„Nur was lebendig ist, entwickelt sich“

Der Chef befiehlt, das Team gehorcht? Prof. Jürgen Weibler erklärt, wie es anders laufen kann. Im Buch „Personalführung“ diskutiert er die neusten Erkenntnisse aus der Forschung.


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Führung ist ein wichtiges Thema in Organisationen, spielt aber auch im Alltag eine Rolle – etwa im Freundeskreis oder beim Sport.

Wie sieht effiziente Führung aus? Eine Frage, die für gewöhnlich innerhalb von Organisationen gestellt wird – etwa in Wirtschaft und Politik. „Führung finden wir aber auch woanders“, weiß Prof. Dr. Jürgen Weibler von der FernUniversität in Hagen. „Sie ist ein Alltagsphänomen, das es überall dort gibt, wo sich Menschen zusammenfinden und gemeinsam lösungsorientiert an etwas arbeiten – zum Beispiel in Familien, Sportteams oder Freundeskreisen.“ Dabei ist nicht unbedingt festgeschrieben, wer wann und warum führt. Das kann sich auch situativ aus persönlichen Stärken ergeben. Weibler nennt hier zum Beispiel die Absprache im Freundeskreis über den nächsten Kinoabend: „Hier kann die Einschätzung einer bestimmten Person besonders wichtig erscheinen.“ Den Ton gibt an, wer sich am besten mit Filmen auskennt. Beim nächsten Besuch im Stadion übernimmt vielleicht wieder jemand anderes die Führung. „Für einen Freundeskreis ist das eigentlich ideal, wenn Führung immer wieder wechselt“, erklärt der Ökonom und Psychologe.

Als Inhaber des Lehrstuhls Betriebswirtschaftslehre, insb. Personalführung und Organisation beschäftigt er sich intensiv mit Führungspraxis. Auch außerhalb der FernUni teilt der Forscher sein Wissen – etwa in seinem Blog Leadership-Insiders oder als Autor des Standardwerks „Personalführung“, das vor kurzem in 4. Auflage bei Vahlen erschienen ist.

Mehr als Dienst nach Vorschrift

Ähnlich wie im Freundeskreis sollte es auch in Organisationen gute Gründe dafür geben, warum eine Person das Heft in der Hand hält. Formalismen allein machen noch keine gute Führungskraft – ein Arbeitsteam erwartet mehr: „Eine Führungskraft sollte in der Lage sein, lebendige Führungsbeziehungen zu gestalten“, benennt Weibler einen wichtigen Grundsatz. „Wir kennen zu viele Führungsbeziehungen, die sind kalt, technokratisch und eng hierarchisch.“ Hier fehle die Möglichkeit zu Entfaltung. Besser sei es, wenn ein reger Austausch zwischen Führung und Team besteht – denn: „Was lebendig ist, das entwickelt sich!“ Die Resonanz zwischen beiden Seiten führt zu mehr Wertschätzung, spornt an und inspiriert. Folglich grenzt Weibler auch begrifflich ab: „Führung besteht nicht von selbst, sondern muss einer Person zugesprochen werden. Ansonsten leitet sie nur.“

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Prof. Jürgen Weibler hält die internationale Forschung zum Thema „Leadership“ im Blick.

Einzelkämpfertum führt nicht weit

Angesichts der enormen Komplexität und Dynamik der heutigen Arbeitswelt, stellt Weibler zudem die Idee einer „heroischen Führungspersönlichkeit“ infrage. Wer kann schon alle Bälle gleichzeitig in der Luft halten? „Hier gilt für mich der alte Evolutionsgrundsatz: Je mehr Möglichkeiten ich habe – also je mehr Personen ich einbinde – desto besser kann ich auch auf Unvorhergesehenes reagieren.“ Ein einbindender oder Macht teilender Führungsstil schafft kreative Freiräume und gegenseitiges Vertrauen, was sich spätestens in Krisenzeiten auszahlt. „Das Team akzeptiert durchaus sinnvolle formale Unterschiede zwischen sich und der Führungsperson“, stellt Weibler klar. „Aber die Art und Weise, wie man zusammen Lösungen findet und nach Außen darstellt, ist wichtig.“ Hier macht schon die Sprache einen Unterschied. Statt unbescheiden das Ego in den Vordergrund zu stellen, sollte die Gemeinschaftsleistung betont werden: „Mein Team und ich haben zusammen eine Lösung gefunden.“

Führung ist abhängig vom Kontext

Wie aber gelingen lebendige Führungsbeziehungen angesichts einer Arbeitswelt, die sich mehr und mehr in digitale Räume verlagert? Auch das bespricht Weibler in der Neuauflage seines Buchs. Dabei ergeben sich nicht zuletzt ästhetische Fragen: „Wenn ich ein Team digital führe, fühlt es sich anders an“, unterstreicht der Experte. „Fühlen ist eine fast leibliche Empfindung – eine ganzheitliche Erfahrung.“ Wer einen Raum betritt, in dem bereits mehrere Personen sitzen, nimmt direkt die Atmosphäre wahr. Ist die Stimmung ausgelassen, eisig oder angespannt? Solche Zwischentöne wahrzunehmen, ist digital sehr schwer: „Die Personen sitzen mir ja zum Beispiel in einer Videokonferenz nur sehr eingeschränkt gegenüber, werden nur in kleinen Fenstern dargestellt.“ Durch den technischen Filter ist es anstrengender, Reaktionen anderer zu lesen und sich aufeinander einzuschwingen. Führung ist hier mindestens auf gute Tools angewiesen, im besten Fall gelingt eine gewinnbringende Verschränkung zwischen digitaler und präsenter Zusammenarbeit.

Ethischer, sinnhafter, positiver

Zugleich rückt die Frage nach ethischer Führung stärker in den Fokus – im Umkehrschluss also auch Aspekte von „Bad Leadership“ wie Diskriminierung oder Geschlechter-Ungleichheit. „Noch heute sind die Chancen nachweisbar erschwert, als weibliche Person in den männlichen dominierten Führungszyklus hineinzuwachsen.“ Gewandelt haben sich gleichwohl die Erwartungshaltung jüngerer Generation ans Arbeitsleben. Vieles fällt dabei unter den Sammelbegriff „New Work“ – der sich seit den 80er-Jahren stark gewandelt hat: Wo es damals etwa angesichts von Massenarbeitslosigkeit um eine generelle Neukonzeption der Arbeitsgesellschaft ging, steht heute eher die Frage im Raum, wie sich Mitarbeitende entlang ihrer persönlichen Bedürfnisse einbinden lassen: „Heute formulieren sich neue Wünsche, zum Beispiel nach mehr Flexibilität oder Sinnhaftigkeit bei der Arbeit“, so Weibler. Unter Umständen muss sich Führung daher auch mit Ideen wie Nachhaltigkeit und gesellschaftlicher Verantwortung auseinandersetzen. Dogmen propagieren möchte Weibler nicht, vielmehr den Facettenreichtum von Personalführung abbilden. Denn oftmals läuft der eine Ansatz ohne den anderen ins Leere: „Was nützen uns etwa partizipative Arbeitskontexte, wenn die Werte, die dahinter stehen schädlich sind?“

 

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Benedikt Reuse | 05.06.2023