Maßregelvollzug: Sinnvolle Alternative zum Knast?

Therapie statt Gefängnis – das ist eine Möglichkeit. Ob das Konzept aufgeht, ist auch eine psychologische Frage. PD Dr. Jan Querengässer hat sich dazu an der FernUni habilitiert.


Hände übergeben Drogen Foto: urbazon/E+/Getty Images
Auch manchen Dealer:innen erscheint der Maßregelvollzug attraktiver als eine Gefängnisstrafe – weshalb sie vor Gericht mit eigenen Suchtproblemen argumentieren.

Wer drogenabhängig ist, wird häufig auch straffällig. Dieser Zusammenhang ist nachweisbar –die Sucht zu überwinden allerdings schwer. „Therapeutische Gemeinschaft hilft“, davon ist PD Dr. Jan Querengässer überzeugt. Deshalb interessiert den Psychologen eine Besonderheit im deutschen Strafrecht: der Maßregelvollzug. Querengässer arbeitet unter anderem als Experte für forensische Psychologie am Institut für Versorgungsforschung des Landschaftsverbands Rheinland (LVR). Sein Fachwissen teilt er auch über das Institut hinaus. Für das Hagener Lehrgebiet Persönlichkeits-, Rechtspsychologie und Diagnostik (Prof. Dr. Andreas Mokros) ist er als Hochschuldozent tätig. Von der FernUniversität erhielt Jan Querengässer jetzt die Venia Legendi für seine Habilitationsschrift: „Die Neuvermessung des § 64 StGB. Eine Integration von Befunden der Epidemiologie, der Prozess- und Outcomeforschung zu forensischer Suchtbehandlung im deutschen Maßregelvollzug“.

Was ist das Maßregelrecht?

Grundsätzlich büßen Straffällige auch im Maßregelvollzug ihre Freiheit ein. Allerdings bietet er eine Alternative zur klassischen Haft hinter Gittern: „Haftstrafen sind sogenannte schuldäquivalente Strafen. Hier geht es darum, dass eine Strafe genau dem individuell zugemessenen Grad der Schuld entspricht“, ordnet Querengässer ein. Das Maßregelrecht richtet sich indessen präventiv aus: „Wenn jemand zum Beispiel eine Straftat begeht, weil er psychisch krank und dadurch schuldunfähig ist, kann er eigentlich nicht ‚bestraft‘ und eingesperrt werden.“ Der Maßregelvollzug soll die Gefährlichkeit von solchen Straffälligen auf anderem Weg reduzieren – zum Beispiel durch die Unterbringung in psychiatrischen Kliniken.

PD Dr. Jan Querengässer Foto: Benedikt Reuse

Therapieabbrüche sollten nicht verdammt, sondern als normal angesehen und das System flexibler gestaltet werden, sodass ein schnellerer Wiedereinstieg möglich ist.

PD Dr. Jan Querengässer

Stärken und Schwächen

Querengässer legt den Finger auf eine praktische Besonderheit im deutschen Strafrecht – den Paragraphen 64 des Strafgesetzbuchs: „Mit ihm kann der Maßregelvollzug auch substanzabhängige Menschen betreffen, die eigentlich voll schuldfähig sind.“ Diese verdienen im Grunde eine Strafe, die äquivalent zu ihrer Schuld ist. „Dennoch kommt der präventive Gedanke durch die Hintertür wieder herein: Wenn eine Straftat durch Drogensucht begründet war, erscheint es oft sinnvoll, die Straffälligen in einer forensischen Fachklinik zu behandeln.“ Diese Regel bietet zahlreiche Vorteile: So kann es etwa Junkies dabei helfen, den Teufelskreis aus Drogensucht und Kriminalität zu durchbrechen. Allerdings gibt es auch Schwächen: „Viele Straffällige haben den Eindruck, dass eine Therapie kürzer und angenehmer ist als der Knast“, weiß der Psychologe. „Deswegen plädieren sie vor Gericht darauf, nach § 64 StGB untergebracht zu werden – und stellen ihre Suchtproblematik übertrieben dar.“

System überlastet

Diese Tendenz ist problematisch: „Die Anordnungshäufigkeit von solchen Maßnahmen ist massiv gestiegen“, weist Querengässer auf ein Paradoxon hin: „In den letzten zehn Jahren haben sich die Anordnungszahlen verdoppelt – obwohl es nicht mehr substanzbezogene Straftaten gibt.“ Weil § 64 StGB offenbar viel schneller als früher zur Anwendung kommt, sind die meisten Kliniken inzwischen heillos überlastet. Aus Sicht des Experten ist das kein Wunder: „Die Vorrausetzungen für den Maßregelvollzug sind gar nicht so klar festgelegt. Sie bieten in sehr vielen Bereichen Interpretationsspielräume.“ Diese werden derzeit recht freimütig ausgelegt. „Gerade der § 64 StGB ist sehr beliebt – sowohl bei den Angeklagten, als auch bei den Gerichten, die damit wahrscheinlich etwas Gutes tun wollen.“

Häufiger Abbruch der Therapie

„Aus psychologischer Sicht sind vor allem die hohen Abbruchraten schwierig“, gibt Querengässer zu Bedenken. „Bundesweit werden um die 50 Prozent derjenigen, die nach § 64 StGB untergebracht sind, nicht zu Ende behandelt.“ Wurde die Behandlung als „aussichtlos“ eingestuft, landen die Verurteilten wieder im normalen Knast. „Dort sind Suchtmittel wieder relativ leicht zu beschaffen.“ Zudem gelten Häftlinge nach abgebrochenem Maßregelvollzug fast automatisch als hoffnungslose Fälle. „Natürlich gibt es auch im normalen Gesundheitssystem Abbruchquoten von 60 bis 70 Prozent bei Drogentherapien“, räumt der Forscher ein. „Im forensischen Zusammenhang resultiert daraus aber ein besonderes Problem.“ Die Abbruchquoten demotivieren die Behandelten wie die Behandelnden, so Querengässer. „Außerdem gibt es so etwas wie einen Drehtür-Effekt: Manche werden einfach mehrfach nach § 64 StGB verurteilt.“ Auf solche wiederholten Rückfälle kann das normale Gesundheitssystem eigentlich besser reagieren als das schwerfällige forensische.

Foto: FernUniversität
Prof. Dr. Andreas Mokros, Dekan der Fakultät für Psychologie, PD Dr. Jan Querengässer mit den Gutachtenden Prof. Dr. Robert Gaschler und Prof. Dr. Christel Salewski (v.li.)

Besserung in Sicht?

„In das System sind viele Berufsgruppen eingebunden. In den letzten Jahren gab es daher eine ziemlich breite Debatte.“ Diese hat sich bereits in einem politischen Reformprozess auf Bund-/Länderebene niedergeschlagen. Auch Querengässer war hier beratend tätig. Mit den Ergebnissen der jüngsten Novellierung des Paragraphen ist er allerdings nur bedingt zufrieden: „Im aktuellen Gesetzesentwurf, der am 22. Juni vom Bundestag verabschiedet wurde, finden wir einen sehr moderaten Umgang mit der Problematik.“ So versucht der neue Text vor allem, bisherige Interpretationsspielräume zu reduzieren. „Viele Änderungen sind vergleichsweise kosmetisch. Ein großer Teil der Reform könnte verpuffen“, befürchtet der Experte. Bestimmte juristische Aspekte begrüßt er hingegen. Welche Lösung würde er sich idealerweise wünschen? „Man sollte stärker die psychologischen Komponenten in der Urteilsfindung beachten. Therapieabbrüche sollten nicht verdammt, sondern als normal angesehen und das System flexibler gestaltet werden, sodass ein schnellerer Wiedereinstieg möglich ist.“

 

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Benedikt Reuse | 28.06.2023