Sozialpolitik im deutsch-französischen Vergleich
„Unser Sozialstaat verändert sich“, sagt PD Dr. Renate Reiter. Im Mai hat sie die Venia Legendi für das Fach Politikwissenschaft erhalten.
Grundsicherung statt Bürgergeld lautet ein zentrales Anliegen der neuen Bundesregierung. Pflichten und Sanktionen sollen für Arbeitssuchende verschärft werden nach dem Motto „Fördern und Fordern“. „Unser Sozialstaat verändert sich“, sagt PD Dr. Renate Reiter. „Das Zusammenspiel von finanziellen Sozial- und Transferleistungen und sozialen Dienstleistungen wird immer wichtiger.“ Das bisherige Bürgergeld ist ein typisches Beispiel für eine finanzielle Sozialleistung. Personen oder Familien erhalten staatliche Zahlungen, ohne dafür eine direkte Gegenleistung zu erbringen. Sie helfen, Risiken abzufedern und ein Mindestmaß an Lebensqualität zu gewährleisten. Soziale Dienstleistungen hingegen umfassen professionelle Hilfeleistungen wie Beratung, Betreuung, Pflege und Therapie. Es sind also praktische Unterstützungsangebote, die direkt an den Bedürfnissen der Menschen ansetzen.

Renate Reiter ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Lehrgebiet Politikfeldanalyse & Umweltpolitik an der FernUniversität in Hagen. Sozialstaatliche Politik im weitesten Sinne, dazu zählt vor allem Sozial-, aber auch Gesundheitspolitik, ist ihr Forschungsschwerpunkt. Dabei fokussiert sie sich auf den Vergleich zwischen Deutschland und Frankreich und richtet ihren Blick vor allem auf die kommunale Ebene. Im Mai hat sie ihre Habilitation mit dem Titel „Politikwandel im Wohlfahrtsstaat. Politik sozialer Dienstleistungen im deutsch-französischen Vergleich" abgeschlossen und die Venia Legendi für das Fach Politikwissenschaft erhalten.
Deutsch-französischer Vergleich
Dass Renate Reiter sich ausgerechnet für den Vergleich zwischen Deutschland und Frankreich interessiert, hat sich sehr früh in der Laufbahn der Wissenschaftlerin abgezeichnet. Schon während ihres politikwissenschaftlichen Studiums hatte sie ein Jahr in Frankreich studiert und letztlich ein deutsch-französisches Doppeldiplom erworben. In ihrer Doktorarbeit hatte sie dann bereits die soziale Stadtentwicklungspolitik in Deutschland und Frankreich gegenübergestellt.
„Beide Staaten lassen sich sehr gut miteinander vergleichen. Da es viele Gemeinsamkeiten gibt und man gleichzeitig gezielt Unterschiede herausarbeiten kann“, erklärt die Politikwissenschaftlerin. So haben beide Staaten ein ähnliches Sozialsystem, das sogenannte Bismarcksche Sozialstaatsmodell. Dort gibt es soziale Pflichtversicherungen wie beispielsweise die Krankenversicherung, die durch Beiträge von Arbeitnehmern und -gebern finanziert wird. Beide Staaten liegen zudem im Zentrum der EU, sind Gründungsmitglieder der EU beziehungsweise der EG und haben auch vergleichbare strukturelle Rahmenbedingungen. Deutschland ist jedoch ein Föderalstaat, Frankreich hat ein zentralistisches Regierungs- und Verwaltungssystem.
Geförderte Forschung
In einem sowohl von der DFG als auch vom französischen Pendant geförderten Projekt erforschte Renate Reiter während ihrer Habilitationszeit gemeinsam mit einem internationalen Team die Gesundheitspolitik Deutschlands, Frankreichs, Englands und Schwedens mit dem Fokus auf die ambulante gesundheitliche Versorgung in benachteiligten Räumen. Benachteiligte Räume sind Gebiete, in denen Menschen im Vergleich zu anderen Regionen schlechtere Versorgungsmöglichkeiten haben. „Unsere Ergebnisse haben gezeigt, dass Schweden es in diesen Gebieten deutlich besser macht, als die anderen Länder zum Beispiel mit besseren Maßnahmen gegen den Ärztemangel auf dem Land.“
Zur Person
Renate Reiter hat 2009 an der Universität Osnabrück promoviert und ist ebenfalls seit 2009 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Lehrgebiet Politikfeldanalyse & Umweltpolitik an der FernUniversität. Seit 2015 hat sie mehrere Forschungsprojekte geleitet und durchgeführt. Von 2017 bis 2019 war sie zudem Vertretungsprofessorin für Multilevel Governance an der Universität Leipzig.
Sozialpolitik und die kommunale Ebene standen in einem anderen Projekt im Vordergrund, das vom BMBF gefördert wurde, und ebenfalls in ihre Habilitation eingeflossen ist. Gemeinsam mit Kolleg:innen hatte sich Renate Reiter die psychiatrische und psychosoziale Versorgung Geflüchteter angeschaut. Geflüchtete sind häufig mehrfach traumatisierenden Erfahrungen ausgesetzt – in ihrem Herkunftsland, auf der Flucht und auch im Aufnahmeland. Dies führt zu einer erhöhten Anfälligkeit für psychische Erkrankungen. Das Projekt untersuchte, wie sich die Versorgung Geflüchteter seit dem Anstieg der Asylanträge 2015 institutionell entwickelt hat und welche strukturellen Veränderungen oder Defizite dabei sichtbar wurden.
Einen Teil der Ergebnisse eines weiteren BMBF-geförderten Forschungsprojektes stellte Renate Reiter während ihres Habilitationsvortrags vor. Gemeinsam mit einem Team aus Politik- und Verwaltungswissenschaftler:innen der FernUniversität und der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer ist sie in dem Projekt der Frage nachgegangen, welche Rolle Kommunen für den sozialen und politischen Zusammenhalt in Europa spielen? „Wir haben herausgefunden, dass die Kommunen Potential für Zusammenhalt besitzen, dies mitunter aber überschätzt wird.“ Vor allem Kommunen, die beispielsweise Städtepartnerschaften aktiv pflegen oder andere Europaaktivitäten engagiert verfolgen, also mehr tun, als nur ein Schild an den Ortseingang zu hängen, tragen tatsächlich zum europäischen Zusammenhalt bei.
Aktuelle Forschungsvorhaben
In ihrer kumulativen Habilitation spannte Renate Reiter einen Bogen über ihre unterschiedlichen Forschungsprojekte. Insgesamt sieben Aufsätze sind in diese eingeflossen. Mit dem Themengebiet abgeschlossen hat sie damit allerdings noch nicht. Anknüpfend an das Thema ihres Habilitationsvortrages würde sie sich in Zukunft beispielsweise gerne anschauen, ob der zunehmende Rechtspopulismus es Kommunen noch schwieriger macht, einen Beitrag zum europäischen Zusammenhalt zu leisten.
Unser Sozialstaat verändert sich. Das Zusammenspiel von finanziellen Sozial- und Transferleistungen und sozialen Dienstleistungen wird immer wichtiger.
PD Dr. Renate Reiter
Außerdem laufen bei ihr aktuell bereits zwei neue größere Forschungsvorhaben: In einem von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Projekt schaut sich die Politikwissenschaftlerin gemeinsam mit Forschenden der Helmut-Schmidt Universität Hamburg und der Hochschule Fulda den Öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD) an. Ziel ist es herauszufinden, wie sich der ÖGD auf kommunaler Ebene modernisiert und als Arbeitgeber neu aufstellt. „Hierfür haben wir sämtliche Gesundheitsämter in Deutschland befragt und müssen diese Ergebnisse nun auswerten.“ Insgesamt läuft das Projekt über zwei Jahre.
In einem parallel laufenden dreijährigen Projekt, das vom Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) gefördert wird, richtet Renate Reiter zusammen mit Kolleg:innen der Universitäten Bielefeld und Wien ihren Fokus auf Medizinische Versorgungszentren, genauer genommen auf solche in kommunaler Trägerschaft. Ein Medizinisches Versorgungszentrum (MVZ) ist eine ambulante Einrichtung, in der mehrere Ärztinnen und Ärzte verschiedener oder der gleichen Fachrichtung(en) unter einem organisatorischen Dach zusammenarbeiten, um eine umfassende medizinische Versorgung anzubieten. In Deutschland gibt es derzeit rund 4900 davon. Allerdings werden nur etwa 40 kommunal getragen. „Dabei haben Kommunen seit 2015 die Möglichkeit, eigene MVZs zu eröffnen. Wir möchten herausfinden, warum die Kommunen diese Möglichkeit so selten nutzen und was man tun könnte, damit es für sie attraktiver wird.“
Ihr Themenfeld inhaltlich zu beforschen, treibt die Wissenschaftlerin also auch über ihre Habilitation hinaus noch weiter an: „Es gibt in meinem Bereich noch viele spannende Fragestellungen. Ich bin auf jeden Fall noch lange nicht am Ende.“