„Theorie ist mehr als eine Fingerübung“

Christian Grabau übernimmt das Lehrgebiet Allgemeine Bildungswissenschaft in Hagen. Als Professor will er sich besonders für einen guten Start ins Fernstudium stark machen.


Foto: FernUniversität
Prof. Christian Grabau (Mitte) mit FernUni-Rektorin Prof. Ada Pellert und Prof. Peter Risthaus, Dekan der Fakultät für Kultur- und Sozialwissenschaften

Für Prof. Dr. Christian Grabau schließt sich ein Kreis. Ab Oktober leitet er das Lehrgebiet Allgemeine Bildungswissenschaft an der FernUniversität – eine Art Rückkehr: „Ich bin in Hagen aufgewachsen, fünfzehn Gehminuten von der FernUni entfernt.“ Auf den Hügeln, wo er als Kind Schlittenfahren war, erstreckt sich heute der Campus. Hier wird Christian Grabau fortan als Professor lehren und forschen. Bislang arbeitete er am Institut für Erziehungswissenschaft der Eberhard Karls Universität Tübingen. Mit Frau und Kindern wohnt er in der Stadt am Neckar, sein akademischer Lebenslauf wurzelt jedoch tief im Ruhrgebiet: Grabau studierte Sozialwissenschaft, Germanistik und Erziehungswissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum. Ab 2009 war er dort wissenschaftlich tätig und promovierte. Nach Tübingen kam er 2014, arbeitete zudem von 2013 bis 2014 als Lehrbeauftragter an der Universität Bremen. Mit seinem Wechsel nach Hagen löst er nun Vertretungsprofessor Dr. phil. Marc Fabian Buck als Leiter der Allgemeinen Bildungswissenschaft ab.

Start muss stimmen

„Einer der Schlüsselmomente, wegen derer ich gesagt habe ‚Ja, ich bleibe an der Uni!‘, war der Umgang mit den Studierenden“, blickt Grabau zurück. „Seminare zu geben, mit den Studierenden im Gespräch zu sein, Arbeiten zu betreuen, das hat mir immer wahnsinnig viel Spaß gemacht.“ Als besonders prägend sieht er den Studienstart an. „Das finde ich an der FernUni so schön: Die Allgemeine Bildungswissenschaft ist hier vor allem im Studieneingangsbereich tätig. Neue Studierende stoßen erst einmal auf uns.“ Grabau liegt am Herzen, dass bei diesem Erstkontakt mehr herausspringt als ein oberflächlicher Ritt durch die Theoriegeschichte. Er möchte die Studierenden zum Perspektivwechsel befähigen: „Wenn ich mir jetzt diese oder jene Theoriebrille aufsetze, wie erscheinen mir dann pädagogische oder gesellschaftliche Phänomene?“ Für ihn steht fest: „Es gibt niemals nur die eine Antwort.“

Offen für neue Sichtweisen

Seine Botschaft: „Wir sind selbst verstrickt in die Verhältnisse. Ein Stück weit können wir uns von dem distanzieren, was wir immer schon gedacht haben. Eine neutrale Instanz sind wir dennoch nie.“ Entsprechend aufmerksam seziert der Forscher die Geschichte vorherrschender Bildungsideale – mit einem durchaus optimistischen Blick auf die Gegenwart: „Alles, was eine Geschichte hat, alles, was gemacht wurde, das kann man auch anders machen.“

Abzuwägen und Gegenentwürfe zum etablierten Kanon aufzuzeigen, das hält er für unerlässlich, denn: Pädagogik hängt am Ende immer auch mit Machtfragen zusammen. Als Beispiel nennt er das humboldtsche Bildungsideal: „Welche Menschen werden damit überhaupt adressiert? Und wer wird umgekehrt ausgeschlossen?“ Althergebrachte Ideen bedienen eben oft auch alte Schubladen: „Klar, Humboldt spricht immer von ‚der Menschheit‘, aber ist damit in Wirklichkeit nicht doch eine weiße, männliche, europäische Menschheit gemeint?“

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Wie lernt ihr, wie lernen wir? Darüber, wie Bildung vonstattengehen sollte, herrschen auf der ganzen Welt unterschiedliche Vorstellungen.

Etablierten Kanon aufbrechen

Wie Uni sein soll, wie Schule sein soll – die verschiedenen „Theoriebrillen“ bestimmen hier die Erwartungshaltung. „Sich mit Theorie auseinanderzusetzen, ist deshalb nicht nur eine akademische Fingerübung, sondern etwas ganz Praktisches.“ In seiner eigenen Lehre lockert Grabau das Denkkorsett bewusst: „Mit unserem Verständnis von Bildung, das wir jetzt seit 200 Jahren mitschleifen, kommen wir nicht weiter“, mahnt er angesichts drängender globaler Probleme. „Wie kann man Bildungsprozesse nachhaltig gestalten?“ Ins aktuelle Wintersemester startet Grabau unter anderem mit einem Seminar, das Bildungstheorien im Globalen Süden unter die Lupe nimmt und fragt: „Welche Verständnisse von Bildung und Emanzipation gibt es jenseits unserer europäischen Tradition?“

Bildung ganz anders begreifen

Auch mit seiner eigenen Forschung plädiert Grabau dafür, Bildung anders zu betrachten als bisher – etwa als körperliche Angelegenheit. „Bildung wird zumeist als geistiges Phänomen verstanden, als körperloses Geschäft“, kritisiert der Forscher. „Das ist eine gefährliche Illusion. Lesen wir zum Beispiel wissenschaftliche Texte, dann sehen wir nicht den Stress, der dahintersteht.“ Wie haben wir letzte Nacht geschlafen? Wie lange schaffen wir überhaupt, uns auf einen Bildschirm zu konzentrieren, still zu sitzen, zu tippen? „Auch das muss man im Studium thematisieren: Mit solchen körperlichen Faktoren haben doch alle zu kämpfen – auch wir Lehrenden“, zeigt sich Grabau geerdet.

Nicht im luftleeren Raum

Folglich ist sich der Forscher auch im Klaren darüber, dass der Bildungsalltag von Fernstudierenden nicht im luftleeren Raum stattfindet. Im Gegenteil: Sie arbeiten hart im Beruf, absolvieren ihr Studium nach Feierabend, kümmern sich zwischen den Lerneinheiten oft noch um Kinder und Angehörige. Die daraus resultierende Diversität und Lebenserfahrung sieht er jedoch als große Stärke der FernUniversität: „Die besten Seminare waren für mich schon immer diejenigen, in denen die Studierendenschaft besonders heterogen war.“


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Benedikt Reuse | 20.09.2023