„Wir können uns das nicht mehr leisten!“

Mensch und Materie sind eng verzahnt – das verdeutlicht auch der Klimawandel. Prof. Frank Hillebrandt forscht dazu im Projekt ReForm, das vom 22. bis 24. Juni in Hagen tagt.


Kohlekraftwerke und Rauch Foto: Westend61/Getty Images
Living in a material World: Rohstoffe bestimmen die Art und Weise, wie Gesellschaften funktionieren.

Materie ist tot. Sie macht nichts. Vielen Menschen gilt das als unumstößlich – ein Bild, mit dem der Neo-Materialismus aufräumt: Seit Mitte der 1990er-Jahre stellt die wissenschaftliche Strömung anthropozentrische Anschauungen infrage. Nicht allein der Mensch formt die Welt um sich herum – auch Dinge, Stoffe oder Artefakte handeln und verschmelzen durch ihren Einfluss mit Lebewesen und Gesellschaften. „Die Denkrichtung ist überdisziplinär“, erklärt Prof. Dr. Frank Hillebrandt. „Viele verschiedene Fächer beziehen sich auf sie.“ An der FernUniversität in Hagen leitet der Forscher das Lehrgebiet Soziologie I. Mit neumaterialistischen Ideen beschäftigt er sich unter anderem in Kooperation mit dem Leibniz-WissenschaftsCampus Resources in Transformation (ReForm).

Forschende verschiedener Wissenschaftsbereiche ergründen hier gemeinsam, wie Ressourcen den gesellschaftlichen Wandel begleiten. „Natürlich sind Menschen an sozialen Wandlungsprozessen beteiligt; aber immer in Verbindung mit materiellen Voraussetzungen“, erklärt Prof. Hillebrandt. Nicht zufällig sind viele Epochen der Geschichte nach ihren wirkmächtigsten Rohstoffen benannt – von der Steinzeit über Bronze- und Eisenzeit bis hin zum vielfach ausgerufenen Datenzeitalter. Für ReForm ist die Zeit des Bergbaus in Nordrhein-Westfalen ein wichtiges Untersuchungsfeld. „Die Steinkohle als Materielles hat unglaublich viel geschaffen im Ruhrgebiet.“

Klimawandel schafft Tatsachen

Für ein Projekt, das sich mit der Transformation von Ressourcen beschäftigt, erscheint die neumaterialistische Grundidee per se reizvoll. Aber auch generell habe die Denkschule in den letzten Jahren frischen Aufwind erfahren, erklärt Hillebrandt. Das gilt auch für sein Fach, die Soziologie: Harrte ihr Blick lange Zeit auf Aspekten wie Symbolen, Kulturformen oder Kommunikation, schafft inzwischen der Klimawandel neue Tatsachen. Stichworte wie Dekarbonisierung oder Energiewende rücken die Materien zurück in den wissenschaftlichen Fokus.

Interdisziplinäre Tagung zum Thema

Vom 22. bis 24. Juni veranstalten ReForm und die FernUniversität eine große Tagung auf dem Hagener Campus: „Ressource – Ereignis – Praxis. Interdisziplinäre Perspektiven auf den neuen Materialismus“. Eingeladen sind internationale Gäste. So hält etwa der renommierte Archäologie-Professor Ian Hodder (Stanford University) eine Keynote zum Thema „Towards a More Materialist New Materialism“. Tagungssprache ist Englisch, Interessierte sind herzlich willkommen.

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Flyer zur Veranstaltung (PDF 210 KB)

Dieser Paradigmenwechsel schmeckt nicht allen: „Viele Soziolog:innen wollen nicht glauben, dass auch Materie aktiv ist. Sie sagen noch immer: Alles geht vom Menschen aus, Menschen sind die einzigen, die handeln können“, problematisiert der Forscher. „Aber das sind Diskussionen, die wir kaum noch führen können, wenn wir sehen, welch gewaltigen Einfluss das Materielle gerade gewinnt.“ Zur Tragik des Klimawandels gehört, dass er den Menschen brachial aufgezeigt, wo ihre Kontrolle endet. „Die große Erfahrung unserer Generation ist, dass wir allein durch wissenschaftliche Entscheidungen nicht mehr alles in den Griff bekommen können. Das ist eine Illusion der sogenannten Moderne. Wir können uns das nicht mehr leisten!“

Von der Archäologie lernen

„Was kann es sonst geben außer Materie?“, spitzt Hillebrandt den neuen Materialismus auf eine Frage zu. Eine Geisteswissenschaft, die sich von jeher auf Materielles stützen musste, ist die Archäologie: Alte Grundrisse, Waffen, Scherben oder Werkzeuge… oft gibt es einfach keine anderen Spuren vergangener Zeiten. „Für die Archäologie ist das ganz normal. Sie hat es schon immer so gemacht, wie wir es jetzt vorhaben“, vergleicht Hillebrandt. „Alles empirische Material ist auch wirklich materiell. Das ist eine ganz andere Art von Wissenschaft.“ Bei ReForm hat die Archäologie daher auch einen besonderen Stellenwert. Von ihren Verfahren möchte das interdisziplinäre Projekt lernen.

Portrait Foto: Volker Wiciok
Frank Hillebrandt bringt seine soziologische Perspektive bei ReForm ein.

Unverstellten Blick lernen

Denn: sich aufs Materielle zu konzentrieren, bedeutet auch, auf mögliche Befangenheiten zu reagieren. Hillebrandt nennt ein populäres Beispiel aus der Antike: „In seinem De bello Gallico hat Julius Caesar die Germanen wie absolute Barbaren dargestellt. Das war natürlich eine völlige Übertreibung.“ Kein Wunder, waren sie doch seine Feinde in einem grausamen Feldzug samt Völkermord an den Stämmen Usipeter und Tenkterer. Trotz sachlichem Schreibstil: Was der antike Autor über die Gesellschaft der Barbaren festgehalten hat, war eher Propaganda denn Tatsachenbericht. Schilderungen über das Alltagsleben fehlen ganz. Ausgrabungsfunde korrigieren das Zerrbild und lassen neue Rückschlüsse auf die germanische Stammesgesellschaft zu.

Materielle Abdrücke im Ruhrgebiet

Materielle Spuren sind es denn auch, die offenbaren, was die Steinkohle auf lange Sicht mit den Menschen in NRW gemacht hat. Was bleibt gesellschaftlich bestehen angesichts von Energiewende und Demografie? „In zwanzig Jahren sind alle Bergarbeiter gestorben. Trotzdem werden wir ihre Kultur pflegen – und das eben in materieller Form“, ist sich der Forscher sicher. „Wie auch sonst?“ Zu besichtigen ist das Vermächtnis des „Ruhrpotts“ nicht nur in Museen und stillgelegten Industrieparks. Es zeigt sich auch im Kleinen, Alltäglichen: „Wir werden hier auch weiterhin Tauben züchten und Schrebergärten haben…“

 

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Benedikt Reuse | 13.06.2023