Geschichten des Kriegs in der Ukraine

Wie blickt die Geschichtswissenschaft auf den Krieg in der Ukraine? Das diskutieren am 28. September Forschende aus der Ukraine, Polen und Deutschland mit Interessierten aus Hagen.


Ukraineflagge vor zerstörter, rauchender Stadt Foto: Alexey Fedoren, Getty Images
Die russische Föderation setzt ihren Angriff auf die Ukraine mit unverminderter Brutalität fort.

Der russische Angriff auf die Ukraine lässt sich nicht mit dem deutschen Vernichtungskrieg gegen die Ukraine im Zweiten Weltkrieg gleichsetzen – trotzdem werden beide Kriege oft miteinander verglichen. „Die Art, wie wir den Krieg in der Ukraine wahrnehmen, ist auch durch die deutsche Erfahrung des Angriffs auf die Sowjetunion geprägt“, urteilt Prof. Dr. Felix Ackermann von der FernUniversität in Hagen. Der Historiker diskutierte bereits im vergangenen Jahr beim Politischen Salon mit der Hagener Stadtgesellschaft über den Krieg in der Ukraine – und versprach eine Fortsetzung mit geschichtswissenschaftlicher Perspektive: Nun lädt er alle Interessierten am 28. September zur öffentlichen Podiumsdiskussion „Krieg der Gegenwart, Krieg der Geschichte. Ukrainische und deutsche Perspektiven auf den Krieg in der Ukraine“ ins Emil Schumacher Museum ein – Museumsplatz 1, 58095 Hagen. Beginn ist um 18.00 Uhr. Der Eintritt ist frei, die Anmeldung bis zum 22. September möglich. Die Redebeiträge werden zwischen Deutsch, Ukrainisch und Englisch gedolmetscht.

Gäste aus der Ukraine, Polen und Deutschland

Auf dem Podium spricht Prof. Ackermann mit der Historikerin Natalia Otrishchenko vom Center for Urban History in der westukrainischen Stadt Lwiw. Gemeinsam mit einem Netzwerk von Freiwilligen dokumentiert sie den Krieg, indem sie Menschen zu ihren Fluchterfahrungen interviewt. Außerdem zu Gast ist die Soziologin Dr. Anna Wylegała. Auch sie koordiniert an der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Warschau Interviews mit ukrainischen Kriegsbetroffenen. Angela Beliak beteiligt sich an der Diskussion als Koordinatorin der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste in der Ukraine. Historiker Dr. Johannes Spohr berichtet von seiner Forschung über die deutsche Besatzung der Sowjetunion. In Berlin betreibt er den Recherchedienst „present past“ zum Nationalsozialismus in Familie und Gesellschaft. Begleitend bietet er unter dem Titel „(Ur-) Großvater war in der Ukraine“ am 29. September einen Workshop an der FernUniversität an, bei dem er interessierten Bürgerinnen und Bürgern aus NRW dabei hilft, Dokumente zur eigenen Familiengeschichte auszuwerten.

Portraits Foto: Jan Zapper/Janna Keberlein
Felix Ackermann und Janna Keberlein

Startschuss für internationales Projekt

Die Podiumsdiskussion markiert zugleich den Startpunkt für ein gemeinsames Dokumentationsprojekt der FernUniversität mit den Forschenden aus Lwiw und Warschau: Seit Frühjahr 2022 haben diese bereits über 350 lnterviews mit Kriegsbetroffenen geführt. Nun beteiligt sich das Lehrgebiet Public History in Kooperation mit dem Hagener Institut für Geschichte und Biographie an dem Vorhaben. „Die Idee zum Dokumentationsprojekt kam von unseren ukrainischen Kolleginnen. Es ist unsere Form der Solidarität, etwas dazu beizutragen“, erklärt Felix Ackermann. „Wir wollen sie dabei unterstützen, den Krieg in diesem Moment zu dokumentieren.“ Als Historiker sieht er sein Fach nun in der Verantwortung: „Wir entscheiden in der Gegenwart darüber mit, welche Spuren es von diesem Krieg geben wird.“

Aufzeichnung der Veranstaltung

Keine Zeit zu verlieren

Seine Teamkollegin Janna Keberlein organisiert die Projektbeteiligung maßgeblich und hat selbst einen starken Bezug zum Geschehen: „Ich verstehe mich als deutsche Historikerin, habe aber persönliche Verbindungen in die Ukraine.“ Eine neutrale Haltung einzunehmen, ist dadurch nicht immer leicht für die Wissenschaftlerin. Im Moment steht für sie jedoch im Vordergrund, keine Zeit zu verlieren: „Es ist wichtig, Erlebnisse jetzt zu dokumentieren, weil sich alles schnell verflüchtigt. Manchmal weiß man schon nach ein paar Tagen nicht mehr, was passiert ist.“ Die FernUni-Forschenden planen zunächst 50 Interviews mit Menschen, die wegen des Kriegs aus der Ukraine nach Hagen gekommen sind, weitere sollen folgen. „Welche Strategien entwickeln Menschen, um diesen Krieg zu überleben?“, nennt Keberlein eine zentrale Frage.

Auch lokal wichtig

„Ich sehe das auch als Hagener Projekt“, unterstreicht Ackermann. „Es geht darum die Ankunft einer großen Gruppe zumindest temporärer Einwohner:innen zu dokumentieren.“ Im Sinne der „Citizen Science“ betreibt das Team deshalb Forschung im direkten Austausch mit der neuen Gemeinschaft. „Über 1600 neue Bürgerinnen aus der Ukraine machen einen großen Unterschied. Und die Stadt hat ja eine lang zurückreichende Geschichte von Migration, die den Alltag immer geprägt hat.“

Die lebensgeschichtlichen Interviews folgen der Oral History Methode – einem wissenschaftlichen Ansatz, der im Hagener Institut für Geschichte und Biographie tradiert ist. Dahinter steht die Idee, den Interviewten zu ermöglichen, ihre Lebensgeschichte möglichst frei zu erzählen. Der handlungsorientierte Ansatz hilft letztlich auch den Betroffenen. „Ich kenne persönlich viele Menschen, die die Ukraine verlassen haben, und sich nicht mit der Bezeichnung ‚Geflüchtete‘ identifizieren – die meisten von ihnen Frauen“, betont Keberlein. „Sie wollen sich nicht als Opfer dieser Umstände verstanden wissen, sondern als agierende, selbstständige Menschen.“

Veranstalter

Die Veranstaltung ist eine Kooperation vom Lehrgebiet Public History, dem Transferbüro und dem Allgemeinen Studierendenausschuss der FernUniversität mit dem Emil Schumacher Museum.

 

Das könnte Sie noch interessieren

Benedikt Reuse | 31.08.2023