Postkolonialer Lernort

In gelber Schrift auf dunkelrotem Grund steht: Was hat Kolonialismus mit mir zu tun? Bild: privat

Auch wenn die Vorsilbe ‚post‘ darauf zu verweisen scheint, dass es sich beim Postkolonialismus um eine Epoche handeln könne, mit deren Einsetzen der Kolonialismus und seine Auswirkungen abgeschlossen sind, so wirken doch Langzeiteffekte kolonialer Herrschaftssysteme bis in unsere Gegenwart hinein. In Anlehnung an Stuart Hall (2002) gilt es also nicht nur zu fragen: „Was ist Postkolonialismus?“, sondern auch: „Wann ist Postkolonialismus?“

Neben dem „Wann“ von Postkolonialismus stellt sich aber auch die Frage des „Wo“. Der Blick postkolonialer Theorie richtet sich nicht nur auf (ehemals) Kolonisierte, sondern auch auf die Kolonisator*innen, die nicht unabhängig voneinander betrachtet werden können.

Da insbesondere Bildung Strategie und Instrument kolonialer Machterhaltung darstellte, müssen auch Universitäten sich einer kritischen Betrachtung stellen — und nicht nur das Curriculum muss dekolonisiert werden — sondern, wie im vorliegenden Fall, auch der physische Raum.

Die Buntglasfenster aus dem alten Hagener Husselgebäude, die eine stilisierte Kaffeepflanze und zwei Kaffee pflückende indigene Frauen abbilden, wurden aufgehängt, um anhand der Bilder in einer Alltagssituation auf die Verflechtungen von Stadt und Kolonialstrukturen hinzuweisen und für Themen wie global justice zu sensibilisieren. Die Bilder stehen in einer kolonialen Tradition und repräsentieren einen äußerst gewaltvollen Abschnitt der Geschichte. Um den kolonialen Blick auf die Kaffeepflückerinnen und rassistische wie sexistische Stereotype nicht zu reproduzieren, wurde das Bild inzwischen verfremdet.

In der dem vorangegangen Auseinandersetzung und Diskussion um den Umgang mit den Bildern haben sich unterschiedliche gleichberechtigt nebeneinanderstehende Perspektiven gezeigt, die auf die Komplexität, Vielschichtigkeit und die Verwicklungen im Umgang mit Gegenständen mit Kolonialismusbezug hinweisen. So können die Bilder einerseits irritieren und eine Befassung mit Themen wie Kolonialismus und Rassismus und damit Lernprozesse anregen. Es besteht andererseits die Gefahr, bestehende gesellschaftliche Machtverhältnisse und damit einhergehende Verletzungen zu reproduzieren. Es geht bei der Ausstellung der Bilder daher nicht darum, eindeutig „Gutes“ und „Wohlmeinendes“ zu inszenieren, sondern um eine offene diskursive Auseinandersetzung und die Schaffung von Diskussionsbedingungen, die Perspektivdivergenz ermöglicht. Es ist das Hinterfragen von Verhältnissen, das Aufdecken von Widersprüchen und das Fragen ohne vorgegebene Antworten, um das es hier gehen soll.

  • Hall, Stuart (2002). Wann gab es „das Postkoloniale“? In: Conrad, Sebastian & Randeria, Shalini (Hrsg.), Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften. Frankfurt a.M., New York: Campus.

 

Die Geschichte der „Hussel-Fenster“: Ein postkolonialer Lernort auf dem Campus der FernUniversität in Hagen

Schwarz-weiß-Fotografie der Hussel Firmenzentrale aus dem Jahr 1957 von der gegenüberliegenden Straßenseite aus fotografiert. Vor dem Gebäude stehen VW-Käfer und VW-Bullis, mit dem Firmenlogo versehen, in einer Reihe geparkt. Foto: Linnepe Verlagsgesellschaft
Abb.: Hussel-Firmenzentrale an der Eilper Straße (aus: Berichte und Bilder aus der Geschichte und dem Leben der Stadt Hagen, 1957, v. d. Linnepe Verlagsgesellschaft). Das Fenster mit den Kaffeepflückerinnen war im ersten Stock über dem mittigen Haupteingang.

Die montierten Kaffeepflückerinnen-Fenster sind Buntglasfenster, die in Anlehnung an ihren ursprünglichen Standort häufig auch „Hussel-Fenster“ genannt werden. Bis 2020 waren sie im Treppenhaus der einstigen Verwaltungszentrale der Firma Hussel GmbH verbaut. Dort gehörten sie zu einem umfassenden Ensemble und ergänzten ein großformatiges Triptychon, das eine Kaffeeverlade-Szenerie zeigt und optisch den Konferenzraum der Firmenzentrale beherrschte. Dieses großformatige Buntglasbild hängt seit Dezember 2020 im Hagener Café Handwerk, Dödterstr. 10, versehen mit einer kontextualisierenden und kritisch kommentierenden Text-Tafel.

Die Gebäude der Hussel-Zentrale waren zu Beginn der 1950er Jahre an der Eilperstr. 115-121 in Hagen entstanden. Der Bauherr und Unternehmensgründer Rudolph Hussel (1913-1997), der als Süßwarenspezialist auch mit sogenannten Kolonialwaren handelte, hatte damals entschieden, seine Zentrale mit einem Interieur auszustatten, das seinen Handelsaktivitäten entsprach und zugleich die Exklusivität seines Berufsstandes wie auch seiner Person repräsentierte. Dazu beauftragte er unter anderem den aus Düsseldorf stammenden Maler Hans Slavos (1900-1969), der in Hagen vor allem öffentlichkeitswirksam „Kunst am Bau“ schuf, vor allem großformatige Putzbilder an Fassaden (Sgrafitti) und Buntglasfenster. Slavos entwarf insgesamt sechs unterschiedlich große, z.T. zusammengehörige, mosaikartig zusammengesetzte Glasbilder zum Thema Kaffee, die von dem Hagener Kunstglaser Kurt Swiatkiewicz, Slavos‘ Bruder, in Haspe gefertigt wurden. Das zweiteilige Kaffeepflückerinnen-Fenster zeigt im unteren Teil zwei indigene Kaffeepflückerinnen. Sie transportieren Körbe mit Kaffeefrüchten auf ihren Köpfen. Die eine trägt einen rötlichen Wickelrock und ist barbusig, die andere ein weiß-gelbes Wickelkleid. Beide Figuren tragen auffälligen Halsschmuck und weiße Blüten im Haar. Das Oberlicht zeigt farbkräftig pflanzenartige Formen, die abstrakt erscheinen und nicht näher bestimmbar sind.

Wie auch das Triptychon ist dieses zweiteilige Glaskunstbild zutiefst exotistisch. Die Figuren sind ohne individuelle Merkmale, gleichwohl aber mit einer deutlich rassistischen und z.T. auch sexistischen Attitüde gestaltet. Als seltenes Beispiel verbauter kolonialweltlicher Werbung verdeutlicht es zeittypische eurozentrische Alteritäts-Fantasien und rassistische Diskurse. Zudem dokumentiert es eine (post)koloniale Facette in der Hagener Stadtgeschichte, die bisher nicht bedacht, ignoriert oder vergessen wurde. Folglich ist es ein Lernort für globale Thematiken und postkoloniale Perspektiven. In dieser Funktion verweist es z.B. auf:

  • die Verbindung zwischen Exotismus und konkreten Wirtschaftsabläufen vor der eigenen Haustür
  • die Verbindung einer bekannten Hagener Firma mit in der Öffentlichkeit oft verdrängten Abhängigkeiten und Asymmetrien im Welthandel
  • die Relevanz der Handelsware Kaffee in der Wirtschaftsgeschichte Hagens wie auch der bundesrepublikanischen „Wirtschaftswunderjahre“
  • die Persistenz rassistisch geprägter Stereotype
  • die Tatsache, dass in El Salvador auch lange nach seiner formalen Unabhängigkeit (1821!) die wirtschaftliche Ausbeutung andauert

Der Ausbau und Erhalt der „Hussel-Fenster“ erfolgte auf Initiative des Hagener Heimatbundes und der FernUniversität in Hagen. Die profane Glasmalerei ist eine wenig beachtete Kunstform, die in Hagen eine große zeitliche Spannbreite aufweist.

Text: Barbara Schneider

 

Informationen rund um die Berichterstattung zum Lernort zur postkolonialen Geschichte finden Sie hier:

Statement der FernUniversität zur Diskussion um den postkolonialen Lernort Meldung vom 25. Oktober 2023

Aktuelle Meldung vom 16. Oktober 2023 Lernort zu postkolonialer Geschichte: Ein anderer Blick auf Bilder vom Kaffee

Eine Fotografie der Fensterbilder, im Vordergrund sind Blätter einer Pflanze zu sehen, rechts im Bild eine gelbe Stehlampe und links im Hintergrund leicht verschwommen, die Hussel-Fensterbilder, eines hinter einer Milchglasscheibe. Foto: FernUni
 

Für das kommende Semester ist eine öffentliche Diskussionsreihe im partizipativen Werkstattcharakter zum Umgang mit den Hussel-Buntglasfenstern geplant.
Wir werden Sie in Kürze dazu informieren und freuen uns über Ihre Beteiligung!

  • Was haben die Bilder mit Hagen zu tun?
  • Was heißt Kolonialismus?
  • Und was ist postkolonial?
  • Was ist Neokolonialismus?
  • Was ist dekoloniales Ausstellen?
  • Welche Konflikte und globale Ungleichheitsfragen lassen sich an den Bildern ablesen?
  • Und warum ist es wichtig, sich damit auseinanderzusetzen?

Kommentare, Fragen oder Anregungen können an hagen.postkolonial[at]outlook.de geschickt werden.

Ein Foto eines Aufstellers vor den Hussel-Buntglasfenstern. Er enthält den hier neben dem Foto eingefügten Text. Foto: privat
 

Literatur zum (Ver-)Lernen

Eine Fotografie der Büchervitrine mit Büchern darin. Foto: privat

Die Büchervitrine befindet sich in Gebäude 3 (Ellipse), im Erdgeschoss, links gegenüber dem Aufzugsschacht. In der Vitrine wird unterschiedlichste Literatur zu den Themen (Post-)Kolonialismus, Rassismus und postmigrantische Gesellschaft zur Verfügung gestellt. Der Bestand ist im Wachsen, es lohnt sich also immer mal wieder reinzuschauen. Buchspenden zu den Themen sind herzlich willkommen!

Für alle, die den Lernort nicht persönlich aufsuchen können, haben wir hier die dort ausgelegte Literatur zusammengestellt. Teilweise sind die Bücher im Bestand der Bibliothek als Online-Ressourcen vorhanden, bei ausschließlich lokal vorhandenen Exemplaren haben wir den Standort verlinkt.

Literaturliste öffnen

  • Monografien
  • Arndt, Susan (2012). Die 101 wichtigsten Fragen - Rassismus. Germany: C.H.Beck. (lokal im Bibliotheksbestand vorhanden)
  • Amjahid, Mohamed (2021). Der weiße Fleck: eine Anleitung zu antirassistischem Denken. 2. Aufl. Germany: Piper. (lokal im Bibliotheksbestand vorhanden)
  • Conrad, Sebastian (2012). German Colonialism: A Short History. United Kingdom: Cambridge University Press. (Auf Englisch online im Bibliotheksbestand verfügbar)
  • Gründer, Horst; Hiery, Herrmann. (2022). Die Deutschen und ihre Kolonien. Germany: be.bra verlag. (online im Bibliotheksbestand verfügbar)
  • Kopp, Christian; Kwesi Aikins, Joshua (2016). Stadt neu lesen: Dossier zu kolonialen und rassistischen Straßennamen in Berlin. Germany: BER. (lokal im Bibliotheksbestand vorhanden)
  • Wolter, Stefanie (2005). Die Vermarktung des Fremden. Exotismus und die Anfänge des Massenkonsums. Frankfurt am Main/New York. (lokal im Bibliotheksbestand vorhanden)
  • Herausgeber*innenwerke
  • AfricAvenir International e.V., Mareike Heller (Hrsg.). No Humboldt 21! – Dekoloniale Einwände gegen das Humboldt-Forum. (nicht im Bibliotheksbestand vorhanden, kann über Fernleihe entliehen werden)
  • Doris Antonides-Heidelmeyer, Julia Binter, Christine Howald, Ilja Labischinski, Birgit Sporleder und Kristin Weber-Sinn (Hrsg.) (2022). Em || power || relations – A booklet on postcolonial provenance research in the permanent exhibitions of the Ethnologisches Museum and the Museum für Asiatische Kunst at the Humboldt Forum. (online verfügbar)
  • May Ayim, Katharina Oguntoye, Dagmar Schultz (Hrsg.) (2021). Farbe bekennen – Afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte. (1. Auflage von 1989 lokal im Bibliotheksbestand vorhanden, aber derzeit nicht verfügbar)
  • glokal (2017). Connecting the Dots – Lernen aus Geschichte(n) zu Unterdrückung und Widerstand. (Teilweise online verfügbar)
  • Marianne Bechhaus-Gerst, Joachim Zeller (Hrsg.) (2018). Deutschland postkolonial? Die Gegenwart der imperialen Vergangenheit. Germany: Metropol. (lokal im Bibliotheksbestand vorhanden)
  • Karin Hostettler, Sophie Vögele (Hrsg.) (2014). Diesseits der imperialen Geschlechterordnung: (post-)koloniale Reflexionen über den Westen. Germany: Transcript. (online im Bibliotheksbestand verfügbar)
  • Barbara Schneider, Fabian Fechner (Hrsg.) (2021). Fernes Hagen - Kolonialismus und wir. Germany: FernUniversität. (lokal im Bibliotheksbestandvorhanden)
 

Weitere Informationen

Das Projekt "Die Stadt Essen und der Kolonialismus" entstand an der Universität Duisburg-Essen im Rahmen von Seminaren der Postcolonial Studies, die sich seit 2016 dem Umgang mit Kolonialismus und kulturellem Erbe widmen. Im Mittelpunkt steht der Umgang mit human remains und indigenen Artefakten in Museen der anglophonen Welt (British Museum, National Museum of Australia), aber auch die Debatte über Kolonialismus und Repatriation in Deutschland am Beispiel des Humboldt Forums.

Die Stadt Essen und der Kolonialismus


Das e-Learning-Tool connecting the dots zu postkolonialen und machtkritischen Perspektiven auf Geschichte von glokal zeigt Leerstellen der hegemonialen Geschichtsschreibung auf, indem es zahlreiche aufschlussreiche Zitate von Menschen aus vielen Epochen, Erdteilen und mit vielfältigen gesellschaftlichen Perspektiven (in Bezug auf Klasse, Geschlecht, Sexualität und Rassifizierung) sammelt. Die gleichnamige Broschüre connecting the dots zeigt Methoden, um die Zeitstrahlzitate anzuwenden und Hintergrundtexte zu einzelnen Zeitstrahlthemen zu finden.

Mit dem eLearning Tool connecting the dots soll vor allem Stimmen einen Platz gegeben werden und hörbar gemacht werden, die in der hegemonialen Geschichtsschreibung zum Schweigen gebracht wurden.

Zum e-Learning-Tool connecting the dots

Chancengerechtigkeit | 09.04.2024