Welche Funktionen haben Entführungen in der Literatur?

Viele Stücke und Singspiele des 18. Jahrhunderts handeln von Entführungen – sie faszinierten die Menschen. Warum eigentlich? PD Dr. Irmtraud Hnilica hat darüber habilitiert.


Gorilla klaut Frau Foto: CSA Images/Getty Images
Entführungen sind ein äußerst beliebter Erzählstoff – vom antiken Mythos bis zur modernen Popkultur. Betroffen sind dabei zumeist junge Frauen, die Reduzierung auf eine reine Opferrolle greift trotzdem oft zu kurz.

Was haben die schöne Helena und Emilia Galotti gemeinsam? Beide werden entführt. „Die Literatur hat sich schon immer für Entführungen interessiert; bereits im antiken Mythos, zum Beispiel mit der Entführung von Europa durch Zeus“, weiß PD Dr. Irmtraud Hnilica von der FernUniversität in Hagen. Sie hat ihre Habilitation über das Thema verfasst – der Titel: „Raptusformeln. Funktion und Ästhetik von Entführungen im bürgerlichen Trauerspiel, Abolitionsdrama und Singspiel des 18. Jahrhunderts“. Jetzt hat ihr die Fakultät für Kultur- und Sozialwissenschaften die Venia Legendi verliehen.

„Kein Wunder, dass der Topos der Entführung so interessant ist“, urteilt die Literaturwissenschaftlerin. Immerhin komme bei Entführungen besonders viel Spannendes zusammen – von Verbrechen und Gewalt über Sexualität bis hin zum Tod. Zu bestimmten Zeiten hatte das Thema jedoch besondere Konjunktur. Etwa in den Anfängen angloamerikanischer Literatur. „Sie gründet sozusagen im Entführungs-Narrativ“, resümiert Hnilica. „Die ersten Bestseller der angloamerikanischen Literatur im 17. Jahrhundert waren autobiografische Berichte von Siedlerinnen, die von ‚Indianern’ entführt worden sind.“

Neue wissenschaftliche Perspektive

Im angloamerikanischen Raum sind Erzählungen von Entführungen daher auch ein viel beforschtes Genre. Die deutsche Literaturwissenschaft hingegen hat sich nie so strukturiert mit dem Thema auseinandergesetzt. Hnilica stößt nun mit ihrer Habilitationsschrift in diese Lücke – und betont, wie viele deutschsprachige Texte eigentlich Entführungen thematisieren. Ihre Forschung konzentriert sich zunächst auf Dramen, Trauerspiele und Singspiele des 18. Jahrhunderts. „Es gab zum Beispiel das Genre des ‚Türkenstückes’“, erklärt Hnilica. Hierin werden junge Frauen von Osmanen in ihr Reich gebracht, der Mann reist hinterher und versucht, seine Angebetete zurückzuholen. Besonders prägend war etwa Wolfgang Amadeus Mozarts Oper Die Entführung aus dem Serail von 1782.

„Es erscheint zwar erstmal kontraintuitiv, aber auch rechtsgeschichtlich war die Entführungsehe die erste eigentliche Form einer Liebesehe.“

Irmtraud Hnilica

„Oft merken die Figuren während der Handlung dann: Im Orient ist es gar nicht so schlimm!“ Das Beispiel der sogenannten Türkenstücke offenbart damit eine wichtige Funktion des Entführungs-Themas. „Es ermöglicht, einen kulturellen Austausch in Szene zu setzen – sozusagen als diegetischer Trick“, erklärt die Forscherin. „Irgendwie müssen die Figuren aus verschiedenen Kulturen ja dazu gebracht werden, überhaupt in Kontakt miteinander zu kommen.“ Für das damalige Publikum hatten die Entführungen mithin oft einen exotischen und abenteuerlichen Reiz. Anders als in heute populären Genres, wie etwa im Krimi oder Thriller, ist das Thema nicht zwingend negativ besetzt.

Entführung aus wahrer Liebe?

So hängt eine weitere Funktion von Entführungen zum Beispiel damit zusammen, wie sich im 18. Jahrhundert die Darstellung von Gefühlen wandelte. „Man ist am Übergang zur emotionalen Moderne. Liebe, Ehe und Sexualität werden neu verhandelt“, so Hnilica. „Damals entsteht überhaupt erst unsere heutige Vorstellung, dass diese drei Dinge miteinander zu tun haben.“ Entführungen machen die philosophischen Überlegungen über Gefühle bühnenreif: Wer entscheidet über Liebe? Der Vater oder man selbst? Ist eine Ehe rational oder folgt sie dem eigenen Empfinden? „Im bürgerlichen Trauerspiel Miss Sara Sampson von Gotthold Ephraim Lessing lässt sich die weibliche Hauptfigur bereitwillig entführen, um sich der elterlichen Kontrolle zu entziehen“, erinnert die Literaturwissenschaftlerin. „Es erscheint zwar erstmal kontraintuitiv, aber auch rechtsgeschichtlich war die Entführungsehe die erste eigentliche Form einer Liebesehe.“ Eine Entführung kann auch aus einem Zwangszustand „herausführen“.

Gruppenfoto Foto: FernUniversität
Lehrgebietsleiter Prof. Dr. Uwe Steiner (li.) und Dekan Prof. Dr. Peter Risthaus gratulierten PD Dr. Irmtraud Hnilica zur Venia Legendi.

Soziale Entwurzelung thematisieren

Es kommt eben auf den Standpunkt an. Damit zusammen hängt noch ein Aspekt: Mit dem Erstarken eines freien und selbstbewussten Bürgertums, kommt es zu einer gewissen „sozialen Ortlosigkeit“ in der Gesellschaft. Wo gehöre ich hin? „Ich werde nicht mehr automatisch Bäcker, nur weil mein Vater es war. Man muss nun für sich erst einen neuen sozialen Ort finden und definieren“, sagt Hnilica. „Eine Idee von Individualität im modernen Sinne entsteht damals überhaupt erst.“ Die Entführung kann diese Ortlosigkeit veranschaulichen. Der Mensch wird kurzerhand umgetopft: Die tugendhafte Figur Sara Sampson etwa landet durch ihre Entführung in einer üblen Spelunke – ihr Vater, der sie hier sucht, ist außer sich angesichts der unwürdigen Kulisse. Für das damalige Publikum waren solche nicht standesgemäßen Konstellationen anregende Gedankenspiele.

Mitgefühl entwickeln…

Anknüpfen an die sich ausdifferenzierende Gefühlswelt wollten auch Abolitionsdramen. Im Mittelpunkt stehen hier keine bürgerlichen Figuren, sondern Sklavinnen und Sklaven. Ein bekanntes Beispiel ist das Stück Die Negersklaven von August von Kotzebue (1796). Hierin wird das Liebespaar Ada und Zameo gewaltsam voneinander getrennt und auf eine Plantage verschleppt. Dass die Liebesgeschichte das düstere Thema marginalisiert, findet die Forscherin nicht. Im Gegenteil: Gerade der emotionale Zugang schuf damals Empathie beim Publikum. „Es sollte zu einer Gefühlsgemeinschaft werden mit den leidenden Figuren auf der Bühne. Das ist der Kern der Dramen“, betont Hnilica.

…und Missstände ändern

„Die reine Tatsache, dass der Sklavenhandel unmenschlich ist, die Menschen auf den Sklavenschiffen sterben – all das war den Zeitgenossen bereits wohlbekannt.“ Die Entführungsstorys in den Abolitionsdramen trugen nun dazu bei, dass sich aus der nüchternen Bilanz echte Anteilnahme ableitete. „Für uns heute hat Mitleid ja einen eher schlechten Ruf. Mitleid ist vermeintlich billig. Wir sagen ironisch: ‚Eine Runde Mitleid‘. Oft wollen wir deshalb auch gar nicht, dass jemand Mitleid mit uns hat“, beobachtet Hnilica. „Lessing würde dagegenhalten: Mitleid ist das wichtigste! Als Gefühl aktiviert es mich und fordert mich auf etwas zu ändern.“

Zur Person

Nach ihrem Studium von 1999 bis 2005 in Heidelberg, Paris und Freiburg promovierte Irmtraud Hnilica 2010 an der Universität zu Köln. Im selben Jahr begann sie ihre wissenschaftliche Tätigkeit an der FernUniversität. 2018 bis 2020 hatte die Forscherin eine Vertretungs-Juniorprofessur an der Universität Trier inne. Von 2021 bis 2022 war sie Vertretungsprofessorin an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Seit 2019 ist Hnilica akademische Rätin an der FernUniversität. 2023 erhielt sie hier ihre Venia Legendi. Neben der Literatur vom 18. Jahrhundert bis heute liegen ihre Schwerpunkte auf Literatur- und Kulturtheorie Film, Theater und Singspiel sowie Gender und Postcolonial Studies.

 

Das könnte Sie noch interessieren:

Benedikt Reuse | 10.11.2023