„Man spricht viel zu selten über die Ziele“
Eine große Tagung zur frühneuzeitlichen Philosophie brachte Gäste aus aller Welt auf dem Hagener Campus zusammen. Organisator Prof. Martin Lenz erklärt, worum es dabei ging.

Ein Kreis schließt sich: 2004 wurde die European Society for Early Modern Philosophy (ESEMP) mit einer Konferenz an der FernUniversität in Hagen ins Leben gerufen – auf Initiative von Prof. Dr. Hubertus Busche, der damals das Lehrgebiet Philosophie I leitete. Jetzt, rund 20 Jahre später, lädt die Fachgesellschaft erneut nach Hagen ein: Zum 7. Internationalen ESEMP-Kongress: „Why and How Do We Study Early Modern Philosophy Today?“
Der Name der dreitägigen Konferenz ist Programm: „Warum und auf welche Weise sollten wir heutzutage frühneuzeitliche Philosophie studieren?“, übersetzt Prof. Martin Lenz die zentrale Fragestellung der Konferenz. In den vergangenen drei Jahren leitete er die ESEMP und seit 2024 leitet er auch das einstige Lehrgebiet von Prof. Busche. Das internationale Treffen in Hagen hat er federführend organisiert. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) förderte die Tagung mit ihrem vielfältigen Programm – von der Early Career Session bis hin zum Round Table. Keynotes kamen von Mogens Lærke (Oxford) und Anik Waldow (Sydney).
Ziele klar benennen
„Man spricht viel zu selten über die Ziele, warum man seine Wissenschaft überhaupt betreibt“, stellt der Philosoph eine Grundannahme der Konferenz heraus. Was ist damit gemeint? „Wir haben in der Philosophie eine sogenannte Kanon-Expansion“, nennt er ein Beispiel. „Das heißt, man versucht, den Literaturkanon zu ergänzen um Leute, die bislang kaum gelesen wurden.“ Meistens zählen dazu Angehörige unterrepräsentierter Gruppen – etwa Philosophinnen. Aber warum überhaupt den Kanon erweitern? Warum nicht bei den alten Werken bleiben? „In diesem Fall scheint die Antwort eine politische zu sein“, erklärt Lenz. „Es gibt das Ziel Gleichberechtigung, dem eine Forschungsagenda nachfolgt.“ Als Forscher identifiziert er sich selbst mit diesem Anliegen. Dennoch sei es wichtig, solche Zielvorstellungen, das „Warum?“ explizit zu reflektieren – und sei es nur, um die richtige Methode für die eigene Arbeit zu wählen.

Vielfältige Methoden nutzen
„Und unsere Methoden in der Philosophie sind inzwischen sehr vielfältig geworden“, kommt Lenz zur zweiten große Konferenzfrage nach dem „Wie?“. Mit dicken Büchern im stillen Kämmerlein sitzen? Diesem Bild entspricht die wissenschaftliche Arbeit immer seltener. „Die Digitalisierung hat uns viele Möglichkeiten gebracht.“ Als Beispiel nennt Lenz die sogenannten Digital Humanities – eine junge Strömung innerhalb der Philosophie, die sich digitale Werkzeuge zunutze macht. „Es geht hier oft darum, Texte zu erschließen, Editionen herzustellen oder Frequenzen zu erkennen“, so Lenz. „Zum Beispiel könnte ich eine Künstliche Intelligenz anweisen, mir alle Dissertationen zu einem gewissen Thema in einer bestimmten Region herauszusuchen.“ Eine solche Computeranalyse kann unter anderem helfen, Vorurteile und subjektive Fehlannahmen auszugleichen: „Man sieht dann zum Beispiel: ‚Philosoph xy‘ war in seiner Epoche eigentlich gar nicht so dominant wie angenommen.“
„Wie sind wir hierhergekommen?“
An die Fragen nach dem „Wie?“ und „Warum?“ schließen sich für Lenz grundsätzliche Überlegungen zur Relevanz seiner Disziplin an. „Wenn wir uns selbst verstehen wollen, dann finden wir uns in unterschiedlichen Geschichten wieder – je nach individuellem Hintergrund“, so der Philosoph. „Kann man zum Beispiel die FernUni als Projekt verstehen, wenn man die bildungspolitische Situation der 1970er Jahre in NRW nicht kennt?“ Für ihn ist Geschichte kein linearer Ablauf, der zwangsläufig im Fortschritt endet, sie ist asynchron und von subjektiven Vorrausetzungen abhängig. „Wie sind wir hierhergekommen? Und warum sind wir nicht alle an derselben Stelle angekommen?“ Richtig angewandt, hilft die Philosophie dabei, solche Fragen zu beantworten und ideengeschichtliche Erzählstränge zu ordnen.
Alternativen aufzeigen
Obwohl die Philosophie somit häufig auf sich selbst bezogen bleibt, kann sie neue Denkanstöße geben: „Philosophie lebt nicht vom Fortschreiten, sondern vom wiederholten Zurückkehren zu Themen. Sie könnte etwa als ein großes Gespräch über alle Zeiten hinweg betrachtet werden – in diesem entdeckt man allerdings häufig Alternativen zum vorherrschenden Denken.“ In diesem Wechselspiel aus Altem und Neuem, Etabliertem und Alternativem verortet Lenz auch die lebendigen Debatten der internationalen Konferenz.
Buntes Treiben auf dem Campus
Ums Aufbrechen etablierter Strukturen ging es dabei nicht nur inhaltlich: „Mit der Konferenz haben wir auch ein Mentoring-Angebot für Forschende in frühen Karrierephasen gemacht.“ Ihnen wurden nach Abfrage von bestimmten Keywords Mentor:innen zugewiesen, sodass fachliche Tandems entstanden. „Etablierte Leute sind dann in die Vorlesungen von Jüngeren gegangen und konnten Feedback geben – und umgekehrt selbst neue Impulse sammeln.“ Der Plan ging auf, auf der Konferenz mischten sich alle Generationen. „Mein Eindruck war, dass das sehr gut ankam.“ Die Koordination im Vorfeld und vor Ort hat sich gelohnt. Um die vielen Menschen auf dem Campus und während des Rahmenprogramms in Hagen gut zu betreuen, brauchte es ein großes Team. „Es gab einiges zu tun!“, betont Martin Lenz. „Ich bedanke mich herzlich bei allen, die mitgeholfen haben.“
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