen, ökonomischen und politischen Bedingungen, erfasst werden können.

    Abgrenzung zu anderen Begriffen
    Foucaults Machtbegriff unterscheidet sich insbesondere von der Perspektive Max Webers. Bei Weber heißt es: »Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eignen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht.« (Weber 1972, 50). Mit Weber wird Macht als etwas verstanden, was man haben kann und gewaltvoll ist. Diejenigen, über die Macht ausgeübt wird, sind hier passiv. Mit Foucault hingegen wird Macht als etwas gedacht, dass die Handlungsmöglichkeiten der anderen strukturiert. Dies bedeutet, dass die anderen eine gewisse Wahlfreiheit haben und Macht nicht in einem Zentrum oder bei einer Person lokalisiert ist. Die, über die Macht ausgeübt wird, sind somit nicht gänzlich passiv.

    Julia Fischer & Jun.-Prof. Dr. Jennifer Eickelmann, Interdisziplinärer Arbeitsbereich der Fakultät für Kultur- und Sozialwissenschaften (Lehrgebiet Digitale Transformation in Kultur und Gesellschaft)

    Audioglossar Macht

    Zum Weiterlesen
    Als Primärliteratur insbesondere der Text „Subjekt und Macht“ von Michel Foucault, erschienen im Band „Analytik der Macht“, herausgegeben von Daniel Defert und Francois Ewalt im Suhrkamp Verlag, 2005, hier Seite 240-265. Und auch der Text „Die Maschen der Macht“ von Foucault ist sehr populär und eignet sich zum Weiterlesen.

    Als Sekundärliteratur ist der Text „Subjekte der Macht bei Judith Butler und Michel Foucault. Machtvolle Diskurse, Subjektivierungen und Widerstand als Ausgangspunkt für eine rassismuskritische Perspektive in der Migrationsforschung“ von Nadine Rose aus dem Jahr 2015 zu empfehlen, erschienen im Band „Schlüsselwerke der Migrationsforschung“, herausgegeben von Julia Reuter, Paul Mecheril. Wiesbaden: Springer Fachmedien, S. 323-342.

    Und mit Blick auf Macht im Kontext digitale Kultur: Jennifer Eickelmanns Buch mit dem Titel „‘Hate Speech‘ und Verletzbarkeit im digitalen Zeitalter. Phänomene mediatisierter Missachtung aus Perspektive der Gender Media Studies“, erschienen 2017 im transcript Verlag, Bielefeld.

    Zur Abgrenzung sei noch auf Max Webers Text „Grundriß der Sozialökonomik. III. Abteilung Wirtschaft und Gesellschaft“ aus dem Jahr 1972 hingewiesen.

  • Der Begriff ‚Migrationsandere‘ wurde im Rahmen migrationspädagogischer Perspektiven von Paul Mecheril (2004, 2010, 2016) entwickelt und ist in rassismus- und herrschaftskritischer analytischer Abgrenzung zu den Begriffen ‚Person mit Migrationshintergrund/Migrationsgeschichte/Migrationserfahrung‘ zu verstehen. Der Begriff ‚Migrationsandere‘ verweist auf den Prozess der Veranderung, auf das Phänomen des Otherings, indem deutlich gemacht wird, dass es sich bei der Bezeichnung als ‚migrantisch‘ – auch im positiven Sinne – um eine essentialisierende und individualisierende Zuschreibungspraxis zu einer ‚Anderen‘-Gruppe und damit um eine Abgrenzung von einer angeblich ‚migrationsfreien Wir-Gruppe‘ handelt. Der Begriff ‚Person mit Migrationshintergrund‘ wird in alltäglichen und wissenschaftlichen Diskursen zwar teilweise durch positiver verstandene Begriffe wie ‚Person mit Migrationsgeschichte oder Migrationserfahrung‘ ersetzt. Allerdings wird aus migrationspädagogischer Perspektive kritisiert, dass auch hier immer noch eine Vorstellung von ‚migrationsfreien‘ Personen oder Gruppen mitschwingt und die dichotome Konstruktion von ‚Wir‘- und ‚Nicht-Wir‘-Gruppen sowie damit einhergehende Ausschlüsse, Abwertungen und (Bildungs-)Benachteiligungen individualisiert und weiter reproduziert werden.

    Jo Schreier, Institut für Bildungswissenschaft (Lehrgebiet Bildung und Differenz)


    Literatur
    Dirim, İnci (2023): Migrationspädagogik. In: Huber, M., Döll, M. (Hrsg.) Bildungswissenschaft in Begriffen, Theorien und Diskursen. Springer VS, Wiesbaden.
    Mecheril, Paul (2016) (Hrsg.): Handbuch der Migrationspädagogik. Weinheim & Basel: Beltz.
    Mecheril, Paul; Castro Varela, M.; Dirim, İ; Kalpaka, A. und Melter, C. (2010): Migrationspädagogik. BACHELOR/MASTER. Weinheim & Basel: Beltz.
    Mecheril, Paul (2004): Einführung in die Migrationspädagogik. Weinheim & Basel: Beltz.

  • Die Migrationspädagogik ist ein rassismuskritisches pädagogisches Konzept, das von Paul Mecheril (2004, 2010, 2016) zusammengestellt wurde. Es basiert auf macht- und rassismustheoretischen Perspektiven, u.a. aus den Postcolonial Studies und übt Kritik an migrationsgesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen. Die Migrationspädagogik lässt sich von Paradigmen der sogenannten ‚Ausländerpädagogik‘ und der interkulturellen Pädagogik abgrenzen. Denn aus migrationspädagogischer Perspektive geht es nicht um eine defizitorientierte, assimilationistische Forderung nach Integration in eine Aufnahmegesellschaft und auch nicht um eine Vermittlung zwischen angeblich sich wesentlich unterscheidenden, in sich abgeschlossenen Kulturen. Sondern um einen (selbst-)reflexiven, rassismuskritischen Blick auf strukturelle Ungleichheiten und Praktiken der Veranderung (Othering), Unterscheidung und (Unter-)Ordnung auf Grundlage von natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeitsordnungen. Die Migrationspädagogik blickt (selbst-)kritisch und analytisch auf diese Zugehörigkeitsordnungen und darauf, wie diese im Kontext von Bildung und Pädagogik selbst hergestellt und reproduziert werden. Migrationspädagogische Ansätze können daher in verschiedenen pädagogischen und (Erwachsenen-)Bildungs-Kontexten zur handlungsleitenden (Selbst-)Reflexion anregen. Dabei wird eine differenz- und zuschreibungssensible sowie dekonstruktive, also Binaritäten analysierende und kritisch hinterfragende, sowie hybride Zugehörigkeiten anerkennende Haltung eingenommen. Im Fokus migrationspädagogischer Ansätze stehen die Fragen, wie durch Zuschreibungen und Zugehörigkeitsordnungen Bildungsprozesse ermöglicht oder verunmöglicht werden und wie z.B. mit Blick auf universale Menschenrechte gegenwärtige (pädagogische)Verhältnisse verändert werden können.

    Jo Schreier, Institut für Bildungswissenschaft (Lehrgebiet Bildung und Differenz)


    Literatur
    Dirim, İnci (2023): Migrationspädagogik. In: Huber, M., Döll, M. (Hrsg.): Bildungswissenschaft in Begriffen, Theorien und Diskursen. Springer VS, Wiesbaden.
    Mecheril, Paul (2016) (Hrsg.): Handbuch der Migrationspädagogik. Weinheim & Basel: Beltz.
    Mecheril, Paul; Castro Varela, M.; Dirim, İ; Kalpaka, A. und Melter, C. (2010): Migrationspädagogik. BACHELOR/MASTER. Weinheim & Basel: Beltz.
    Mecheril, Paul (2004): Einführung in die Migrationspädagogik. Weinheim & Basel: Beltz.

  • Der Begriff misogynoir (Kofferwort aus misogyny und noir) bezeichnet den spezifischen Hass, Widerwillen, Argwohn und das Vorurteil gegenüber schwarzen Frauen. Transmisogynoir beschreibt die Unterdrückung schwarzer Transfrauen. Der Begriff strahlt Rassismus, kolonialistische Perspektiven und eine abwertende Sexualisierung der schwarzen Frau aus (siehe auch #SayHerName auf sozialen Medien). Die Gewalt-, Trauma- und Missbrauchserfahrungen schwarzer Frauen werden noch weniger erstgenommen als die von weißen Frauen.

    Wenn selbstbewusste Frauen bei der Arbeit bisweilen schlecht ankommen („Karrierefrau“, „Rabenmutter“, „Queen Bee“), werden gerade schwarze Frauen intersektional weiterreichend diskriminiert. Michelle Obama als einflussreiche Person des öffentlichen Lebens wurde in den Medien oft als „angry black woman“ bezeichnet. Diese rhetorische Figur stellt schwarze Frauen, die Emotionen zeigen, als aggressiv, launisch, unlogisch, anmaßend, feindselig und ignorant dar. Frauen dürfen auch im Job kaum wütend sein, sonst werden sie als emotional, schwierig und unprofessionell stigmatisiert – Wut ist eine als männlich angesehene Emotion. Gerade schwarze Frauen dürfen sich in einer weiß-dominierten Gesellschaft nicht wehren, sollen ihren Schmerz herunterschlucken und den Status quo akzeptieren. Das wird zunehmend kritisiert: alle Menschen dürfen ihre Emotionen wahrnehmen und verarbeiten!

    Prof. Dr. Brigitte Biehl, Wirtschaftswissenschaft (Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre, insbes. Personalführung und Organisation)

    Quelle: Biehl, Brigitte (2023): Gender und Leadership. Führung jenseits der Geschlechterklischees. Wiesbaden: Springer, S. 51.

    Weitere Informationen:
    Bailey, Moya (2021): Misogynoir Transformed, New York.
    Video zum Thema: „Gender und Leadership: Intersektionalität“ (inkl. misogynoir)

  • Mikroaggressionen sind häufig vorkommende, subtile aber beobachtbare Ausdrücke, die feindselige, abfällige oder negative Botschaften über die Mitgliedschaft einer Person zu einer bestimmten sozialen Gruppe senden (Sue et al., 2007). Sie können verbal, nonverbal oder verhaltensbezogen, sowie direkt oder indirekt erfolgen.

    Mikroaggressionen sind deshalb „mikro“, da sie bei zwischenmenschlichen Interaktionen (auf der sog. „Mikroebene“) zwischen Tat- und Zielperson auftreten und nicht etwa, weil „mikro“ als Maß der Schädigung verstanden werden soll (Spanierman & Clark, 2023).

    Dabei können Personen ganz unterschiedlicher Gruppenzugehörigkeiten von Mikroaggressionen betroffen sein. So können sich diese beispielsweise auf das Geschlecht, die sexuelle Identität oder, wie im Falle von rassistischen Mikroaggressionen, auf die Ethnizität der Zielperson beziehen.

    Es ist wichtig zu betonen, dass Mikroaggressionen unabhängig von einer dahinterstehenden Absicht auftreten können (Mekawi & Todd, 2021). So können Mikroaggressionen oftmals auch völlig unbewusst erfolgen.

    In vielen Studien wurden bereits die Auswirkungen von Mikroaggressionen untersucht – insbesondere im Zusammenhang mit dem psychischen Wohlbefinden. So gibt es beispielsweise im Bereich rassistischer Mikroaggressionen Hinweise auf eine Verbindung mit Stress, Angstgefühlen und Depressionen (z. B. Hall & Fields, 2015; Liao et al., 2016; Nadal et al., 2014).

    Stefanie Gellner, Fakultät für Psychologie (Lehrgebiet Community Psychology)

    Literatur:
    Hall, J. M., & Fields, B. (2015). “It’s Killing Us!” Narratives of Black Adults About Microaggression Experiences and Related Health Stress. Global Qualitative Nursing Research, 2, 233339361559156. https://doi.org/10.1177/2333393615591569

    Liao, K. Y.-H., Weng, C.-Y., & West, L. M. (2016). Social connectedness and intolerance of uncertainty as moderators between racial microaggressions and anxiety among Black individuals. Journal of Counseling Psychology, 63(2), 240–246. https://doi.org/10.1037/cou0000123

    Mekawi, Y., & Todd, N. R. (2021). Focusing the Lens to See More Clearly: Overcoming Definitional Challenges and Identifying New Directions in Racial Microaggressions Research. Perspectives on Psychological Science, 16(5), Article 5. https://doi.org/10.1177/1745691621995181

    Nadal, K. L., Griffin, K. E., Wong, Y., Hamit, S., & Rasmus, M. (2014). The Impact of Racial Microaggressions on Mental Health: Counseling Implications for Clients of Color. Journal of Counseling & Development, 92(1), 57–66. https://doi.org/10.1002/j.1556-6676.2014.00130.x

    Spanierman, L. B., & Clark, D. A. (2023). Racial Microaggressions: Empirical Research that Documents Targets’ Experiences. In S. Polat (Hrsg.), Rassismusforschung I (S. 231–250). transcript Verlag. https://doi.org/10.1515/9783839461501-008

    Sue, D. W., Capodilupo, C. M., Torino, G. C., Bucceri, J. M., Holder, A. M. B., Nadal, K. L., & Esquilin, M. (2007). Racial microaggressions in everyday life: Implications for clinical practice. The American Psychologist, 62(4), Article 4. https://doi.org/10.1037/0003-066X.62.4.271

  • Muslim*a ist eine Selbst- wie auch eine Fremdbenennung für Anhänger*innen des islamischen Glaubens. Ob und in welcher Weise diese Benennung durchgeführt wird, hängt stets von der Definition des/der Zuschreibenden ab. Entsprechend werden vor allem diejenigen Personen so bezeichnet, die im Denken des/der Zuschreibenden „echte“ Muslim*a sind. Damit ist die Benennung häufig ideologisch verbrämt – entweder im Sinne eines „wahren“ Glaubens aus religiöser, innerer Sicht oder im Sinne einer „richtigen“ Definition von Islam aus kritischer oder akademischer, äußerer Sicht. Angesichts der Vielfalt von Erscheinungsformen, die innerhalb dessen, was als „der Islam“ betrachtet wird, zu beobachten sind, ist eine eindeutige Bestimmung der Religion Islam und ihrer Zugehörigkeiten jedoch nicht möglich. Eine Deutungshoheit auf diesem Gebiet und damit eine allgemeingültige Zuweisung von Gläubigen kann von keiner Seite beansprucht werden. Daher sind alle Personen Muslim*a, die sich selbst so definieren. Insofern können Gläubige jeder Spielart von Islam als Muslim*a verstanden werden, auch wenn sie von einer Majorität islamischer Glaubensrichtungen gar nicht als islamisch anerkannt oder von einem Mainstream in der Wissenschaft nicht als dem Islam zugehörig identifiziert werden.

    Prof. Dr. Jürgen G. Nagel, Historisches Institut (Lehrgebiet Geschichte Europas in der Welt)

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  • Der Begriff natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeitsordnung ist eine Kategorie rassismuskritischer migrationspädagogischer Analysen und wurde in diesem Rahmen von Paul Mecheril (2004, 2010, 2016) entwickelt. Der Begriff bezieht sich zwar auch auf nationalstaatliche Zugehörigkeit, geht aber darüber hinaus. Denn er greift auf, dass in alltäglichen und wissenschaftlichen Diskursen Kategorien wie ‚Ethnie‘, ‚Kultur‘, ‚Religion‘, ‚Sprache‘ und ‚Staatsangehörigkeit‘ miteinander vermischt, ungenau zugeschrieben, dementsprechend und mit Bezug auf rassistische Vorstellungen konstruiert und reproduziert werden. Geopolitische, rechtliche und symbolische Grenzziehungen werden durch natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeitsordnungen begründet und bringen diese wiederum mit hervor. Migrationsphänomene und natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeitsordnungen bedingen sich demnach gegenseitig, während Zugehörigkeitsordnungen, z.B. konkret materialisiert in nationalstaatlichen Grenzen, durch Migrationsbewegungen infrage gestellt werden. Personen werden innerhalb natio-ethno-kultureller Zugehörigkeitsordnungen Positionen zugewiesen, sie werden darin ein- und untergeordnet, wobei eine Unterscheidung in ‚Wir‘- und ‚Nicht-Wir‘- bzw. ‚Anderen‘-Gruppen stattfindet (s. Migrationsandere und Othering).

    Jo Schreier, Institut für Bildungswissenschaft (Lehrgebiet Bildung und Differenz)


    Literatur
    Dirim, İnci (2023): Migrationspädagogik. In: Huber, M., Döll, M. (Hrsg.) Bildungswissenschaft in Begriffen, Theorien und Diskursen. Springer VS, Wiesbaden.
    Mecheril, Paul (2016) (Hrsg.): Handbuch der Migrationspädagogik. Weinheim & Basel: Beltz.
    Mecheril, Paul; Castro Varela, M.; Dirim, İ; Kalpaka, A. und Melter, C. (2010): Migrationspädagogik. BACHELOR/MASTER. Weinheim & Basel: Beltz.
    Mecheril, Paul (2004): Einführung in die Migrationspädagogik. Weinheim & Basel: Beltz.

  • Der „Neoliberale Feminismus“ zeigt sich häufig bei weißen, karriereorientierten Frauen und drängt Women of Colour an den Rand. Er gehört zu den postfeministischen Positionen, die sich als dritte Welle des Feminismus verstehen lassen (nach der grundsätzlichen Anerkennung der Rechte der Frau und dem Kampf um Selbstbestimmung). Es geht um sexuelle Selbstbestimmung, Selbstdisziplin und die Arbeit am Selbst, und sich beruflich „mehr reinzuhängen“ (siehe den Weltbestseller „Lean In“ von Sheryl Sandberg), in der Annahme, dass Individualismus und Empowerment zu Unabhängigkeit und Erfolg führen würden.

    Den erfolgreichen weißen Frauen auf der einen Seite steht auf der anderen Seite eine gesichtslose Masse an Frauen gegenüber, meist aus niedrigeren sozialen Schichten oder mit nicht-weißer Hautfarbe, die in „Jobs“ und als Babysitterin, Leihmutter oder als Unterstützerin arbeiten. Derlei Ungleichheiten werden nicht als gesellschaftliches Problem gesehen, sondern als individuelles Versagen, an dem die Einzelnen „selbst schuld“ seien.

    Die Managementforschung schlägt deshalb vor, nicht als Einzelkämpferin aufzutreten und den Aktivismus nutzloserweise nur auf sich selbst und nach innen zu richten (Besser aussehen! Diszipliniert sein!), sondern im Sinne von feministischen Grundpositionen solidarisch füreinander einzutreten, die sozialen und gesellschaftlichen Umstände kritisch zu prüfen und gemeinsam Veränderung für alle zu bewirken.

    Prof. Dr. Brigitte Biehl, Wirtschaftswissenschaft (Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre, insbes. Personalführung und Organisation)

    Quelle: Biehl, Brigitte (2023): Gender und Leadership. Führung jenseits der Geschlechterklischees. Wiesbaden: Springer, S. 117-118.

    Weitere Informationen:
    Rottenberg, Catherine (2018): The Rise of Neoliberal Feminism, New York.
    Video zum Thema: „Gender und Leadership: Neoliberaler Feminismus“

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  • Einleitung
    Wenn wir wollen, können wir im Leben sicherlich auf einiges verzichten. Nicht so jedoch auf Andere. Auf sie angewiesen zu sein, konstituiert uns überhaupt erst als soziale Wesen – ob in Sorgebeziehungen, innerhalb von Lern- und Unterrichtssituationen, beim vergnügten Shoppen mit Freund*innen oder einfach nur dann, wenn wir uns mit unseren Lieben nach einem langen Tag verabreden. Die Bindungen, die wir mit unseren Nächsten eingehen, sind ebenso wie die Beziehungen zu Mitmenschen im Alltag und darüber hinaus von so großer Selbstverständlichkeit, dass Ungleichheiten zwischen ihnen und uns kaum bewusst werden. Sieht man Differenzen doch thematisiert, dann häufig in Gestalt anonymer Strukturen, deren abstrakte Effekte sich uns zum Beispiel statistisch als ‚soziale Gefälle‘ präsentieren. Weitaus seltener tritt eine andere Form von Ungleichheit ans Licht: die empfundene oder von anderen zugeschriebene Nichtebenbürtigkeit zwischen uns und den Anderen als Resultat tagtäglich stattfindender Abgrenzungsroutinen. An dieser Differenzierungspraxis partizipieren wir sozial wie medial, bewusst wie unbemerkt. Im Pausengespräch am Arbeitsplatz und von Tagesschau über Messenger-Dienste bis Social Media werden wir regelmäßig über das unterrichtet, was die Anderen (angeblich) getan oder unterlassen haben, was sie nicht willens sind für das Gemeinwesen, also für uns, zu tun oder wovor wir uns zukünftig in acht nehmen sollten, wenn wir mit ihnen in Berührung kommen. Und vielleicht ertappen wir uns bei einer dieser Gelegenheiten selbst, wie wir das ungute Gefühl, das in uns hochsteigt niederzuringen versuchen, wenn Zuschreibungen und Routinen der Abgrenzung zu Gesten der Ausgrenzung werden. Widmen wir uns also dem Phänomen des ‚Othering‘ – ein Wort mit Sprengkraft, das gelegentlich in politischen Debatten über Migration auftaucht und mit dem daran erinnert wird, dass es vor allem um eines geht, wenn von ‚den Anderen‘ inmitten Europas die Rede ist: Um uns selbst und dominante Wahrnehmungsweisen unseres Selbstverhältnisses.

    Definition und Ideengeschichte
    Der Begriff des Othering hilft dabei, unsere Verstrickungen in das Geschehen der Abwertung, Exotisierung oder Verbesonderung von Anderen* zu durchschauen. Der * drückt aus, dass es sich bei Othering um eine von soziohistorischen Herrschaftsstrukturen durchzogene Praxis der Herstellung von machtasymmetrischen Alteritätsverhältnissen handelt. Alterität bedeutet Andersheit und leitet sich vom lateinischen Wort alter ab, das neben den anderen als Mitmenschen auch der oder das entgegengesetzte Andere bezeichnen kann. Durch Alterisierungen oder Veranderungen, die beide synonym für Othering stehen, werden Andere als ‚unterlegene‘, ‚gefährliche‘, ‚barbarische‘ Andere* figuriert und einem imaginativen ‚Wir‘, zu dem wir uns selbst zählen, entgegengestellt. Menschen werden also nicht schon als Andere* geboren, sondern erst dazu gemacht.

    Simone de Beauvoirs berühmtes Diktum, „Man ist nicht als Frau geboren, man wird es“ (de Beauvoir 1991, S. 334), unterstreicht die Aktivität des Über- und Unterordnens, die für das Geschehen des Othering konstitutiv ist (‚die Frau als das Andere* des Mannes‘). De Beauvoir hat als erste feministische Theoretikerin die spezifische geschlechterdifferenzierende Tiefenstruktur jener Herrschaftsdialektik herauskristallisiert, die Othering-Prozessen zugrunde liegt: Männer stilisieren sich selbst und besetzen die Dominanzposition, indem sie Frauen als das defizitäre Andere erniedrigen. Genau wie männliche wird auch europäische Superiorität dialektisch hervorgebracht.

    Im Gegensatz zur Geschlechterhierarchie, die de Beauvoir 1951 in „Le Deuxième Sexe“ als innergesellschaftliche westliche Dynamik der Veranderung beleuchtet, formieren Alterisierungspraktiken, die kolonialrassistische Kontinuitäten orchestrieren, ein nach außen gerichtetes Dominanzmotiv. Der postkoloniale Denker Edward Said (1978) hat die bis in die heutige Zeit gebräuchliche Demarkationslinie zwischen Okzident und Orient als Resultat eurozentrischer Machtverhältnisse entlarvt. In seinem Werk Orientalism dekonstruiert Said die Dichotomie als Kernelement jener „imaginativen Geographie“ (Said, 1978, S. 54), die auf physikalische Gegebenheiten Bezug nimmt, sich dabei jedoch auf eine phantasmatische Abgrenzung des als ‚fortschrittlich‘ und ‚dynamisch‘ gelabelten Okzidents vom Orient beruft. Dem Orient wird die unterlegene Position des ‚rückschrittlichen‘ Gegenparts zum europäischen Okzident zugewiesen. Diese eurozentrische, von den europäischen Kolonialmächten etablierte Aufteilung der Welt dient nicht allein der ökonomischen Ausbeutung geopolitischer Handelsbeziehungen zwischen ungleichen ‚Partnern‘. Denn, so Said, mit dieser Einteilung war und ist in modifizierter Weise auch bis heute die Aufrechterhaltung des kolonialen Diskurses sichergestellt. Kartographische und vergleichbare Praktiken der Orientalisierung, die Gebiete wie etwa den heutigen Nahen Osten als orientalisch markieren, regeln zusammen mit anderen kolonialen Einteilungsprinzipien und Beschreibungssystemen die Beziehungen zwischen (ehemaligen) Kolonialmächten und Kolonien. Reguliert wird auf diese Weise, was wir einerseits als ‚guten‘ Orient (indischer Subkontinent ohne das spätere Pakistan und Bangladesch) und andererseits als ‚schlechten‘ wahrnehmen (islamisch dominierte Länder und Nordafrika) (vgl. Said, 1978, S. 99). Damit korrespondiert die Differenzierung in ‚gute‘ und ‚schlechte Orientale‘. Phantasmatische Territorialisierungen von Welt, die auf Alterisierungspraktiken beruhen, können als Ausdruck eines kolonialen Begehrens nach Kontrolle und Uniformierung des orientalen ‚barbarischen‘, ‚wilden‘, ‚exotischen‘ Anderen gedeutet werden (vgl. Huggan, 1989, S. 117). Der wichtigste Herrschaftseffekt der Orientalisierung des Orients liegt in der Selbstaufwertung Europas.

    Rassistische Othering-Praktiken, deren Ursprünge in der gut 500-jährigen Geschichte europäischer Kolonialisierung der Welt wurzeln, befestigen weiße*[1] Vorherrschaft, worauf etwa Stuart Hall und die Cultural Studies hingewiesen haben. Für Hall (2000, S. 15) stellen rassistische Alterisierungen den Versuch dar, „das, was wir nicht sind, an seinem Platz zu fixieren, in sicherer Entfernung zu halten“. Gleichsam

    können wir selbst uns doch nur verstehen in Beziehung zu diesem Anderen. Deshalb ist zu bezweifeln, daß unsere kulturellen und nationalen Identitäten authentisch von innen definiert werden. Wer wir kulturell sind, wird immer in der dialektischen Beziehung zwischen der Identitätsgemeinschaft und den Anderen bestimmt. (ebd.)

    Hall argumentiert, dass das Eigene nur dann als ‚zivilisiert‘ und ‚aufgeklärt‘ markiert werden kann, wenn es jemanden gibt, der nach erfolgter Selbstüberhöhung innergesellschaftlich wie außerhalb Europas ‚die Barbarei‘ verkörpert.

    Othering in postkolonialen Gesellschaftsformationen
    Die Geschlechterforscherin Andrea Maihofer (2014) hat in ihrem gleichnamigen Aufsatz die konturierte Dialektik von Selbstaffirmierung und Veranderung im Anschluss an die Werke von de Beauvoir, Said und Hall in zwei Teilbewegungen zusammengefasst, deren Zusammenwirken strukturbildend ist für Alterisierungen in postkolonialen Gesellschaften der Spätmoderne:[2]

    (A) Sozialgeschichtlich lässt sich für europäische Gesellschaften allerspätestens seit dem 18. und 19. Jahrhundert von einer Veranderung von Frauen, Homosexuellen, rassialisierten und anderen deprivilegierten Menschen sprechen. Gleichzeitig hatte sich ein männliches, bürgerliches, weißes*, heterosexuelles Subjekt formiert, das „westlich bestimmt und u. a. mit Rationalität, Selbstdisziplin, Erwerbstätigkeit, Sport und Krieg“ (Maihofer, 2014, S. 325) assoziiert ist. Beide Momente sind die Kennzeichen einer innergesellschaftlichen Othering-Dynamik des globalen Nordens.

    (B) Etwa parallel dazu entstanden Klassenherrschaft und Rassentheorie im Gefolge von Kolonialismus, Nationalismus, Industrialisierung, moderner Rationalität und eurozentrischen Überlegenheitsdiskursen gegenüber ‚Afrika‘ und ‚dem Orient‘, und zwar als topografischer Fluchtpunkt eines nach außen und bis heute operierenden Othering-Narrativs. […] Von entscheidender Bedeutung ist, dass diese ‚extragesellschaftliche‘ Form des Othering auf die unter (A) skizzierte, nach innen gewandte hegemoniale Dialektik westlicher Gesellschaften zurückwirkt. Wir haben es also mit zwei Teildialektiken zu tun, die gemeinsam die Struktur von heutigen Othering-Prozessen bestimmen.

    Vor dem Hintergrund dieser doppelten Analysefolie lassen sich Othering-Ereignisse aus den letzten Jahren herrschaftstheoretisch dekonstruieren, die öffentliche Diskurse und politische Konjunkturen im deutschsprachigen Raum immer wieder bestimmen. Ein Grundmotiv sticht dabei besonders heraus: Vergleiche mit orientalisierten Anderen* und den islamisch geprägten Gesellschaften dienen häufig dazu, um im Kampf um kulturelle Vorherrschaft das vermeintlich ‚ureuropäische‘ Narrativ der „vollendete[n] Emanzipation“ (Maihofer, 2014, S. 328) zu festigen. Die bestehenden hiesigen sozialen Ungleichheiten und Menschenrechtsverletzungen werden so unsichtbar gemacht. Nach außen bildet die „Selbststilisierung Europas als fortschrittlich, modern und Ort der Menschenrechte“ (Maihofer, 2014, S. 328) mit der Orientalisierung des Orients eine hegemoniale Allianz, die auf das eigene Selbstbild als ‚aufgeklärte Europäer*innen‘ zurückwirkt.

    Aktuelle politische Schauplätze von Othering
    Die skizzierte Perspektive auf die ineinandergreifenden Momente der Doppeldialektik von Selbstaffirmierung und Othering hilft uns zu verstehen, warum die Berichterstattung über die Ereignisse der Kölner Silvesternacht 2015/16 zum Prototyp einer rechtsgerichteten bzw. konservativen politischen Agenda geworden ist, die öffentliche Migrationsdebatten nachhaltig beeinflusst. Denn, so die postkolonialen Theoretiker*innen María do Mar Castro Varela und Nikita Dhawan, es ging in den Debatten nach dem ‚Ereignis Köln‘

    kaum um Formen und Strategien des Opferschutzes, sondern um die Verschärfung des Asylrechts und um die Forderungen nach einer erleichterten Abschiebung von jungen muslimischen Geflüchteten. Sexismus wird zu einem Problem männlicher muslimischer Subjekte und das obwohl bekannt ist, dass Sexismus in europäischen Städten ubiquitär ist. Die Fokussierung auf die vermeintlich ‚arabische Herkunft‘ der Täter in den Berichterstattungen vernachlässigt darüber hinaus, dass nach wie vor die meisten sexuellen Übergriffe von Verwandten und (Ex-)Partnern ausgehen und dass Women of Color in Europa nicht nur jeden Tag sexualisierte Übergriffe erleben, sondern dass rassistische Praxen geradezu zu ihrem Alltag gehören. (Castro Varela/Dhawan, 2016, S. 34)

    Spätestens seit dem Ereignis Köln hat sich ein neokolonialer Protektionismus als mächtige Diskursposition etabliert. Das offen rassistische Sprechen ist wieder salonfähig geworden (vgl. Hark/Villa, 2017). Die Berichterstattung zum Jahreswechsel 2022/23 etwa folgte einem ähnlichen Muster, als „ganzen Bevölkerungsgruppen nicht nur die Zugehörigkeit abgesprochen“ wurde, sondern man sie darüber hinaus kurzerhand „zur Gefahr für den sozialen Zusammenhalt“ (Celikates, 2023) erklärte. Gleichzeitig wurden Übergriffe auf Migrationsandere in Teilen Deutschlands verübt, worüber jedoch kaum berichtet wurde. Weiße* Superiorität und eurozentrischer Rassismus wurden auch während der Proteste gegen die staatliche Corona-Maßnahmenpolitik in den frühen 2020er Jahren gefestigt. Neben antiasiatischem Rassismus haben sich Verschwörungserzählungen gehäuft, die antimuslimisches Othering mit dem jahrhundertealten Phantasma einer ‚jüdischen Weltverschwörung‘ verknüpften (vgl. Bayramoglu/Castro Varela, 2021). Diese und vergleichbare Vorfälle zeigen die Notwendigkeit, unterschiedliche Alterisierungsverhältnisse in ihren gegenseitigen Verflechtungen hegemoniekritisch zu artikulieren, wie eben antimuslimischen Rassismus und Antisemitismus (vgl. Zakariya Keskinkılıç/Langer, 2018). Hatte es oben geheißen, dass Othering ein Diskursmittel ist, um sich selbst aufzuwerten und so die Formation ‚Europa‘ zu sichern, dann bedeutet Hegemoniekritik im Kontext weiß*-europäischer Superiorität, die eigene Position zu dekonstruieren, von der wir uns in jene Konflikte einschalten, die Muster der „Dämonisierung der Anderen“ (Castro Varela/Mecheril, 2017) reproduzieren.

    Bildende Interventionen
    Hegemonieselbstkritik meint im Anschluss an das Gesagte, Herrschaftsmechanismen unter Berücksichtigung der eigenen Privilegiensituierung in Abhängigkeit vom geopolitischen Standort zu reartikulieren, von dem man sich in gesellschaftliche Diskurse einschaltet (vgl. Dietze, 2008; Waldmann, 2020; Aktaş, 2020). Als konflikthafte, de-alterisierende Bildungspraxis stellt sie unsere für selbstverständlich gehaltenen Relationen zu uns selbst, zu Anderen und zu dominanten Ordnungsgefügen infrage und verdankt sich dabei einem politischen Lernen als Verlernen kolonialrassistischer und anderer Othering-Dynamiken (vgl. z. B. Castro Varela, 2017). Wer dominante Wissensordnungen, Wahrnehmungs- und Denkweisen verlernt, kann sich mit „dem Apparat der Wertekodierung anlegen“ (Sternfeld, 2014, S. 10) – innerhalb pädagogisch relevanter Felder, in denen Lernende resp. Kinder oftmals alterisiert werden, und darüber hinaus (vgl. für die erziehungswissenschaftliche Rezeption von Othering Künstler/Massóchua, 2021).

    Dazu zählt zum Beispiel, sich als europäisch situierte weiße* Subjekte dort einzumischen, wo marginalisierte Andere von einer superioren Diskursposition gegeneinander ausgespielt werden. Gegenwärtig äußert sich diese Divide-et-impera-Strategie immer wieder dadurch, dass muslimische Menschen verandert werden, indem man sie als Urheber*innen von antijüdischen Ressentiments figuriert (vgl. z. B. Al-Taher/Younes, 2023, S. 8). Auf diese Weise wird vordergründig die Einheit des ‚jüdisch-christlichen‘ Abendlandes beschworen, während gleichzeitig die eigenen (indirekten) Profite von der antisemitischen Tradition Deutschlands und Europas wie auch die Tatsache geschickt verborgen werden, dass hierzulande im Namen weißer* Superiorität noch immer Anschläge auf Jüd*innen und Muslim*innen verübt werden. Ein bereits seit Jahren zu verzeichnender Diskurseffekt der Dialektik von Selbstaffirmierung und Othering besteht laut Ozan Zakariya Keskinkılıç und Ármin Langer darin, Antisemitismus

    […] nach außen [zu verlagern, M. W.] […], um Migrant*innen, Geflüchtete und Muslim*innen unter Generalverdacht zu stellen. Unter vorgehaltener Antisemitismusbekämpfung werden ‚die Anderen‘ zur Zielscheibe von Anfeindungen, Gewalt und gesellschaftlichen Ausschlüssen. Dabei ist die plakative Solidarität brüchig, wie Yasemin Shooman erklärt, ‚sobald Jüdinnen und Juden sich nicht mehr in Antimuslimische Argumentationen einbinden lassen‘ […]. Sollten sie [Jüd*innen, M. W.] ‚uns‘ widersprechen, sich nicht in eine solche Rhetorik einbinden oder ‚dem Muslim‘ in seiner so ‚fremden‘ Kultur und Religion zu nahestehen, werden auch sie des Verrats an ‚westlichen‘ Werten bezichtigt und angegriffen (Zakariya Keskinkılıç/Langer, 2015, S. 14)

    Eine so verstandene Hegemonieselbstkritik, welche die dialektische Verklammerung von Selbststilisierung und Veranderung nicht einfach nur machtvergessen zu lösen versucht, sondern ihre Wirkmächtigkeit durch den historisch informierten Blick auf das von Intersektionen zwischen Holocaust und kolonialem Erbe durchzogene hegemoniale Terrain Deutschlands entwaffnet, ist nach dem Überfall der Hamas auf Israel und der darauffolgenden Militärintervention Israels im Gazastreifen notwendiger denn je, um hierzulande bisherige Muster des Othering nicht mehr zu wiederholen und eine solidarischere politische Debattenkultur zu fördern. Selbstkritische Bildungspraktiken können dazu einen wertvollen Beitrag leisten, um die Reproduktion imperialer Subjektpositionen in dominanten gesellschaftlichen Diskursen über ‚die Schuld der Anderen*‘ zu problematisieren. Bildung meint dabei keine Rückkehr zu sich selbst, sondern ein Geschehen der Öffnung für Andere und anderes, auf dessen Grundlage man das eigene Involviertsein in epistemisch-gewaltvolle Deutungsroutinen der Selbstaffirmierung stetig hinterfragt, darunter das Ausspielen unterschiedlicher alterisierter Positionen gegeneinander.

    Interdisziplinäre Othering-Analysen
    Othering umfasst als Analysebegriff neben historischen, politischen, gesellschaftskritischen und bildungstheoretischen auch systematische Implikationen in Bezug auf die Konzeption von Herrschaft. Die postkoloniale Denkerin und Literaturtheoretikerin Gayatri C. Spivak (1985) unterscheidet zu diesem Zweck drei Alterisierungsverhältnisse, die jeweils verschiedene Facetten bespielen (vgl. Jensen, 2011):[3]

    a) Othering als gruppenspezifisches Herrschaftsverhältnis: Hierunter fallen alle Kommunikationsweisen und Bedeutungspraktiken, die den abgewerteten Gruppen übermitteln, wer über die Definitionshoheit verfügt und wer diese Macht nicht besitzt.

    b) Othering als infrastrukturbezogenes Herrschaftsverhältnis: Hierzu gehört der Besitz von Produktions- und bedeutungserzeugenden Mitteln wie auch von kritischer Wissensinfrastruktur, aber auch Dominanzverhältnisse innerhalb von Technologieentwicklungen.

    c) Othering als epistemisches Herrschaftsverhältnis: Dazu zählen alle diskursiven Konstruktionsprozesse, die Andere als ‚unterlegen‘, ‚gefährlich‘, ‚krank‘, ‚minderwertig‘, ‚integrationsunwillig‘ usw. figurieren und sie zum Spielball anderer Kräfte machen, ohne dass die Veranderten strukturell die Chance hätten, gegen Othering direkt zu intervenieren oder auf die dahinterliegenden Herrschaftsverhältnisse unmittelbar einzuwirken.

    Ein historisches Beispiel für b)ist männliche Dominanz innerhalb der Kultur- und Technologiegeschichte des Computers. Wenn wir gegenwärtige Geschlechterverteilungen in Programming- und Coding-Kontexten betrachten, können wir uns wahrscheinlich kaum vorstellen, dass das Programmieren anfangs eine Tätigkeit gewesen ist, die mehrheitlich von Frauen ausgeübt wurde. Das Programmieren war Teil des erweiterten Aufgabenbereichs von Sekretärinnen und Assistentinnen, was sich erst änderte, als technische Kompetenzen vorwiegend mit Männlichkeit assoziiert wurden (Ranga/Etzkowitz, 2010). In dem 2016 erschienenen Sachbuch „Hidden Figures“ von Margot Lee Shetterly wird erzählt, wie die afroamerikanischen Mathematikerinnen und Ingenieurinnen Dorothy Vaugan, Katherine Goble Johnson und Mary Jackson in den 1950er Jahren im ersten Raumfahrtprogramm der NASA als ‚Computer‘ (‚Berechnerinnen‘) zu arbeiten beginnen und dabei einen massiv von Segregationserfahrungen geprägten Joballtag durchleben. An der Verfilmung des Buches wurde in diesem Zusammenhang kritisiert, dass die Perspektive eine White-Saviour-Narration unkritisch perpetuiere, in der ein weißer* Vorgesetzter als ‚Retter‘ der drei Schwarzen Frauen stilisiert wird, der die Rassentrennung mit einer einzige Geste abzuschaffen scheint (Frühwirth et al., 2021).

    Ein Exempel aus dem Feld der Sozialen Medien für die Verbindung von a) und b) stellen Social-Media-Praktiken des Online Othering dar (Lumsden/Harmer, 2019a). Der von Karen Lumsden und Emily Harmer entwickelte Ansatz bietet einen herrschaftskritischen Rahmen für die in sozialpsychologischen, kommunikations-, medien- und handlungstheoretischen Studien häufig unverbunden thematisierten Einzelphänomene hate speech, trolling, shitstorms, Missbrauch, Belästigung, Bedrohung usw. Online Othering bezieht sich auf die strukturellen, gesellschaftlichen, technisch-medialen und machtpolitischen Bedingungsfaktoren von Erniedrigungs-, Exklusions- und ähnlichen Dynamiken, die eine gleichberechtigte Onlinepartizipation von bereits deprivilegierten Gruppen verhindern. Als „reflection of patriarchal power“ (Lumsden/Harmer, 2019b, S. 384) adressiert die interdisziplinäre Perspektive

    the role of power and privilege at various levels including in the design of information- communication technologies (largely by those in privileged positions [read: white, middle-class men]), and without consideration of unanticipated (potentially harmful) consequences and the ways in which technologies can be used for purposes not initially considered or planned in their design (i.e. the use of smartphone apps for stalking and coercion). (Lumsden/Harmer, 2019a, S. 21)

    Weitere Bedingungsfaktoren von Online Othering sind in der politischen Ökonomie des Internets zu finden, etwa wenn Akkumulationslogiken im Plattformkapitalismus die Verbreitung von hate speech und fake news begünstigen (vgl. Eickelmann, 2017). Auch das weltweite Erstarken der alternativen Rechten, von nationalistischen und anderen extremen Gruppierungen sowie von sogenannten Männerrechtsbewegungen, des „Neuen Chauvinismus“ (Penny, 2017) oder des „Trumpismus“ (Winter, 2019) sind weitere Gründe für die Zunahme von Online Othering.

    Othering auf makropolitischer Ebene
    Othering als epistemische Herrschaftsform (c) artikuliert sich, neben den erläuterten aktuellen mikropolitischen Konflikten um die Sicherung weiß*-eurozentrischer Deutungshoheit, auf der Makroebene nationalstaatlicher Innen- und europäischer Außenpolitik. Bürgerliche Gesellschaften erzeugen strukturell gewaltsame Ausschlüsse aus dem Recht (vgl. Loick, 2017) und dadurch auch aus anderen Ordnungen. Stellvertretend für andere Othering-Praktiken kann zur Verdeutlichung dessen auf die polizeiliche Praxis des racial profiling verwiesen werden. Die Intersektionalitätstheoretikerin und Aktivistin Vanessa E. Thompson (2018) hat angesichts der enormen Auswüchse der Poliziierung von BIPoC[4] die kritische Frage gestellt, wer in Deutschland zu den beschützenswerten Subjekten gezählt wird und über sich selbst verfügen darf und wer in permanenter Unsicherheit lebt, nicht als bürgerliches Rechtssubjekt anerkannt, verandert und im Zuge dessen vorverurteilender Willkür, isolierender Segregation und direkter Gewalt in Kontrollpraktiken ausgesetzt zu sein. Menschen mit Rassismuserfahrungen werden in Deutschland in Relation zu weißen* nicht-migrantisierten Subjekten auch in anderen institutionellen Arrangements nicht gleichbeschützt (Polizei), gleichgestellt (Recht), gleichgefördert (Bildung) und gleichbehandelt (Arbeitsmarkt). Hinzu kommt, dass an den Außengrenzen Europas tausende Geflüchtete in Lagern extralegal, das heißt ohne juristischen Grund interniert werden (Loick, 2021). Achille Mbembe (2019) hat in einem weiteren Sinne dafür den Begriff necropolitics geprägt. Nekropolitik bezeichnet „the power to kill, to let live, or to expose to death“ (Mbembe, 2019, S. 66). Denken wir etwa an das Grenzregime im Mittelmeer, wo Tausende Geflüchtete jedes Jahr ihr Leben verlieren (Proglio et al., 2021) oder an die ‚grüne Grenze‘ zwischen Belarus und Polen, die im gleichnamigen Film der Regisseurin Agnieszka Holland mit dem Fokus auf die von beiden Ländern massenhaft durchgeführten illegalen Pushbacks als Todesstreifen ganz in unserer Nähe portraitiert wird. Mit der europäischen Nekropolitik herrschaftsdialektisch verschränkt ist die Biomacht nationalstaatlicher Integrationsregime. Der Diktion Foucaults folgend, der den Begriff der Biopolitik bzw. Biomacht im Kontext neoliberaler Logiken der Selbstbewirtschaftung eingeführt hatte, geht es hierbei um Lenkung und Optimierung des Lebens. Auf Grundlage staatlicher Asyl- und Migrationspolitiken hat sich seit der Jahrtausendwende ein biopolitisches Regime zu etablieren begonnen, das migrantisierten Subjekten nahegelegt, ihren Anspruch auf Zugehörigkeit und auf ein Bleiberecht von ihrem Beitrag für das Gemeinwesen abhängig zu machen. Sie werden hierdurch als Andere* figuriert, die erst zur Integration aktiviert und optimiert werden müssten (vgl. Kollender, 2020).

    Andere Interventionen gegen Othering
    Neben der politischen Mikropraxis der Hegemonieselbstkritik, die für die Seite der Mehrfachprivilegierten einen lern- und bildungstheoretisch begründeten Interventionsrahmen aufspannt, lassen sich mindestes[5] drei andere Positionen exemplarisch benennen, die jeweils auf verschiedene Ebenen und Facetten des Kampfes gegen die Reproduktion von Herrschaft durch Alterisierungen abzielen. Gemeinsam ist ihnen, dass sie Othering als komplex verzweigtes Gesellschaftsphänomen artikulieren, akademische Initiativen und aktivistische Bewegungspolitik miteinander verschränken und daher entsprechend vielseitige Interventionsstrategien entwickeln:

    (1) Abolitionistische Positionen bezweifeln, dass die Macht von Alterisierungen mit reformerischen Mitteln zu bezwingen ist. Der Abolitionismus vertritt deshalb einen politisch-normativen Neugründungsanspruch, welcher nicht bloß auf den Verzicht repressiver Othering-Praktiken in institutionellen Ordnungen und darüber hinaus hinzuwirken versucht: „Abolitionismus bedeutet nicht einfach, dass etwas wegfällt, sondern geht mit der Neuerfindung von Institutionen der sozialen, politischen und kulturellen Teilhabe einher“ (Loick/Thompson, 2022, S. 23). Ursprünglich als Schwarze Widerstandsbewegung gegen die Plantagensklavenökonomie entstanden umfassen abolitionistische Positionen eine breite Palette transnationaler politischer Initiativen: von der Abschaffung rigider Abschiebe- und Grenzregime, des Gefängnis- und Lagersystems, der polizeilich-militärischen Überwachung und des sanktionierenden Staates – öffentlichkeitswirksam gefordert in den Black-Lives-Matter-Protesten als weltweit größter Ausläufer des Abolitionismus –, über die Etablierung neuer nicht-ausbeutender Re-/Produktionsweisen und Formen nachhaltiger Ökonomien, bis hin zu feministischen Selbstverwaltungsprojekten, wie den autonomen Frauenhäusern und der Antipsychiatriebewegung (vgl. Loick/Thompson, 2022).

    (2) Postkolonial-feministische Ansätze, die an Spivak (1981 und 1983) anschließen, gewinnen Widerstandsperspektiven mithilfe dekonstruktiver und verwandter Verfahren, ohne dabei jedoch die materiellen Bedingungsfaktoren von Othering zu vernachlässigen. Ausgehend von der Kritik an westlichen feministischen Bewegungen, die sich undifferenziert auf ‚Frauen‘ als das Subjekt ihrer Politik beziehen und damit die politische Ökonomie des Imperialismus sowie die Überausbeutung von Frauen des globalen Südens ignorieren, problematisiert Spivak die dominanten Bezüge des globalen Nordens auf ‚die Dritte-Welt-Frau‘. Das Sprechen für diese Anderen* ist eine typische Falle, in die privilegierte Positionen häufig geraten, weil sie sich dadurch anstelle der Alterisierten setzen und das Schweigen der Subalternen fortsetzen. Subalternität steht in postkolonialen Gesellschaften für ein leeres Zeichen und bezeichnet hochgradig heterogene Alterisierungseffekte. Subalterne können sich selbst weder politisch repräsentieren, noch werden sie von anderen gehört oder anerkannt (vgl. Castro Varela/Dhawan, 2015, S. 337; Spivak, 2012; Gutiérrez Rodríguez, 2012). Die Gefahr einer Verdinglichung von Subalternität macht symbolische Gegeninterventionen von Dritten in Othering-Diskursen zu einem heiklen Unterfangen. Einerseits droht in jeder Repräsentation von Alterisierten die Komplizenschaft mit der Stellvertretung, dem An-die-Stelle-von-jemand-Anderem*-Treten, was in eine Reifizierung des Schweigens mündet. Andererseits sind jedoch nicht alle Formen von Komplizenschaft gleich:

    Die Komplizenschaft der politischen Kritik mit ihrem Objekt impliziert […] kein notwendiges Scheitern von Kritik, vielmehr ist es […] die Anerkennung der eigenen Komplizenschaft, welche die Kritik ermöglicht. Handlungsmacht und Komplizenschaft sind miteinander verbunden […] und schulden dem Objekt der Kritik ihre ethische Verantwortung. (Castro Varela/Dhawan, 2015, S. 179).

    Dekonstruktion bedeutet im Sinne Spivaks, die Spur des Schweigens in Unterscheidungen wie Selbstaffirmierung/Veranderung und innerhalb der strukturanalogen Dichotomie von Zentrum/Peripherie zu unterminieren, die Macht von neokolonialen Mustern durch subversive Relektüreverfahren aus dem inneren von imperialistischen Diskursen heraus zu destabilisieren und subalterne Räume materiell wie diskursiv aufzulösen (Spivak, 1993).

    (3) Perspektiven des Black Feminism erinnern uns daran, dass rassistische Alterisierungen in ein weit verzweigtes Netz aus anderen Othering-Praktiken eingespannt sind. Patricia Hill Collins (1990) hat dies als matrix of domination (Rassismus, Sexismus, Klassismus) bezeichnet. Der Ankerpunkt des Black Feminism besteht in der politischen Erkenntnis, dass

    the choice between identifying as Black or female is a product of the patriarchal strategy of divide-and-conquer, and the continued importance of class, patriarchal, and racial divisions perpetuate such choices both within our consciousness and within the concrete realities of our daily lives (Thornton Dill zit. in Hill Collins, 2004, S. 111, Hervorhebung M. W.).

    Gegen die Divide-et-Impera-Herrschaftslogik formiert sich Widerstand in Gestalt von Strategien des define and empower, wie Audre Lorde (1984, S. 112) in einer Rede an der New York University erklärt. Das Werk von Lorde kreist um Verhältnisse zwischen Schweigen, Reden und dem Zum-Schweigen-gebracht-werden (silencing) durch weiße*-männliche Herrschaft. In ihren Essays, Gedichten und Reden veranschaulicht sie lebensnah, dass silencing vergeschlechtlicht und rassialisiert ist – es sind BIWoC[6], die immer wieder übersehen, überhört, isoliert, exotisiert, unterschätzt, diskreditiert, als ‚überpolitisiert‘ beschimpft werden. Empowerment bedeutet mit Blick auf das komplexe Geflecht aus Unsichtbarkeit, Über-Sichtbarkeit und Othering, aus dem Schweigen herauszutreten, Position gegen Objektivierung, Fremdbestimmung und Unterdrückung der eigenen Schwarzen weiblichen Stimme zu beziehen und sich politisch in solidarische Lebensformen der sisterhood einzuüben (Lorde 1979 und 1984). Die Überkreuzungen zwischen den unterschiedlichen Alterisierungsverhältnissen erfordern schließlich auch intersektionale Formen von Solidarität:

    Jeder Angriff auf Schwarze Menschen ist zugleich ein Thema für Lesben und Schwule. Denn ich und Tausende andere Schwarze Frauen sind Teil der lesbischen Community. Jeder Angriff auf lesbische Frauen und schwule Männer ist auch ein Thema der Schwarzen, denn Tausende Lesben und Schwule sind Schwarz. Es gibt keine Hierarchie der Unterdrückung. (Lorde, 2015, S. 47).

    Wenn es in diesem politischen Sinne keine ‚Rangfolge‘ unter den Alterisierten geben kann, dann wird Marginalität laut bell hooks zu einer widerständigen Positionierung gegenüber dem Zentrum. Marginalisierte Standpunkte, wie diejenigen von BIPoC, widerstehen dem Begehren nach Normalisierung, indem sie gegenhegemoniale Narrationen in solidarischen Gruppen hervorbringen und distribuieren. Es handelt sich bei dieser Praxis der strategischen Alterisierung bzw. Essentialisierung deswegen auch nicht um eine marginale Position, von der es sich loszusagen gilt. Denn: „To give up or surrender as part of moving into the center“, also ‚normal‘ zu werden, erklärt hooks (2004, S. 157), hätte den Verlust des kritischen Widerstandspotenzials der Peripherie und ihrer Solidarisierungspotenziale zur Folge.

    Die Inklusionstheoretikerin Mai-Anh Boger hat eine Meta-Position entwickelt, mit deren Hilfe sich alle Theorien (Boger, 2019a), Politiken (Boger, 2019b) und Subjektpositionen (Boger, 2019c) verorten lassen, die gegen Diskriminierung und Othering kämpfen und sich für übergreifende Lösungen mit dem Ziel der Differenzgerechtigkeit engagieren. Vereinfacht gesagt können Veranderte entweder

    • dazu befähigt werden, sich zu empowern, um bei den Normalisierten mitmachen zu können (EN) oder
    • Normalitätsbegehren dekonstruieren und anstelle dessen eigene Räume des Empowerments etablieren (DE) oder
    • Teil von Gemeinschaften sein, in denen Normalität solange flexibilisiert wird, bis sie dekonstruiert ist (ND).

    Da jede der Kombinationen ein drittes ausschließt, formieren sich drei Dilemmata inklusiver Strategien. Alle drei Positionen sind gleichrangig, ohne jedoch gleichwertig berücksichtigt werden zu können. Kämpfe gegen Othering sind stets im Spannungsfeld des Trilemmas der Inklusion verortet:

    • Gleichstellungspolitiken, Mainstreaming- und Quotierungsaktionen sowie Maßnahmen flexibler Nachteilsausgleiche lassen sich unter EN subsumieren, können jedoch nicht gleichzeitig Identifizierungen derjenigen dekonstruieren, die um Einschluss und Teilhabeprivilegien begehren und speziell gefördert werden (EN ¬ D). Einen damit korrespondierenden theoretischen Horizont eröffnet zum Beispiel der Capability Approach (Nussbaum, 2001).
    • Neben postkolonialen Interventionen fallen beispielsweise intersektionale Sisterhood-Politiken des Black Feminism unter DE. Hier pochen die Veranderten darauf, sich nicht den Normalisierungszwängen des Zentrums zu unterwerfen, was N ausschließt (DE ¬ N).
    • Das politische Projekt des Abolitionismus, das die Abschaffung aller hierarchischen Alterisierungsmechanismen anvisiert und Gesellschaft neu entwerfen will, folgt zumeist der ND-Linie. Die Vision besteht darin Gemeinschaften hervorzubringen, in denen sich niemand mehr anders* fühlen muss (ND ¬ E).

    Die große Herausforderung besteht laut Boger im Anschluss an die konturierten drei Schlussmuster darin, einen kritischen Diskussionsrahmen in verschiedenen Praxisfeldern zu etablieren, um zwischen den unterschiedlichen Inklusionen situations- und zielabhängig zu pendeln und dabei auch Dissens ethischer zu gestalten. Es geht darum, Formen der Solidarität zu bilden, die sich zu Herzen nehmen, dass wir in dieser Welt konstitutiv mit Anderen verflochten sind und daher jede*r von Alterisierungen mit-betroffen ist. Othering kann und darf deshalb nicht das Alleinproblem der Anderen(*) bleiben. Politische Veränderung nimmt ihren Anfang bei den Anderen, auf die ich zu antworten herausgefordert bin, sie beginnt aber bei mir selbst.

    Dr. Maximilian Waldmann, Institut für Bildungswissenschaft (Lehrgebiet Bildung und Differenz)

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    [1] Weiß* kennzeichnet die Zugehörigkeit zu einer dominanzgesellschaftlichen Identifizierung. Diese ist untrennbar mit Strukturen rassistischer Hegemonie und gesicherter Privilegien assoziiert und verweist auf eine Welt, in der sich weiße* Ethnizität als unmarkierte Autoritätskategorie formiert hat.

    [2] Bei der folgenden Darstellung der beiden Teildialektiken im Anschluss an Maihofer handelt es sich um ein Zitat aus dem Studienbrief „Macht – Medien – Bildung“ des bildungswissenschaftlichen Mastermoduls B1 „Gesellschaftliche Rahmenbedingungen von Medien und Bildung“ der FernUniversität in Hagen (Waldmann, 2021, S. 92-93).

    [3] Hierbei handelt es sich um einen sinngemäßen Auszug aus dem Studienbrief „Macht – Medien – Bildung“ (Waldmann, 2021, S. 110-111).

    [4] BIPoC steht als Abkürzung für Black Indigenious People of Color. Es wird als eine politische Identifizierung verwendet, die auf eine „strategisch geformte Identität der Unterdrückungserfahrungen“ (Piesche, 1999, S. 204) verweist und eine politische Widerstandsperspektive gegen rassistische Zuschreibungen impliziert.

    [5] Unerwähnt bleiben hier beispielsweise queere Bewegungspolitiken, die sich gegen Othering durch desidentifikatorische und Strategien des Anders-Werdens zur Wehr setzen (vgl. z. B. Engel, 2015).

    [6] BIWoC bezeichnet Black Indigenious Women of Color.

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  • Die Zusammensetzung des Begriffes „Postkolonialismus“ legt den Schluss nahe, dass damit jene Epoche in der Weltgeschichte bezeichnet wird, die zu Beginn der 1960er Jahre entstanden ist - d.h. mit der Abschaffung jeglicher Kolonialherrschaft. Gleichwohl wird dieser Begriff missverstanden, wenn er ausschließlich auf ein chronologisches „Nacheinander“ reduziert wird. Vielmehr noch ist „Postkolonialismus“ der Ausdruck für eine Fülle ganz unterschiedlicher Denkrichtungen und Forschungsansätze, die das bis heute nachwirkende wissenschaftliche, politische und wirtschaftliche Vermächtnis des Kolonialismus thematisieren. Insofern ist „Postkolonialismus“ ein diskurstheoretischer Begriff, der eine machtkritische Perspektive auf die Geschichte ermöglicht. Der Begriff wurde von englischsprachigen Literaturwissenschaftler:innen wie zum Beispiel Edward Said, Gayatri C. Spivak oder Homi K. Bhaba in die akademische und die öffentliche Diskussion eingeführt. Dank dieser Einführung wurde deutlich, dass auch die kolonisierenden Gesellschaften in Europa sehr nachhaltig vom Kolonialismus geprägt und beeinflusst wurden, sodass auch hier eine umfassende Dekolonisierung notwendig ist.

    Barbara Schneider, Historisches Institut (Lehrgebiet Geschichte Europas in der Welt)

    Literatur:
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    Sierra, Rosa: Postkolonialismus, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8online. URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Postkolonialismus [29.02.2024].

  • Im wörtlichen Sinne meint postmigrantisch erst einmal „nach der Migration“. Darüber hinaus rekurriert der Begriff des Postmigrantischen auf den Umstand, dass es keinen Bereich oder Prozess in Gesellschaften gibt, der von Migration unberührt bleibt. Auch wenn diese Perspektive in öffentlichen Debatten in Deutschland nach wie vor bzw. erneut zunehmend abgewehrt wird, ist jede und damit auch die deutsche Gesellschaft von Beginn an durch Migration geprägt.

    Das Postmigrantische verweist somit darauf, dass es sich bei Migration um ein zentrales Moment für die Gestaltung einer Gesellschaft handelt und mitnichten um ein Randthema. Es fordert hegemoniale Deutungen von Migration, Kultur und Gesellschaft heraus und ermöglicht, historische Entwicklungen und gesellschaftliche Verhältnisse anders zu denken. Als politische Kategorie bietet die postmigrantische Idee zudem eine Perspektive, mit der sich gegen die „Migrantisierung“ und die einem derartigen Othering einhergehende Marginalisierung von Menschen, die sich selbst als Teil einer Gesellschaft verstehen, angekämpft wird. Deutschland gerät hierüber in seiner Geschichte und Gegenwart als Einwanderungsland und Migrationsgesellschaft in den Blick.

    Janine Fubel, Historisches Institut (Lehrgebiet Public History)

S Bild: *
  • Bezeichnung bezieht sich auf den Namen, der eine Gruppe von Menschen beschreibt. Bei einer Selbstbezeichnung wurde der Name von der beschriebenen Gruppe selber gewählt. Dies steht im Gegensatz zu Fremdbezeichnungen, die Gruppen von außen (oft einer mächtigeren Gruppe) übergestülpt werden. Während Fremdbezeichnungen oft diskriminierend sind, können Selbstbezeichnungen empowernd sein und ein positives Zugehörigkeitsgefühl innerhalb einer Gruppe schaffen. Dies liegt unter anderem an der engen Verknüpfung von Namen und Identität (Derrida, 1974, S. 197), an der politischen Ermächtigung, die mit dem Zurückweisen einer Fremdbezeichnung einhergehen kann (Mai-An Boger, 2023) und daran, dass Fremdbezeichnungen pathologisierend oder stereotypisierend sein können (Hale, 1998). Eine Selbstbezeichnung kann ebenfalls eine angeeignete und so umgedeutete Fremdbezeichnung sein.

    Mai Grundmann, CATALPA – Center of Advanced Technology for Assisted Learning and Predictive Analytics (Nachwuchsgruppe Stereotype Threat)

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  • Da der Rassismus eine Erfindung des kolonialen Zeitalters gewesen ist, hat auch die zeitgenössische Kultur für ihn theoretische, vermeintlich wissenschaftliche Grundlagen geliefert, etwa durch Übertragung biologischer Definitionen von Tierrassen auf die Anthropologie. Spätestens seit Anfang des 20. Jahrhunderts ist seitens der Wissenschaften und der Philosophie klar, dass es keine mögliche Definition des Wesens („Essenz“) des Menschen oder gar einzelner Menschengruppen gibt und geben kann. Darüber hinaus hat sich die Theoriebildung in Philosophie sowie den Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften in der Folge sehr weitgehend vom Begriff der Identität entfernt. Da eine Identität von etwas oder jemandem nicht behauptet werden kann, ohne Kriterien zu nennen, die erfüllt sein müssen, damit diese Identität zugeschrieben werden kann, stellt sich ein permanentes und prinzipielles Grenzproblem: Gehört der- oder diejenige, die eines von mehreren wesentlichen Kriterien nicht erfüllt, noch zur betreffenden Gruppe oder nicht? Wird die Frage mit Ja beantwortet, ergibt sich das Folgeproblem, dass dann ganz viele andere mit eingeschlossen werden müssen, die man prima facie nicht zur Gruppe rechnen würde. Identitäten – so lässt sich das Problem zusammenfassen – sind also entweder ausgrenzend oder nichtssagend. Wenn es Identitäten nicht gibt (zumindest nicht so, dass sie ein „Wesen“, eine „Essenz“ hätten), lassen sich daraus auch Argumente gegen Rassismen und Rassisten ableiten, die eben stets solche essentiellen Zuschreibungen vornehmen („alle X sind…“). Für den Kampf gegen Rassismus ergibt sich daraus aber auch ein Mobilisierungsproblem, dass es dann kein gemeinsames „Wir“ gibt, dass sich gegen rassistische Zuschreibungen versammeln lässt, da die Differenzen innerhalb des „Wir“ ebenso relevant sind wie die Abgrenzung gegen ein „sie“. Strategischer Essentialismus ist eine mögliche Antwort auf dieses politische Dilemma. Er weiß, dass es kein Wesen einer Gruppe, keine Essenz gibt und geben kann, setzt es aber gezielt und provisorisch zu strategischen Zwecken ein. Er fingiert ein Kollektiv „als ob“ es ein gemeinsames Wesen gebe, um ein bestimmtes politisches Ziel in der Öffentlichkeit artikulieren zu können. So kann etwa die schwullesbische Bewegung für den Zweck einer rechtlichen Normalisierung des Partnerschaftsrechts für eine Zeit lang und unter Hintanstellung aller anderen Differenzen so tun, als wollten alle Schwulen und Lesben heiraten, obwohl alle politisch aktiv beteiligten in diesem Kollektiv wissen, dass die schwullesbische Bewegung in sich höchst heterogen ist und gerade im Hinblick auf Formen der Partnerschaft und des Zusammenlebens ganz diverse und oft antibürgerliche Lebensformen entwickelt hat. Um aber die rechtliche Gleichstellung und damit auch eine Normalisierung schwullesbischer Lebensformen zu erreichen, wird strategisch in der politischen Öffentlichkeit das bürgerliche „Wesen“ der schwullesbischen Existenz in den Vordergrund gerückt. Provisorisch sind solche Identitätsbehauptungen immer, da sie für andere Zwecksetzungen mit neuen Allianzen wieder aufgegeben oder neuformiert werden können.

    Prof. Dr. Thomas Bedorf, Institut für Philosophie (Lehrgebiet Praktische Philosophie: Technik, Geschichte, Gesellschaft)

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  • Grundsätzliche Definition
    Der Begriff der Verletzbarkeit bezeichnet eine grundlegende und existenzielle Abhängigkeit von Anderen. Noch etwas genauer geht es um unsere Abhängigkeit der Anerkennung durch Andere, die uns als ein ‚Jemand‘ anerkennen müssen, damit wir überhaupt als ein soziales Wesen existieren können. Verletzbar sind wir also, weil wir mit anderen in einem konstitutiven Wechselverhältnis stehen. Dies zum Beispiel, weil uns Andere beim Namen anreden und uns so als Subjekt adressieren, von wo aus wir nun wieder antworten können. Wenn wir nun aber grundlegend von Anderen bzw. der Anerkennung Anderer abhängen, dann sind wir auch immer gefährdet. Denn schließlich gibt es keine Garantie, dass wir anerkennend angesprochen werden. Stattdessen gibt es auch Praktiken der Missachtung, Diffamierung und Beleidigung, die ja gerade nicht auf Anerkennung zielen. Verletzbar sind wir durch solche und weitere, zum Teil gewaltförmige Adressierungen, weil wir uns hiervon nicht etwa abkapseln können. Stattdessen zeichnet sich Sozialität durch eine grundlegende Abhängigkeit von Anderen aus, der wir nicht entkommen können. Damit sind wir als soziale Wesen stets gefährdet – unsere Überlebensfähigkeit hängt von Anderen ab. Doch der Begriff der Verletzbarkeit, wie ihn Judith Butler versteht, ist nicht etwa ein Begriff, der einen Mangel beschreibt. Vielmehr sieht Butler auch ein Potenzial: Denn wenn wir alle anerkennen würden, dass wir Anderen ausgesetzt sind und damit immer auch verletzbar sind, ließe sich auch eine Ethik der Verletzbarkeit formulieren.

    Kontext
    Verletzbarkeit bezeichnet im hier verstandenen Sinne keine Eigenschaft, die Menschen ‚haben‘, sondern es handelt sich um einen Begriff, der vielmehr auf die Beziehungshaftigkeit jedweden Seins – nicht nur von Menschen – verweist. Es geht hierbei darum, wie Subjektivitäten und Körper innerhalb komplexer Beziehungen hergestellt, erhalten oder angegriffen und bedroht werden. Bei diesen Beziehungen geht es nicht nur um intersubjektive Beziehungen zwischen Menschen, sondern auch um Abhängigkeiten von ökonomischen und politischen und selbstverständlich medientechnologischen Bedingungen. Der Begriff ist daher nicht nur wichtig für die Geschlechterforschung, sondern auch für die Politische Theorie – und wie gleich noch erläutert wird: die Medienforschung.

    Bedeutung im Feld ‘Digitale Kultur’
    Verletzbarkeit im digitalen Zeitalter verweist insbesondere auf die Abhängigkeiten von digitalen Medientechnologien sowie ihre ökonomischen und politischen Bedingungen. Wenn wir tagtäglich mit ebendiesen Technologien interagieren und diese die Art und Weise wie wir adressiert und anerkannt werden mitregulieren, dann bedeutet das auch, dass wir im digitalen Zeitalter auf eine spezifische Art und Weise verletzbar sind.

    Dauerkonnektivität und Daueradressierbarkeit in der digitalen Kultur haben eine spezifische Verletzbarkeit zur Folge, da Personen jederzeit und überall angesprochen und adressiert werden können. Auch die Art und Weise wie wir uns darstellen und mit anderen in Kontext treten, wird von digitalen Medientechnologien, insbesondere Plattformen, mitgestaltet. Diese nicht zu nutzen grenzt zugespitzt formuliert sogar zum sozialen Tod. Wir sind also ein Stück weit technologischen Entwicklungen, wirtschaftlichen Überlegungen und den dabei etablierten diskursiven Normen ausgeliefert. Aber wir nutzen diese Technologien auch aktiv, um andere zu adressieren und sind an Prozessen der Anerkennung auch beteiligt. Mit der Etablierung von Social Media Plattformen und weiteren interaktiven Tools entstehen aber auch relativ neue Formen der mediatisierten Missachtung: Personen werden zum Beispiel mithilfe von Memes lächerlich gemacht und diese werden dann mithilfe Sozialer Medien verbreitet; in den Kommentarspalten auf Twitter und Co. finden sich – trotz Content Moderation – immer auch bedrohende oder beleidigende Inhalte usw. Die Verbreitung etwa von diskriminierenden, sensiblen oder gewaltvollen Inhalten wie Hate Speech, Terrorismus, Extremismus, Fake News etc. im Kontext Social Media und darüber hinaus zielt damit auf eine Verletzbarkeit, die uns vor Augen führt, dass digitale Technologien längst schon die Bedingungen unsere Lebens- und sogar Überlebensfähigkeit mitregulieren. Phänomene wie ‚Hate Speech‘ im Netz bzw. mediatisierte Missachtung zeigen, dass die Art und Weise, wie Beleidigungen und Bedrohen artikuliert werden eng an die Funktionsweisen digitaler Technologien gebunden ist. Zugespitzt formuliert: Dass wir von digitalen Zeichen (wie z.B. einem Meme oder oder) im Kontext digitaler Technologien (wie z.B. Social Media) verletzt werden können liegt daran, dass wir alle längst Cyborgs sind, d.h. konstitutiv von ebendiesen Technologien und ihren Zeichensystemen abhängen.

    Abgrenzung zu anderen Begriffen
    Der Begriff der Verletzbarkeit weist im englischsprachigen Original zwei unterschiedliche Begriffsvarianten auf. Butler schreibt zum einen von ‚precariousness‘. Damit ist eine grundlegende Verletzbarkeit im vorher genannten Sinne gemeint. Zudem gibt es aber auch noch den Begriff ‚precarity‘, also im Deutschen: Prekarität. Der Begriff ‚precarity‘ oder eben Prekarität meint dabei nicht nur eine grundlegende Verletzbarkeit, sondern verweist darauf, dass Verletzbarkeiten ungleich verteilt sind. So sind insbesondere marginalisierte Gruppen von Diskriminierungen im Netz und gezielten Angriffen stärker betroffen als andere.

    Julia Fischer & Jun.-Prof. Dr. Jennifer Eickelmann, Interdisziplinärer Arbeitsbereich der Fakultät für Kultur- und Sozialwissenschaften (Lehrgebiet Digitale Transformation in Kultur und Gesellschaft)

    Audioglossar Verletzbarkeit

    Zum Weiterlesen
    Zur Einführung: Paula-Irene Villa mit dem Titel „Judith Butler. Eine Einführung, erschienen im Campus Verlag, hier insbesondere Kapitel 6.

    Auf dieser Grundlage dann Judith Butlers Werk „Haß spricht. Zur Politik des Performativen“, erschienen im Suhrkamp Verlag.

    Mit Blick auf das Feld Digitale Kultur: Der Text mit dem Titel „Verletzbarkeit im Netz – zur sexistischen Rhetorik des Trollens“, erschienen in der Zeitschrift Feministische Studien Heft 29, Nummer 2, Seite 232-247 (online verfügbar) und das Buch „Hate Speech' und Verletzbarkeit im digitalen Zeitalter. Phänomene mediatisierter Missachtung aus Perspektive der Gender Media Studies“ von Jennifer Eickelmann, 2017 im transcript Verlag erschienen.

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  • Weiß ist keine Farbe, sondern eine Strukturposition in einer rassistischen Ordnung. Weiß bezeichnet jene Position, die in sozialen Ordnungen, in denen Rassismus herrscht, gerade nicht von Rassismus betroffen ist. Diejenigen, die keine Erfahrungen mit rassistischer Diskriminierung machen, profitieren also von eben dieser Ordnung, weil sie ihnen viele Türen öffnet und Möglichkeiten bereithält, die rassifizierten Menschen verschlossen sind. In diesem Sinne gibt es weiße Privilegien, die im Wesentlichen darin bestehen, nicht von Rassismus betroffen zu sein. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass Weiß nicht nur keine Hautfarbe ist, sondern ebenfalls keine individuelle Zuweisung von Schuld beinhaltet. Ob ich von einer rassistischen Ordnung profitiere, hängt von vielen Faktoren ab, und zweifellos nicht nur von meiner Hautfarbe. Das bedeutet auch, dass Weiße nicht zwangsläufig Rassisten sein müssen, aber es impliziert, dass ich in einer rassistischen Ordnung als Weißer von dieser profitiere, ob ich nun persönlich rassistische Einstellungen mit mir herumtrage oder nicht.

    Da es sich beim Weiß-Sein um eine Strukturkategorie und nicht um eine individuelle Eigenschaft handelt, kann sie, wie andere ähnliche Kategorien auch, erforscht werden. In diesem Sinne haben sich in den letzten Jahrzehnten vor allem im angelsächsischen Raum Critical Whiteness Studies entwickelt, die historisch, situativ und milieuspezifisch untersuchen, wie sich weiße Blicke, Handlungen und Wahrnehmungen artikulieren. Auf Deutsch steht diese Forschung noch in den Anfängen; und einen gelungenen Ausdruck hat man dafür auch noch nicht gefunden. Vorläufig lautet die Bezeichnung: Kritische Weißseinsforschung.

    Prof. Dr. Thomas Bedorf, Institut für Philosophie (Lehrgebiet Praktische Philosophie: Technik, Geschichte, Gesellschaft)

  • white Privilege, dt.: weißes Privileg meint die unverdienten Vorteile, Möglichkeiten und Ansprüche, die Menschen allein deshalb erfahren, weil sie weiß sind und keinen Rassismus erfahren. Das Konzept entwickelte der US-amerikanische Wissenschaftler Theodore W. Allen im Rahmen der Bürger:innenrechtsbewegung. Das Erhalten dieser Privilegien wird von weißen Menschen in der Regel weder bewusst wahrgenommen noch hinterfragt. Die US-amerikanische Wissenschaftlerin und Aktivistin Peggy McIntosh beschrieb weiß-Sein als „invisible knapsack“, also unsichtbaren Rucksack, der angefüllt ist mit Vorteilen, die betreffende Personen jeden Tag aufs Neue unbewusst nutzen. Vorteile des weiß-Seins sind es beispielsweise, nicht ständig nach der Herkunft gefragt zu werden, auf dem Arbeits- oder Wohnungsmarkt nicht strukturell benachteiligt zu werden oder seltener grundlos von der Polizei kontrolliert zu werden (racial profiling). Diese Vorteile ergeben sich daraus, dass weiß-Sein in unserer Gesellschaft als Norm gilt und alles Nicht-weiße als Abweichung. Daraus ergibt sich auch das Privileg, dass sich weiße Menschen nicht mit Rassismus beschäftigen müssen, weil sie ihn nie erfahren, während BIPoC dies ständig müssen.

    Gundula Pohl, Historisches Institut (Lehrgebiet Public History)

    Literatur: Theodore W. Allen: Class Struggle and the Origin of Racial Slavery: The Invention of the White Race. New York 1975.
    Peggy McIntosh: White Privilege: Unpacking the Invisible Knapsack, in: Peace and Freedom Magazine, July/August, 1989, pp. 10-12
    Charles W. Mills: White supremacy. In Tommy Lee Lott & John P. Pittman (eds.), A Companion to African-American Philosophy. Blackwell 2003.

  • Das Wort Woke ist ein Begriff aus dem African American Vernacular English (AAVE), einem Dialekt der Schwarzen Communities in den USA. Grob übersetzt bedeutet Woke aufmerksam oder wachsam. Das Wort Woke wird genutzt, um Wachsamkeit und Informiertheit in Bezug auf strukturellen Rassismus und rassistisch motivierte Gewalt zu bezeichnen. Darüber hinaus hat es einen Status erreicht, in dem es synonym mit linksliberalen Ideen und Grundsätzen verwendet wird. Ursprünglich stammt der Begriff aus den USA, aber ist heute auch global bekannt genutzt.

    An dem Konzept der „Wokeness“ gibt es sowohl aus konservativen als auch aus linken Seiten Kritik. Aus konservativer Sicht ist Wokeness das Aufzwingen von liberalen Idealen auf die Gesellschaft. In Deutschland wird diese Kritik häufig im Zusammenhang mit dem Gendern geäußert.

    Aus linker Perspektive wird Wokeness eher als eine oberflächliche und unzureichende Beschäftigung mit rassistischen Strukturen definiert. Es wird kritisiert, dass vor Allem weiße Menschen sich darauf ausruhen, zu wissen, dass es strukturellen Rassimus gibt, anstatt sich mit der eigenen Position in diesen Strukturen zu beschäftigen und aktiv gegen diese vorzugehen.

    Dr. Lea Barbett, Fakultät für Psychologie (Lehrgebiet Community Psychology)

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  • Zugehörigkeit bezeichnet aus sozialpsychologischer Perspektive das Ausmaß, in dem jemand von anderen aus einem sozialen Kontext/einer Gruppe umsorgt wird und sich mit ihnen verbunden fühlt (Baumeister & Leary, 1995; Ryan & Deci, 2002). Zugehörigkeit ist eines von drei psychologischen Grundbedürfnissen, die unter anderem eine Voraussetzung für erfolgreiches Lernen, für mentale Gesundheit und für Wohlbefinden darstellen (Ryan, 2023).

    Mai Grundmann, CATALPA – Center of Advanced Technology for Assisted Learning and Predictive Analytics (Nachwuchsgruppe Stereotype Threat)

    Baumeister, R. F., & Leary, M. R. (1995). The need to belong: Desire for interpersonal attachments as a fundamental human motivation. Psychological Bulletin, 117(3), 497–529.
    Ryan, R. M. (Ed.). (2023). Oxford handbooks. The Oxford handbook of self-determination theory. Oxford University Press.
    Ryan, R. M., and Deci, E. L. (2002). “Overview of self-determination theory: an organismic dialectical perspective,” in Handbook of Self-determination Research, eds R. M. Ryan and E. L. Deci (Rochester, NY: The University of Rochester Press).

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Natascha Compes | 09.04.2024