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Blick auf die Bildungszukunft – das Team Learning Science im Interview

[05.08.2025]

Künstliche Intelligenz zwingt uns, Bildungsprozesse neu zu denken. Gleichzeitig gibt es noch große Forschungslücken. Dr. Florence Lehnert und Daiana Rinja aus dem Team der Forschungsprofessur Learning Sciences wollen genau in diesem Spannungsfeld an neuen Erkenntnissen mitwirken und mitgestalten. Im Interview wagen sie einen Blick in die Zukunft mit uns.


Workshop JTEL Summerschool Foto: Privat

Seit Anfang dieses Jahres gibt es die Forschungsprofessur Learning Science in Higher Education unter der Leitung von Prof. Dr. Marcus Specht bei CATALPA. Florence, du bist als Postdoktorandin und du, Daiana, als Doktorandin von Anfang an dabei. Woran arbeitet ihr im Bereich Learning Sciences?

Florence Lehnert: Ich beschäftige mich mit der Frage, wie sich Bildung im Zeitalter der KI transformieren könnte. Wir versuchen mit Zukunftsforschung, insbesondere mithilfe von Design Fiction, besser zu verstehen, welche Visionen, Ängste und Hoffnungen verschiedene Akteursgruppen mit KI verbinden und wie diese Zukunftsbilder bereits heute unser Denken und Handeln beeinflussen. Die zentrale Frage: Wie können wir Bildungszukünfte nicht nur denken, sondern aktiv mitgestalten?

Design Fiction

Design Fiction ist eine spekulative Designpraxis, die mithilfe von narrativen Elementen und prototypischen Artefakten alternative Zukunftsszenarien entwirft und zur Diskussion stellt. Anders als Design Thinking, das auf nutzerzentrierte Lösungen für heutige Probleme fokussiert, zielt Design Fiction auf die Auseinandersetzung mit möglichen Zukünften – um bestehende Annahmen zu hinterfragen und neue Perspektiven auf Technologie und Gesellschaft zu ermöglichen.

Daiana Rinja: Ich befasse mich mit Selbstregulation im Kontext von KI-gestützten Lernumgebungen. ChatGPT, Claude, Gemini – generative KI wird von vielen Studierenden bereits breit eingesetzt und hat einen Einfluss auf lernessenzielle Kompetenzen. Ich untersuche, wie wir KI-gestützte Lernumgebungen so gestalten können, dass diese Kompetenzen unterstützt werden.

Steigt mit uns doch mal etwas tiefer ein. Wie seid ihr diese Themen seit eurem Start bei CATALPA angegangen?

Florence Lehnert: Die Zukunftsforschung war für mich zunächst Neuland und doch fühlte sie sich erstaunlich vertraut an, da sie in vielerlei Hinsicht an Design Thinking anschließt, was ich innerhalb von CATALPA vertrete und was auch zu meinem beruflichen Hintergrund passt.

Beide Methoden setzen bei komplexen Herausforderungen an, unterscheiden sich jedoch in ihrer Stoßrichtung:

  • Design Thinking versucht, gegenwärtige Probleme durch nutzerzentrierte, iterative Prozesse zu lösen – etwa mit der Leitfrage: „Wie können wir das Online-Lernerlebnis für Studierende verbessern?“
  • Design Fiction hingegen wagt den Blick nach vorn. Sie provoziert und hinterfragt unsere gegenwärtigen Annahmen, indem sie spekulative Zukunftsszenarien entwirft – z. B.: „Was wäre, wenn Universitäten nicht mehr lehren, sondern nur noch personalisierte Lernräume verwalten?“
Designfictionworkshop Kl2Foto: Privat

Ich habe mich bewusst für Design Fiction entschieden, weil diese Methode besonders geeignet ist, die komplexen Wechselwirkungen von KI und Bildung sichtbar, erfahrbar und diskutierbar zu machen. In Workshops mit unterschiedlichen Stakeholdern entwickeln wir gemeinsam spekulative Szenarien für eine zukünftige Bildungslandschaft mit KI, die von utopischen bis hin zu dystopischen Szenarien reichen. Diese dienen dann wiederum als Reflexionsräume, um Chancen, Risiken und Handlungsoptionen im Umgang mit KI zu erkunden.

Auf der JTEL Summer School haben wir zum Beispiel einen Workshop mit internationalen Nachwuchsforschenden gemacht. Sie entwickelten Storyboards, die zentrale Herausforderungen der Bildung thematisierten – und die Rolle von KI darin. Die entstandenen Szenarien reichten von befreiten antiken Lehrkräften, die die letzte Instanz von Moodle offenbaren, über kybernetische Schutzburgen als letzte Zuflucht der Menschheit bis hin zu Konzernen, die Studierende wie Angestellte behandeln. Diese fiktiven Geschichten halfen dabei, tiefere Fragen greifbar zu machen, wie etwa: Wer gestaltet Bildung in Zukunft, und welche Rolle bleibt dem Menschen im Lernprozess?

Im Herbst folgen weitere Workshops, bei denen Studierende mit Unterstützung von KI eigene Zukunftsszenarien co-kreieren und diese künstlerisch visualisieren.

Daiana Rinja: Ich habe mich nach meinem Start erstmal in die Literature Reviews vertieft und andere empirische Studien zum Zusammenhang von KI und Selbstregulation erfasst. Ich wollte mir ein Bild davon verschaffen, was wir bisher wissen. Dabei interessieren mich vor allem Konzepte wie Meta-Kognition, also die Fähigkeit, das eigene Lernen zu planen und Stärken und Schwächen im Lernprozess mit Problemlösung zu begegnen, oder Help Seeking, also das aktive Suchen von Hilfe. Generative KI ist mittlerweile nicht mehr neu, aber in Bezug auf Lernen, auf die Auswirkungen von KI in Bildungsfragen werden gerade erste Studien publiziert. Wir wissen noch nicht genau, welche langfristigen Auswirkungen das Lernen mit KI auf Fähigkeiten hat, die essenziell für das Lernen sind. Ein zentraler Punkt dabei ist das sogenannte cognitive off-loading, also Übertragung von Denkaufgaben an externe Hilfsmittel wie KI-Systeme, um unsere geistige Belastung zu reduzieren. Die spannende Frage ist: Was passiert, wenn wir zunehmend Problemlösungsfähigkeiten an KI-Agenten wie ChatGPT delegieren?

Ein gutes Alltagsbeispiel dafür sind Navigationssysteme. Sie haben unsere Effizienz im Straßenverkehr zweifellos erhöht. Wir kommen schneller und stressfreier ans Ziel. Gleichzeitig zeigen Studien, dass sich dadurch unsere Fähigkeit zur räumlichen Orientierung verschlechtert hat, weil wir diesen kognitiven Prozess an die Technologie abgegeben haben.

Wie seid ihr zu euren Forschungsinteressen und letztlich zu CATALPA gekommen?

Lehnert RinjaFoto: Hardy Welsch/Privat
Florence Lehnert und Daiana Rinja

Florence Lehnert: Bevor ich zu CATALPA kam, war ich an der Universität Luxemburg in der Forschungsgruppe für Human-Computer Interaction tätig, wo ich promovierte und gemeinsam mit dem französischen Bildungsministerium an der Weiterentwicklung von E-Assessment-Systemen für Kinder gearbeitet habe. Fokus meiner Forschung war das Messen und Evaluieren des Nutzungserlebnisses von jungen Kindern, insbesondere im Vorschulalter. Es ging darum, geeignete Methoden zur UX-Evaluation bei Kindern zu finden.

Meinen psychologischen Hintergrund habe ich später durch eine Designperspektive im postgradualen Programm User-System Interaction an der Technischen Universität Eindhoven erweitert. Für mich ist die Verbindung aus Psychologie, Design und Technik mehr als ein methodisches Zusammenspiel, das sich aus meinem Werdegang ergeben hat. Sie ist der zentrale Leitgedanke, mit dem ich komplexe Bildungsfragen im digitalen Zeitalter angehe.

Daiana Rinja: Ich habe meinen Master in Educational Technology gemacht und war danach als Learning Experience Designerin tätig. Dort habe ich die Entwicklung des Curriculums geleitet und an der Schnittstelle zwischen Technik und Learning Sciences gearbeitet. Mich hat es aber irgendwann zurück zum Akademischen getrieben, weil ich mich tiefer mit Fragestellungen auseinandersetzen wollte, die in der Wirtschaft zu kurz kommen. Dann lief mir irgendwann die Stelle bei CATALPA über den Weg und passte genau in meinen Plan.

In die Zukunft geblickt: Wenn ihr euch einen praktischen Impact eurer Forschung und Erkenntnisse wünschen könntet, was wäre das?

Florence Lehnert: Mein Ziel ist es nicht nur, Räume für kritisches Zukunftsdenken zu denken, sondern sie konkret zu schaffen – und Bildungsakteur*innen darin zu bestärken, aktiv, reflektiert und partizipativ an der Gestaltung von Bildung im KI-Zeitalter mitzuwirken. Hierfür eröffnen beispielsweise die spekulativen Fiktionen Möglichkeitsräume und helfen dabei, Zukunftsbilder sichtbar, erfahrbar und diskutierbar zu machen.

Gleichzeitig wird meine Zukunftsforschung zunehmend durch das aktive Experimentieren mit neuen Technologien ergänzt. In einer gerade gestarteten internationalen Kollaboration werden wir den Einsatz immersiver Technologien wie Virtual und Augmented Reality im Bildungskontext erproben. Dabei interessieren uns sowohl didaktische als auch ethische Fragestellungen: Wie lassen sich immersive Umgebungen so gestalten, dass sie Lernende motivieren, herausfordern und einbinden? Welche Kompetenzen werden in solchen Settings gefördert, und welche möglicherweise unterdrückt? Welche Risiken gilt es zu beachten?

Durch diese Verbindung von kritischer Reflexion und experimenteller Praxis möchte ich dazu beitragen, dass technologische Entwicklungen nicht einfach über die Bildung hereinbrechen, sondern gemeinsam mit Bildungsakteur*innen gestaltet werden – menschenzentriert, verantwortungsvoll und mit Blick auf die Bildungszukunft von morgen.

Daiana Rinja: Ich möchte gerne an Design-Prinzipien für den Einsatz von KI-Agenten für Bildung mitwirken. Mir ist es vor allem wichtig, dass Studierende und Lehrende von neuen Technologien und dem Einsatz von KI profitieren und diese pädagogisch sinnvoll zum Einsatz kommen.

Sandra Kirschbaum | 06.08.2025