Das Leben erzählt die Stadtgeschichte(n)
100 Jahre Hagener Heimatbund und 50 Jahre FernUniversität: Eine Tagung stellt den Zusammenhang von lokaler Geschichtsarbeit und biografischer Forschung in den Fokus.

Alles andere als ,heimattümelnd‘: Auf dem Campus der FernUniversität tauschten sich Vertreter:innen aus der FernUni-Wissenschaft, der lokalen Geschichtskultur, der Hagener Museen und dem Hagener Stadtarchiv darüber aus, welchen Stellenwert Lebensgeschichten für die lokale und regionale Geschichtsforschung und -arbeit haben.
„Biografien sind wichtig für die Stadtgesellschaft. Lebensgeschichten ermöglichen einen unmittelbaren Zugang zu Geschichte. Es sind emotionalisierte Geschichten, die unmittelbar berühren“, sagt Privatdozentin Dr. Eva Ochs vom Institut für Geschichte und Biographie (IGB) an der FernUni. „Autobiografien gehören zu den meistverkauften Sachbüchern. Die werden immer gern gelesen.“ Die Historikerin hat die Tagung vom Hagener Heimatbund und der FernUni anlässlich der beiden Jubiläen initiiert – ein Zeugnis fruchtbarer Kooperation zwischen FernUni, städtischen Fachvertreter:innen und zivilgesellschaftlichen Organisationen.
Lokale Erinnerungskulturen
Bereits die Eingangsrunde mit Kurzstatements aus unterschiedlichen Perspektiven machte deutlich, dass biografische Zugänge historische Forschung nicht nur anschaulich, sondern auch anschlussfähig für lokale Erinnerungskulturen machen. „Wie Menschen bestimmte Erlebnisse oder Prozesse erlebt haben, wie sich dadurch das eigene Leben entwickelt hat und wie sie das rückwirkend deuten, interessiert uns im Forschungsinstitut“, beschreibt Dr. Almut Leh vom IGB und verweist etwa auf den Umgang mit Biografien, die durch den Nationalsozialismus geprägt sind – und bis heute nachwirken. Individuell oder institutionell.

„In der Festschrift zum 50-jährigen Jubiläum des Heimatbundes ist die NS-Zeit eine Leerstelle, das ändert sich jetzt zum 100-Jährigen. Wir als Heimatbund thematisieren dieses dunkle Kapitel ganz bewusst im Jubiläumsjahrbuch. Es ist kein blinder Fleck mehr“, macht Michael Eckhoff als einer der Vorsitzenden vom Hagener Heimatbund und Stadtheimatpfleger deutlich, wie sich Perspektiven und Reflexionen auf die eigene Geschichte im Schulterblick verändern.
Wie stark das Handeln und Wirken – die Biografie – von Karl Ernst und Gertrud Osthaus durch deren Sozialisation geprägt wird, arbeitet Prof. Rainer Stamm, seit 2024 Fachbereichsleiter Museen und Archive der Stadt Hagen, in einer Biografie über das Ehepaar Osthaus heraus: „Beide sind aufgrund ihrer Kindheitserfahrungen gemeinsam aufgebrochen, Museen für zeitgenössische Kunst zu gründen.“ Stamm selbst, der zuletzt ein Museum in Oldenburg geleitet hat, ist in Hagen geboren und aufgewachsen. Hagen prägt.
Heroen versus kleine Leute
In den Vorträgen wurden etwa die visionären städtebaulichen Ideen des Kunstmäzens Karl Ernst Osthaus (Dr. Arndt Neumann, IGB) ebenso beleuchtet wie Gustav Harkorts Rolle als Wirtschaftsakteur im 19. Jahrhundert (Volker Hollmann, Hagener Heimatbund) oder die Unternehmensgeschichte der Hagener Brennerei Eversbusch als Spiegel familiärer Kontinuitäten. „Gedenkt man ,nur‘ der großen Söhne einer Stadt oder Region – selbst die großen Töchter fallen häufig runter – oder auch der sogenannten kleinen Leute?“, hebt Eva Ochs den roten Faden auf, der sich während der Tagung entspann. Dr. Bärbel Maul, die seit 2023 das Freilichtmuseum Hagen leitet, kommentierte: „Wer definiert denn Identifikationspersonen?“ An ihrer alten Wirkstätte in Rüsselsheim waren dazu jährlich Bürger:innen gefragt.
Prof. Felix Ackermann, Lehrgebiet Public History, plädierte dafür, keinen Unterschied in klein und groß zu machen: „Wir betrachten besser das symbolische Kapital einer Person oder einer Gruppe.“ Das unterstrich ein Beitrag, der sich mit der persönlichen Korrespondenz zwischen einer Mutter und ihren Kindern im Ersten Weltkrieg befasste. In den Briefen spiegelt sich die alltäglichen Nöte und Ängste, wie der Referent Jena Bergmann vom Hagener Heimatbund hervorhob. Ackermann selbst hat sich damit befasst, Bundeswehrsoldat:innen auf einen Einsatz in Litauen vorzubereiten: in einer ehemals jüdischen Stadt, die im Zweiten Weltkrieg durch die Wehrmacht zerstört wurde.
Diese Beispiele zeigen, wie historische Erfahrungen über Generationen hinweg in Biografien weiterwirken wie etwa in der Familiengeschichte von Ekkehard Müller-Kissing vom Hagener Heimatbund, der das Leben seines Hagener Großvaters zum Thema machte, und damit auch in der lokalen Geschichtsschreibung greifbar werden.
Heimat und Lebensgeschichte
In der Abschlussrunde wurde noch einmal deutlich, dass Begriffe wie „Heimat“ und „Lebensgeschichte“ eng miteinander verbunden sind – und dass die Auseinandersetzung mit individuellen Lebenswegen nicht nur Vergangenes dokumentiert, ebenso werden aktuelle Fragen von (neuer) Identität und (neuer) Zugehörigkeit berührt. „Das wirft auch die Frage auf, wo in Zukunft – vorangetrieben durch Digitalisierung – Archive liegen und wer sie führt“, schloss Ackermann den Bogen zwischen den Akteuren der Uni, den Museen und dem Heimatbund als zivilgesellschaftlicher Organisation.
„Hagen postkolonial”
Persönliche und fachliche Verbindungen zwischen dem Hagener Heimatbund und der FernUni bestehen über das gemeinsame Projekt „Hagen postkolonial“, für das sich u.a. Dr. Fabian Fechner (Lehrgebiet Geschichte Europas in der Welt) und das Thema in den Hagener Heimatbund hinein getragen hat. Fechner, der ab dem 1. Juli 2025 ein Forschungsstipendium bei der Gerda Henkel Stiftung wahrnimmt, wurde auf der Tagung besonders geehrt.