Waldorfpädagogik: Wie kommt sie weltweit an?

Waldorfschulen gibt es nicht nur in Deutschland, sondern inzwischen auf der ganzen Welt. FernUni-Bildungsforschende haben verschiedene internationale Sichtweisen zusammengestellt.


Kind tanzt eurythmisch mit bunten Tüchern Foto: FatCamera/E+/Getty Images
Die Waldorfpädagogik bricht bewusst mit klassischen Vorstellungen von Schulbildung.

Die einen lieben, die anderen belächeln sie: die Waldorfschule. Trotz kontroverser Meinungen ist ihr Erfolg unbestreitbar. „Die Walddorfpädagogik ist ein besonders interessantes Phänomen, weil sie seit über 100 Jahren existiert und weltweit Verbreitung gefunden hat“, erklärt Dr. Marc Fabian Buck. „Die Forschung allerdings ist bisher überhaupt nicht international ausgerichtet.“

Der Bildungswissenschaftler von der FernUniversität in Hagen hat deshalb zusammen mit seiner Kollegin Ann-Kathrin Hoffmann eine länderübergreifende, vergleichende Perspektive angeregt. Gemeinsam haben sie die zweibändige Betrachtung „Critically Assessing the Reputation of Waldorf Education in Academia and the Public” herausgegeben. Sie sammelt qualifizierte Beiträge über die Waldorfpädagogik aus verschiedenen Ländern.

„Es ist bemerkenswert, dass die Waldorfpädagogik in so unterschiedlichen internationalen Bildungskontexten ihren Platz findet“, betont Ann-Kathrin Hoffmann. Von Deutschland aus breitete sie sich zunächst in nahe Länder wie die Niederlande, Österreich, Finnland oder die Schweiz aus. Diese frühe Phase von 1919 bis 1955 deckt der erste Band ab. Im zweiten Band geht es um die Periode von 1987 bis 2004, in der Waldorf auf dem ganzen Globus expandiert, etwa nach Japan, Kenia oder China. Stand 2022 gibt es 1.270 Waldorfschulen weltweit.

Reformen als Erfolgsmodell

Doch was steckt eigentlich hinter dem Etikett? „Die Waldorfpädogik ist am Übergang zum 20. Jahrhundert als typische Reformpädagogik entstanden – insofern, dass sie sich gegen das staatliche Schulwesen gewandt hat“, erklärt Buck. „Die Anthroposophie liefert dabei das dogmatische Grundgerüst, sozusagen die theoretischen Leitplanken.“ Unter Anthroposophie wird die spirituelle Lehre verstanden, die Rudolf Steiner (1861–1925) erdacht hat. Als Gründer der ersten Waldorfschule richtete er den menschlichen Erkenntnisweg entlang seiner Weltanschauung aus. Damit legte er nicht nur den Grundstein für den anhaltenden Erfolg der Schulen; anthroposophische Vorstellungen sind ebenso in der Medizin verbreitet, fließen in die Herstellung von Lebensmitteln oder Kosmetika ein und vieles mehr. So arbeiten etwa der Bio-Anbauverband Demeter oder die Unternehmensgruppe Weleda auf Basis von Steiners Lehre. Trotz der praktischen Beliebtheit der Waldorfpädagogik stand ihr teils esoterischer Ruf lange einer ernsthaften wissenschaftlichen Auseinandersetzung entgegen. Das gilt auch für die Bildungsforschung. Hoffmann und Buck geben dem Thema nun Aufwind.

Foto: privat/Hardy Welsch
Waldorfpädagogik im neuen Licht: Ann-Kathrin Hoffmann und Marc Fabian Buck setzen sich gemeinsam für die Internationalisierung und Verwissenschaftlichung ihrer Forschung ein.

Denkschule als Alleinstellungsmerkmal

„Rein formal braucht es auch weiterhin das Bekenntnis zur Anthroposophie“, weist Hoffmann auf die strengen Vorgaben des Haager Kreises hin, unter dessen Dach die Waldorfschulen weltweit organisiert sind. Er ist Rechteinhaber und Träger der Marke Waldorf. „Es gibt eine Liste mit Merkmalen als Voraussetzung, damit sich eine privat gegründete Schule ‚Waldorf-‘ oder ‚Rudolf-Steiner-Schule‘ nennen darf.“ Fester Teil des Kriterienkatalogs ist nach wie vor die anthroposophische Menschenkunde. „Und damit ist eben eine ganze Menge verbunden, so die Expertin. „Der gesamte esoterische und spirituelle Überbau, der zum Beispiel erklärt, wie die kindliche Entwicklung mit den Planeten und Weltzeitaltern zusammenhängen soll.“

Komplettes Sinnangebot

Allerdings finden sich Anzeichen für eine gewisse Liberalisierung, so Hoffmann: „Es gibt unter der Aufzählung der Kernmerkmale einen zweiten Abschnitt, der eine Art loseres Verständnis andeutet. Daran sieht man zumindest, dass über so etwas wie eine ‚Light-Variante‘ nachgedacht wird.“ Ist die Anthroposophie aus heutiger Sicht eher Hemmschuh oder willkommenes Verkaufsargument? Hierin scheint sich die Strömung selbst nicht einig. „Die Frage, wieviel Anthroposophie noch im Konzept Waldorfschule steckt, wird auf jeden Fall immer drängender“, unterstreicht Hoffmann. „Da besteht schon ein hoher Rechtfertigungsdruck.“

Im In- wie Ausland äußerte sich in den vergangenen Jahren zudem allgemeine Kritik – etwa am eigenwilligen Umgang mit staatlichen Corona-Regeln in Schulen oder an antisemitischen Äußerungen in Rudolf Steiners Werk. Ihrer Beliebtheit tut das keinen Abbruch: „Die Waldorfpädagogik ist einer der letzten Orte in der Gesellschaft, wo man noch ein komplettes Sinnangebot erhält“, urteilt Buck. „Ich kann mir schon vorstellen, dass das für viele sehr attraktiv ist.“

Frei zugängliche Publikation

Beide Bände mit dem Titel „Critically Assessing the Reputation of Waldorf Education in Academia and the Public” sind im Verlag Routledge erschienen und via Open Access online und kostenlos zugänglich:

Band 1 Band 2

Markenkern, der irritiert?

Immerhin durchdringen Steiners Lehren alles; von der Lehrkräfteausbildung bis zum Lehrplan. „Die machen es anders als die staatlichen Schulen“, benennt Hoffmann ein häufiges Pro-Argument. In Kenia zum Beispiel kommen die unkonventionellen Vorstellungen im Sinne einer Anti-Establishment-Haltung gut an, die sich gegen die Lehrpläne der einstigen Kolonialherren wendet. Dennoch zeigen sich im internationalen Vergleich empfindliche Nahtstellen. Buck nennt ein Beispiel: „Bei Steiner spielt die deutsche Folklore eine große Rolle. Er greift Drachen als mystische und gefährliche Figuren auf, die es zu besiegen gilt.“ In großen Teilen des asiatischen Raums sind die Wesen hingegen sehr positiv besetzt. „Hier sorgt der Transfer der Ideen für ein handfestes Problem. Was macht man etwa in China, wo Drachen ja etwas Gutes sind?“

Dogmen stärken oder abschwächen?

Auch wegen solcher Konflikte, versuchen sich manche Einrichtungen von der theoretischen Folie Steiners zu lösen. „In manchen Ländern geht es eher in Richtung einer Waldorfpädagogik 2.0“, spitzt Hoffmann zu. „Wir sehen in vielen Ländern Abspaltungstendenzen – Schulen und Verbände benennen sich zum Beispiel um, sodass sie Steiner oder Waldorf gar nicht mehr im Namen tragen“, ergänzt Buck. „Da das Modell allerdings ohne den theoretischen Überbau wenig Sinn macht, kann man sich schon die Frage stellen, was das letztlich bringt.“ Es gibt aber auch die genaue Gegenbewegung – Fürsprecher:innen der anthroposophischen Lehre, die Steiners Ideen im großen Stil restaurieren wollen, nicht zuletzt im Licht seines anstehenden 100. Todestags.

Umstrittene Punkte, objektive Sicht

Die beiden Bildungsforschenden finden die inneren Widersprüche spannend, möchten das Modell aber nicht einseitig an den Pranger stellen. Vielmehr ist ihnen eine analytische Sicht wichtig. Die Buchbeiträge kuratierten sie daher besonders sorgfältig. „Wir haben alle Einreichungen ausführlich geprüft. Maßgabe war dabei immer ein wissenschaftlicher Standard – nicht die persönliche Einstellung zur Waldorfpädagogik.“ Einige Autor:innen stehen der Waldorf-Community somit eher nahe, andere sind distanziert. „Die Spannbreite ist sehr groß“, sagt Buck. Überdies war es nicht leicht, überhaupt direkte Einblicke in das private Schulsystem zu erhalten. „Die Schulen sind natürlich relativ hermetische Einrichtungen“, bemerkt Buck. Trotzdem sind Zugänge möglich – vor allem durch direkte Forschung im Feld. So besuchte Hoffmann selbst anthroposophische Tagungen, um aus erster Hand Einblicke zu sammeln und sich zu vernetzen.

Impulse setzen durch Open Access

Der zweiteilige Sammelband ist ein erster Schritt in Richtung einer internationalen Forschungscommunity zur Waldorfpädagogik. Die kostenlose Publikationsform soll zusätzlich dazu anregen, dem Thema in Fachkreisen mehr Fahrt zu verleihen. Im Duo wollen die beiden Forschenden auf jeden Fall weiterarbeiten: So nimmt ein Folgeprojekt in den Blick, inwieweit sich elterliche Erwartungen mit der schulischen Realität an Waldorfschulen decken – geht es zum Beispiel tatsächlich antiautoritär zu oder wirkt nur eine andere Art von Druck auf die Kinder? Ann-Kathrin Hoffmann und Marc Fabian Buck bleiben dran.

 

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Benedikt Reuse | 21.05.2024