Seiten vom Staub befreien
Sind Lehrbücher noch zeitgemäß? Darum geht es bei einer Podiumsdiskussion am 16. März, online und vor Ort in Hagen. Soziologieprofessor Frank Hillebrandt erklärt die Ausgangslage.
Kiloweise Papier voller unumstößlicher Weisheiten eines allwissenden Autors – genau so sollte ein gutes Lehrbuch nicht aussehen, findet Soziologe Prof. Dr. Frank Hillebrandt von der FernUniversität in Hagen. Um die Frage, wie sich soziologische Theorie in zeitgemäßer Form vermitteln lässt, dreht sich am 16. März eine öffentliche Podiumsdiskussion auf dem Hagener Campus. Im Gespräch sind Cori Mackrodt, Cheflektorin für Soziologie beim Verlag Springer VS, Paula-Irene Villa Braslavsky, Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, Master-Studentin Soziologie Petra Bruns und Frank Hillebrandt. FernUni-Habilitandin PD Dr. Franka Schäfer (Universität Siegen) moderiert die Runde. Interessierte können vorbeikommen oder sich online zuschalten.
Anlass für die geballte soziologische Expertise auf dem Campus ist ein gemeinsames Projekt von Franka Schäfer und Frank Hillebrandt: Derzeit arbeiten sie an einem eigenen vierbändigen Lehrbuch zur Einführung in die Soziologie. Mit der Podiumsdiskussion möchten sie zugleich in die öffentliche Debatte einsteigen. Und sich für bestimmte Grundsätze stark machen: „Uns ist es wichtig, dass unsere Reihe auf jeden Fall auch digital verfügbar sein wird. Das ist der einzige Weg, so ein Lehrbuch am Start zu halten.“ Bücher nur gedruckt anzubieten, das reiche heutzutage nicht mehr aus – vor allem nicht im Kontext der Fernlehre.
Kontroversen statt Kontinuität
Neben dieser formalen Seite muss sich auch die Art ändern, wie Lehrinhalte präsentiert werden, findet Hillebrandt: „Soziologie als lineare Entwicklung vom 19. Jahrhundert bis heute zu erzählen, das ist nicht unser Ding! Alles, was in einem Lehrbuch besprochen wird, ist immer bedingt von den Problematiken der Gegenwart.“ Theorien passen sich eben an das an, was gesellschaftlich vor sich geht und relevant ist. „Ein gutes Beispiel ist der Marxismus“, bezieht sich der Forscher auf eine einflussreiche Denkschule „Er hat sich über Jahrhunderte hinweg immer wieder weiterentwickelt und verändert.“ Weil alles im Fluss ist, dürfe ein Kompendium auch keinen Anspruch auf alleinige und ewige Gültigkeit erheben. Vielmehr sollte es den Wandel als Grundvoraussetzung begreifen und verschiedene Sichtweisen einnehmen. „Soziologie zeichnet sich nicht durch Kontinuität aus, sondern eben durch Brüche, Kontroversen und Ambivalenzen.“
Selbstkritisch hinterfragen
„Wir wollen unser Buch offenhalten, möglichst divers und postkolonial an die Sache herangehen“, betont Hillebrandt deshalb mit Blick auf das eigene Projekt. „Postkolonial“, das heißt unter anderem, die eigene Perspektive selbstkritisch zu hinterfragen. Zu viele westliche Menschen hätten in der Vergangenheit die Welt erklärt, ohne in einen echten Dialog mit ihr zu treten. „Max Weber saß an seinem Mahagoni-Schreibtisch in Jena, Heidelberg und zuletzt in München, und er hat auf vielen hundert Seiten beschrieben, wie es in Indien läuft. Dabei war er niemals dort“, so Hillebrandt über einen der Gründungsväter seines Fachs um 1900. Aber auch bei jüngerer Literatur sieht er Abnutzungserscheinungen: „Wenn wir nicht dranbleiben und Lehrbücher immer neugestalten, liest sie irgendwann niemand mehr.“
FernUni von jeher gut aufgestellt
Zumindest habe die FernUniversität viel Erfahrung darin, gute Texte zu entwickeln. „Darauf können wir als FernUni stolz sein: Die Autor:innen-Liste unserer soziologischen Lehrbriefe liest sich wie das Who’s Who des Fachs seit 1970.“ Schon lange setzt die Hagener Fernlehre solche klassischen Materialen geschickt mit anderen Angeboten in Beziehung – Stichwort Blended-Learning. „Man kann einen Lehrbrief mit ganz vielen Sachen anreichern: Hinweisen zu digitalen Angeboten, Internetquellen und so weiter“, verweist der Professor auf die multimediale FernUni-Didaktik. „Das Lesen sollte aber nicht außen vor bleiben. Lehre nur via Video, das reicht eben nicht.“ Umso mehr freut sich Hillebrandt auf die lebhafte Diskussion darüber, wie gute Texte zum Einsatz in der akademischen Lehre im Jahr 2023 aussehen sollten.