Zeugnisse von Krieg, Flucht und Neubeginn

Forschende diskutierten mit der Hagener Stadtgesellschaft, wie der russische Angriffskrieg in der Ukraine bereits in der Gegenwart dokumentiert werden kann.


Menschen auf dem Podium Foto: FernUniversität
Internationales Podium (v.li.): Janna Keberlein, Dr. Anna Wylegała, Dr. Natalia Otrishchenko, Prof. Dr. Felix Ackermann, Angela Beliak und Dr. Johannes Spohr setzen sich aus verschiedenen Blickwinkeln mit dem Krieg in der Ukraine auseinander.

„Nach über einem Jahr ist klar: Es ist der bestdokumentierte Krieg im 21. und wahrscheinlich auch im 20. Jahrhundert“, beurteilte Prof. Dr. Felix Ackermann den Krieg in der Ukraine. An der FernUniversität in Hagen leitet er das Lehrgebiet Public History. Auch er arbeitet mit seinem Team daran, die Geschichte des Kriegs festzuhalten – mit lebensgeschichtlichen Interviews: Zeitzeuginnen und Zeitzeugen erzählen in einem geschützten Rahmen über ihre Erlebnisse, die sich so systematisch archivieren lassen. Das Hagener Institut für Geschichte und Biographie ist ein wichtiger Vorreiter der Oral History in Deutschland. Mit seiner Expertise beteiligt sich das Team der FernUniversität nun solidarisch an einem internationalen Dokumentationsprojekt des Center for Urban History in Lwiw. Den Start der Kooperation begleitete ein öffentliches Podiumsgespräch im Emil Schumacher Museum Hagen: „Krieg der Gegenwart, Krieg der Geschichte. Ukrainische und deutsche Perspektiven auf den Krieg in der Ukraine“.

Prof. Ackermann moderierte den Austausch mit vier Oral-History-Forschenden, die zum gemeinsamen Projektauftakt nach Hagen gekommen waren: Dr. Natalia Otrishchenko vom Center for Urban History in der westukrainischen Stadt Lwiw, Dr. Anna Wylegała von der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Warschau, Angela Beliak, die ab Oktober in Hagen Interviews auf Ukrainisch durchführen wird und dem freien Historiker Dr. Johannes Spohr aus Berlin. Ebenso international mischte sich das Publikum. Zu Gast waren auch rund 20 Menschen aus der Ukraine.

Gehört werden wollen

Alle Gesprächsgäste einte das Bewusstsein einer besonderen Verantwortung gegenüber den Menschen in der Ukraine. Doch was bringt es Betroffenen angesichts von gezielt herbeigeführter Gewalt überhaupt, an einem Forschungsprojekt teilzunehmen? Dazu nahm die ukrainische Oral-History-Expertin Natalia Otrishchenko Stellung: „Der Krieg nimmt uns viele Möglichkeiten, aber wir können bestimmen, wem wir unsere Geschichte erzählen, wann und wie wir sie bewahren.“ Aus Interviews werden so historische Quellen, die die spätere Aufarbeitung ermöglichen. „Auf diese Weise werden wir in der Lage sein, Brücken zwischen den verschiedenen Erfahrungen innerhalb der Gesellschaft zu bauen und uns der Außenwelt besser zu erklären.“

Nicht erst für die zukünftige Arbeit von Historiker:innen sind die Interviews relevant, sondern bereits im Hier und Jetzt. Das bestätigte die Erfahrung von Anna Wylegała aus Polen. Die Forscherin fragte die ukrainischen Teilnehmerinnen offen, warum sie das Interview-Projekt überhaupt unterstützen. In den meisten Fällen war die Antwort so kurz wie klar: „Ich will, dass man mich hört.“ Viele der Frauen hätten auch nicht darauf bestanden, anonym zu bleiben. „Diese Menschen hatten den Wunsch, ihre Geschichten anderen zu erzählen.“

Aus Sicht vieler Zeitzeuginnen und Zeitzeugen sind die Interviews nichts Beiläufiges, im Gegenteil, haben sie für manche etwas Sinnstiftendes: „Du brauchst einen anderen, um dich selbst zu verstehen“, erklärte Natalia Otrishchenko. Die ordnende Wirkung der Interviews helfe einigen gar beim „Zurückerobern der eigenen Zukunft“. Indem die Betroffenen über Künftiges sprechen, werde ihnen oft erst wieder bewusst, dass es inmitten des Schreckens überhaupt eine Zukunft für sie gibt.

Aufzeichnung der Veranstaltung

 

Gesellschaft mit Kriegserfahrung

Johannes Spohr berichtete wie der Krieg der Gegenwart für viele ältere Ukrainerinnen und Ukrainer zum tragischen Déjà-vu wurde. Nach einem Forschungsprojekt zur Geschichte der deutschen Besatzung der Ukraine unterstützt er heute Familien dabei, die Geschichte ihrer Verwandten im deutschen Vernichtungskrieg in der Sowjetunion aufzuarbeiten. Für ihn war im Februar 2022 sofort klar, dass es auch heute noch eine Verantwortung gegenüber den Überlebenden gibt: „Die Menschen, die den zweiten Weltkrieg noch erlebt haben sind eine sehr vulnerable Gruppe.“ Spohr formte deshalb ein Hilfsnetzwerk aus etwa 50 Initiativen und Gedenkstätten, das sich mit vereinter Kraft den Überlebenden der NS-Verfolgung in der Ukraine zuwendet. „Es ist ganz wichtig, aktiv sein zu können.“ Mit seinen Mitstreitenden organisiert er nun humanitäre Hilfe – bis hin zu Evakuierungen.

In Kiew wurde er von Angela Beliak unterstützt. Als langjährige Ukraine-Koordinatorin von Aktion Sühnezeichen steht sie seit Jahren intensiv mit der älteren ukrainischen Kriegsgeneration im Austausch. „Im Februar 2022 haben wir uns Gedanken gemacht, was mit den Überlebenden passiert, mit denen wir so lange zusammengearbeitet haben. Wie können wir diese Menschen unterstützen?“ Beliaks Schilderungen unterstreichen, was an diesem Abend immer wieder deutlich wird: Wissenschaftliche Beziehungen gehen angesichts der Notlage vielerorts in praktische Hilfe über. „Wir haben versucht, die Menschen erstmal mit ganz einfachen Sachen zu unterstützen – Lebensmitteln, Medikamenten…“

Foto: FernUniversität
Gesellschaftliches Engagement: Ludmila Merslikina baut als Ukrainerin Hilfsstrukturen in der Stadt auf. Auch Daniel George vom AStA der FernUniversität wirbt dafür, gemeinsam dranzubleiben und zu helfen.

Hilfsstrukturen in Hagen schaffen

Mehrmals bereicherten auch Gäste aus dem Publikum das Gespräch um ihre Sichtweisen – so etwa Ludmila Merslikina. Die Ukrainerin saß vergangenes Jahr beim Politischen Salon der FernUniversität auf dem Podium und sprach offen über den Krieg. Inzwischen arbeitet sie als Lehrerin in einer Willkommens-Klasse am Gymnasium Hohenlimburg und baut Hilfsstrukturen auf. Sie möchte den rund 1.500 ukrainischen Schutzsuchenden, vor allem Frauen und Kindern, helfen, nach vorne zu blicken – etwa, indem sie ihr Deutsch verbessern und neue Bildungs- und Berufsziele für sich finden. Aktuelles Projekt ist die Etablierung eines transkulturellen Vereins „Ukrainer in Hagen e.v.“. „Wir wissen nicht, welche Zukunft wir haben, hängen in der Luft. Auch ich weiß nicht, wie ich meine Zukunft planen kann, darf und werde“, nahm Merslikina Bezug auf die Worte ihrer Vorrednerinnen. Eben deshalb sei es jetzt so wichtig, gemeinsam Wege zu finden, um weiterzumachen.

Fernstudierende schauen hin

Lokale Hilfe organisieren, das ist auch Fernstudent Daniel George wichtig: „Wir haben als Studierendenvertretung versucht, in Hagen die zivilgesellschaftlichen Bemühungen zu unterstützen.“ Im AStA der FernUniversität ist George für Internationales zuständig und hat selbst einen starken biografischen Bezug zur Ukraine. Der AStA reagierte mithin schnell und unbürokratisch, öffnete zum Beispiel prompt seine studentische Bildungsherberge in Hagen: „Wir haben unser Studierendenhotel, das wir betreiben, vorübergehend für Flüchtlinge zur Verfügung gestellt.“ Der Studierendenvertretung liegt vor allem am Herzen, die Hilfe nicht abreißen zu lassen. So zog der AStA nun auch mit dem Lehrgebiet Public History, dem Transferbüro, der Gesellschaft der Freunde der FernUniversität und dem Emil Schumacher Museum an einem Strang, um das gemeinsame Podiumsgespräch möglich zu machen.

 

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Benedikt Reuse | 06.10.2023