Dr. Anastasia Neuner

„Was die FernUni macht, ist wichtig“

Foto: Anastasia Neuner
„10, 9, 8 ... go!”: Anastasia Neuner im Missionskontrollzentrum der Studentischen Kleinsatellitengruppe in Stuttgart.

Der zweite Lockdown in der Coronapandemie hat den Anstoß gegeben. „Es hat sich alles in unseren vier Wänden abgespielt.“ Anastasia Neuner atmet durch – und lacht: „Wir sind in die Familienplanung eingestiegen.“ Im Nebenzimmer schlummert Sohn Alexander, drei Monate alt. Das Leben läuft manchmal nach Plan – bei Anastasia Neuner, die bis 2020 Shcherbakova hieß, auf jeden Fall. Sie ist Absolventin der FernUniversität in Hagen: Master in Praktische Informatik. Ihr Sohn kam ein paar Monate, nachdem sie im Dezember 2021 ihre Urkunde erhalten hatte, zur Welt.

Ihre Masterarbeit hat sie über weite Phasen parallel zur ihrer Schwangerschaft geschrieben. „Zwischendurch hat es mich ziemlich viel Energie gekostet und war anstrengend.“ Da kam auch sie an ihre Grenzen – ein neues Gefühl. Bis dahin stemmte sie scheinbar mühelos ihre Promotion in Quantenphysik, den neuen Job als IT-Consultant, der das Informatikstudium erforderlich machte, und lateinamerikanische Tänze als semiprofessionelles Hobby. Corona bremste Training und Wettbewerbe aus. „Sport hilft, wenn man voll im Kopf ist“, sagt sie. „Du kannst dich auf dem Sofa einlullen lassen oder du gehst schwitzen.“ Ihre Option steht fest. Aktuell ist sie in Elternzeit, trainiert und arbeitet selbst als Trainerin im Tanzclub sowie im Fitnessstudio.

Anastasia Neuner spreizt die Arme in Tanzpose ab. Foto: Anastasia Neuner
Auf „4 und 1“: Anastasia Neuner beim Cha-Cha-Cha auf dem internationalen Tanzwettbewerb Blackpool Dance Festival.

„Ich bin eher der analytische, trockene Typ“

2010 kam Anastasia Shcherbakova aus Russland nach Deutschland, um am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) in Quantenphysik zu promovieren. In Russland hatte sie Physik studiert. „Ich bin eher der analytische, trockene Typ“, charakterisiert sie sich selbst. Im Videochat am Bildschirm ist das nicht zu merken. „Mathe, Physik und jetzt auch Informatik – das fasziniert mich. Wir können mit ein paar Zeichen auf Papier die Welt abbilden, beschreiben, ein bisschen steuern und Entwicklungen vorhersagen.“

Was sie nicht vorhersagen konnte, war die politische Entwicklung in ihrer Heimat. 2014 war sie mit der Promotion durch, da hatte der russische Präsident Wladimir Putin die Halbinsel Krim annektiert. „Ich wollte nicht zurück“, erinnert sie sich – und ist sofort beim Ukrainekrieg. „Schrecklich.“ Viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler seien inzwischen ausgewandert.

Anastasia Shcherbakova blieb und ging auf Stellensuche. Bei einer Softwarefirma mit Kunden wie Daimler, Porsche und BASF im Raum Stuttgart fand sie ihre Stelle als Consultant im Bereich von IT-Services und IT-Management. „Allerdings reichten Physikstudium und Promotion nicht“, erzählt sie lachend. Ein Abschluss in Informatik musste es sein. Auf die FernUniversität in Hagen kam sie durch einen Tipp aus ihrem Bekanntenkreis. Zum Wintersemester 2018/19 schrieb sie sich ein, die Firma übernahm die Studiengebühren. Fortan arbeitete und studierte sie in Teilzeit – und schloss im Oktober 2021 ihr Fernstudium ab.

Anfangs kämpfte sie mit der Studiensprache Deutsch. „Lesen und Verstehen fiel mir schwer.“ Als Promotionsstudentin am KIT war ihre wissenschaftliche Umgebung englischsprachig gewesen. Außerdem fremdelte sie mit den Einsendeaufgaben, die per Post geschickt werden sollten. „Ich war so oft im Ausland unterwegs, dass ich auch Postwege nicht einhalten konnte.“ Je weiter sie im Studium vorankam, desto digitaler wurde es. „Insgesamt kann ich die FernUni nur loben für die Möglichkeiten, die sie Fernstudierenden bietet“, resümiert die Wahlschwäbin. „Die Betreuung der Masterarbeit war sehr gut und sehr herzlich.“

Schmuckbild Foto: Anastasia Neuner
Der Doktor-Titel ist ihr sicher.

Zwischen Himmel und Erde

Ihre Thesis schrieb Neuner über kooperative Systeme: codete und testete, vor allem nachts. Sie programmierte eine Methode für die automatische Verteilung einer Software, mit der sich mehrere Satelliten von der Erde aus jeweils in ihrer eigenen Mission steuern lassen. Normalerweise hat jeder Satellit sein eigenes Programm. Ihr Interesse dafür ist geweckt, seit sie sich an der Uni Stuttgart in der „Studentischen Kleinsatellitengruppe“ engagiert, die eine Kooperation mit dem Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt, der ESA und NASA hat.

„Hier setzen wir eigene Raumfahrtprojekte um. Ich habe an einem Rover mitgearbeitet, der sich an Oberflächen einer Rakete im All bewegen kann“, beschreibt Neuner. Im Sommer 2019 startete die Rakete mit dem Rover von Schweden aus. Anastasia Neuner war live dabei. „Da springt die Physikerin in mir an.“

Lernen nach Plan und Audiodateien

Es ist wohl die Quantenphysikerin, die sie strukturiert. Sie hat nach Studienplan studiert, zwei Module pro Semester absolviert – und die Flexibilität genutzt, die die Fernuni bietet. „Ich habe oft gelernt, wenn ich unterwegs war, in der S-Bahn und an Haltestellen.“ Die Inhalte hatte sie als Audiodateien dabei, selbst eingesprochen.

So kombinierte sie Job, Studium und das intensive Hobby Tanzen: drei bis vier Mal pro Woche zum Training, Lateinamerikanisch in der zweihöchsten Startklasse. „Die S-Klasse schaffen wir auch noch.“ Kein Zweifel. Insgesamt 71 Turniere hat sie seit 2018 mit ihrem Tanzpartner, mit dem sie inzwischen verheiratet ist, absolviert – um die Lockdowns herum. Sonntags unterrichtet sie Kinder und Jugendliche im Verein und gibt Stretching- und Kräftigungskurse im Fitnessstudio. Seit ihrem 18. Lebensjahr macht sie Yoga. Sport ist ihr Ausgleich zur Kopfarbeit.

Onlinekurs in Harvard

„Ohne die FernUniversität hätte ich nicht parallel arbeiten und studieren und schwanger werden und tanzen können ... Das, was die FernUniversität macht, ist wichtig“, sagt sie abschließend. Schwer vorstellbar, dass diese quirlige, ehrgeizige Frau nun die Skripte in die Ecke legt. Anastasia Neuner lacht. Tut sie auch nicht. „Ich mache jetzt mal, was ich will. Ohne Druck.“ Sie belegt ein Online-Programm an der Harvard-Universität im Fach Religionswissenschaften. „Es geht um die Theorien und Methodik der großen Weltreligionen“, erklärt sie. Warum sie sich als Physikerin dafür interessiert? „Ich finde die Botschaft der christlichen Nächstenliebe sehr wichtig. Es ist sehr interessant, wie es in den unterschiedlichen Religionen aussieht, weil der Religionskontext Menschen sehr stark prägt.“

Das Harvard-Programm ist für zwei Jahre angelegt – im Prinzip parallel zu ihrer Elternzeit, die bis Januar 2023 geht. Bis dahin will sie mit Harvard durch sein. Natürlich.

Anja Wetter | 20.03.2024