„Völlige Zustimmung wäre psychotisch“

The West Wing oder House of Cards – viele populäre Serien und Filme kreisen um den Staat. Mit Staatsgenres von Propaganda bis Netflix befasst sich eine Tagung am 29. und 30. Juni.


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Was geschieht da hinter verschlossener Tür? Politische Serien imaginieren einen Einblick in die Black Box des Staatsapparats.

Der Staat. Ein gewichtiges Wort. Doch was ist damit überhaupt gemeint? Institutionen, Gesetze, Sprachen, Grenzen... Es gibt zahllose Begriffe, die sich mit ihm in Zusammenhang bringen lassen. Allein in der Politikwissenschaft finden sich völlig verschiedene Definitionen. Oft ist das allgemeine Bewusstsein medial geprägt – zum Beispiel von populären Filmen oder Serien. „Wir gehen davon aus, dass der Staat einer Fiktion bedarf, um überhaupt als zusammenhängende Einheit vorstellbar zu werden“, erklärt Medienwissenschaftlerin Jun.-Prof. Dr. Irina Gradinari. „Er wird dadurch erst in ein anschauliches Bild übersetzt.“ Gemeinsam mit ihrem Kollegen Prof. Dr. Michael Niehaus organisiert sie vom 29. bis 30. Juni eine Hybrid-Tagung in Hagen, die sich mit sogenannten „Staatsgenres“ auseinandersetzt. Die beiden Forschungsgruppen der FernUniversität „Gender Politics“ und „Figurationen von Unsicherheit“ kooperieren dafür. Interessierte sind willkommen.

„Die Bilder, die wir vom Staat haben, kommen natürlich nicht nur aus dem Film. Aber er ist ein dominantes Medium“, bekräftigt Gradinari. Der neue Oberbegriff „Staatsgenres“ soll bewusst ganz unterschiedliche filmische Genres umfassen. Das Forschungsteam ist offen für jedes Werk, das besondere Bedeutung erlangt hat. Das spiegelt sich auch im vielfältigen Tagungsprogramm wider.

Schlachten und Schlager…

„Auf die Idee gekommen bin ich durch Kriegsfilme“, erklärt die Forscherin, die unter anderem zu sowjetischen Kriegsfilmen habilitiert hat. „Aus Sicht der Sowjetunion waren sie zentral für die Legitimation des Staates.“ Sobald ein Filmprojekt auf irgendeine Weise mit antifaschistischem Krieg zu tun hatte, erhielt es staatliche Förderung durch die Sowjets. „Das wurde ausgenutzt und das Thema auf immer mehr Genres ausgeweitet.“ Auch im Westen spielte der Ost-West-Konflikt lange Zeit eine große Rolle – zum Beispiel in den Kinofilmen der James Bond-Reihe.

Die BRD kannte aber auch eigene Vorlieben – etwa die geschichtsvergessenen Heimatfilme der Nachkriegszeit. Hier inszenierte sich die junge Republik heiter, naturnah, manchmal musikalisch. Niehaus: „Wenn man sich die Heimatfilme aus den 1950er-Jahren anschaut, dann ist das auf erinnerungspolitischer Ebene eine Art Neuaufstellung. Die Trümmer des Kriegs gibt es einfach gar nicht darin. Die Filme erzeugen eine staatliche Identität, die diese Vergangenheit förmlich verdrängt hat.“

…Sonntagskrimis und Sixpacks

Ab den 1970ern erreichte die Wohnzimmer dann eine öffentlich-rechtliche Spielfilmreihe, die noch heute als typisch deutsch gilt: der Tatort. Ein quasi föderales Krimi-Format mit Ermittler:innen aus allen Teilen der Republik. „Der Tatort ist ein Spiegel der bundesdeutschen Gesellschaft in ihrer Entwicklung“, so Niehaus. „Das Besondere ist die Vielfalt: Alle Regionen kommen vor. Es geht um alle möglichen gesellschaftlichen Probleme von Prostitution bis Korruption, mal lustig, mal ernsthaft.“

Foto: Volker Wiciok/FernUniversität
Erforschen das Thema „Staat“ in Filmen: Irina Gradinari und Michael Niehaus

In den USA geht es hingegen weniger demokratisch zu. Hier sind kraftstrotzende Heldenfiguren angesagt, die in Personalunion für den American Dream kämpfen – im Western, Superheldenfilm oder Actionstreifen. „In den 1980ern wurde der erste Top Gun zum Beispiel vom US-Militär finanziert“, erinnert Gradinari. Als „Militainment“ verband Top Gun Werbung mit Unterhaltung, lockte junge Männer zur Armee. „…und ist interessanterweise zu einem schwulen Kultfilm geworden“, notiert die Gender-Forscherin mit Blick auf die Inszenierung von Männlichkeit.

Was geschieht hinter den Kulissen?

Es geht auch weniger brachial, ohne Schießereien und Explosionen: Viele aktuelle Serienproduktionen thematisieren das politische System direkt. Zum Beispiel die überaus erfolgreiche Serie The West Wing (1999-2006). „Sie spielte fast ausschließlich im Mitarbeiterstab des amerikanischen Präsidenten und sollte zeigen, wie Regieren funktioniert“, so Niehaus. „Damit enthüllt sie das, was man eigentlich nie sehen kann.“ Solche fiktiven Einblicke in die Black Box des Staates gibt es in verschiedenen Varianten: „In The West Wing ist es ein sehr empathischer Präsident, der nur das Beste will. Ein paar Jahre später erscheint das düstere House of Cards (2013-2018), das uns erzählt, dass wir dem Weißen Haus alles Böse zutrauen können.“

Eine europäische Serie hingegen näherte sich dem Staat als Comedy: Vor seiner Wahl zum ukrainischen Präsidenten war Wolodymyr Selenskyj Komiker und Schauspieler. Seinen Aufstieg ins Regierungsamt zeichnete er in Diener des Volkes (2015 bis 2017) vor. Darin wird ein einfacher Lehrer plötzlich zum Staatsoberhaupt. „Man sieht hier, wie prägend visuelle Medien wie Filme und Serien sind“, findet Gradinari. „Ich glaube schon, dass die Leute ihn gewählt haben, weil er als Präsident in der Serie sympathisch gewirkt hat.“

Keine totale Bejahung

Die beiden Forschenden betonen, dass solche Filme den Staat weder feiern noch einseitig kritisieren müssen. Gerade die Geschichten, die beim Publikum ankommen, lassen verschiedene Perspektiven zu. „Reine Bejahung zieht halt auch nicht. Das bewegt niemanden“, urteilt Niehaus. Als Beispiel nennt er das ungleiche Tatort-Ermittlerduo Schimanski/Tanner: Hier trifft eine anarchische auf eine eher regelkonforme Figur. Gradinari ist sich ebenfalls sicher, dass ein gewisses Maß an Subversion und innerer Reibung das System sogar stützt – und argumentiert im Sinne des slovenischen Philosophen Slavoj Žižek: „Ohne kritischen Abstand würde keine Ideologie funktionieren. Völlige Zustimmung wäre psychotisch.“ In populären Kinofilmen spiegele sich so etwas höchstens in exemplarischen Figuren wider – zum Beispiel in „Private Paula“ aus dem Vietnam-Drama Full Metal Jacket. Die staatliche Militärausbildung formt ihn zur Killermaschine. Im Moment, da er die amerikanische Kriegsideologie ganz und gar verinnerlicht hat, verzweifelt er jedoch – und begeht Selbstmord.

 

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Benedikt Reuse | 19.06.2023