„Europa ist eine Einheit seit der Antike“

Fühlen wir uns eher deutsch oder europäisch? Fragen gemeinsamer Identität beschäftigen die Verfassungswissenschaft und erfahren durch geopolitische Entwicklungen neue Brisanz.


Europäische und deutsche Flagge im Wind Foto: JARAMA/iStock/Getty Images

Wer die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, der trägt zugleich die europäische Unionsbürgerschaft. Diese doppelte Identität spiegelt sich auch verfassungsrechtlich wider. Denn die EU wie ihre Mitgliedstaaten verfügen jeweils über eigene konstitutionelle Rahmen. Wie aber stehen beispielsweise das deutsche Grundgesetz und der Vertrag über die Europäische Union (EUV) miteinander in Bezug? „Darüber brauchen wir eine kultivierte Debatte, in der wir nicht unnötig polarisieren“, erklärt Prof. Dr. Peter Schiffauer. Als stellvertretender Direktor des Dimitris-Tsatsos-Instituts für Europäische Verfassungswissenschaften erkennt er eine historische Tiefe: „Aus geistesgeschichtlicher Sicht ist Europa eine Einheit seit der Antike. Im Mittelalter hat sich das in der wissenschaftlichen Gemeinschaft und Oberschicht fortgesetzt, die Lateinisch und Griechisch sprach.“ Damit bestand so etwas wie eine europäische Identität sowohl vor der Bildung einzelner Nationen als auch danach. „Ob in Deutschland, Frankreich oder Italien – dort wurde immer über den Tellerrand des Nationalstaates hinausgeschaut.“

Verfassungsrechtliche Dimension

Die verfassungsrechtliche Dimension zeigt sich gut am Beispiel Deutschlands, das sein Grundgesetz 1949 bekam. Im seitdem vorherrschenden Vertrauen auf Staat und Verfassung sieht Prof. Schiffauer eine starke demokratische Kraft: „Das Grundgesetz war eine glückliche Schöpfung, die der Bundesrepublik erlaubt hat, sowohl die Jahre bis zur Einigung von Ost und West als auch danach in innerem Frieden zu leben; politisch offen, aber unter Anerkennung eines gemeinsamen Rahmens.“ Hüter der im Grundgesetz formulierten Werte ist das Bundesverfassungsgericht. Es wahrt sie nicht nur nach innen, sondern setzt auch der EU Grenzen. Im Idealfall widersprechen sich nationale und europäische Interessen dabei nicht, sondern verzahnen sich sinnvoll. „Die deutsche Verfassung ist offen für eine transnationale Integration, aber eben nur unter der Bedingung, dass sie demokratisch verläuft“, betont Schiffauer. „Blickt man auf die Werte der EU wie Menschenwürde, Minderheitenschutz oder Rechtsstaatlichkeit, erkennt man, dass es korrespondierende Identitäten sind, keine gegensätzlichen.“

Vortrag zum Thema

Gastredner: Dr. Wilhelm Lehman

Vortragstitel: „Zwischen Art. 2 und Art. 4 EUV: Nationale und europäische Grundlagen gemeinschaftlicher Identität“

Wann? 9. Februar um 17:00 Uhr

Wo? Online via ZOOM und vor Ort im Gebäude 8 der FernUniversität, Raum B 121 (1. OG), Universitätsstr. 21, 58097 Hagen

Alle Infos zur Veranstaltung

EU nicht als „Superstaat“ erdacht

In ähnlicher Weise verfügen auch die anderen 26 Mitgliedstaaten über nationale Gerichtsbarkeiten, die sich immer wieder neu zum EU-Recht in Beziehung setzen. Dem Kerngedanken der Union steht dieser Pluralismus jedoch keineswegs entgegen. Im Gegenteil benennt auch die jüngste Reform ihres Vertragsrahmens von 2007 die Vielfalt als wesentliche Basis: „Im Vertrag von Lissabon ist festgelegt: Die europäische Union achtet die Identität der Mitgliedsstaaten“, so Schiffauer. „Das war eine Klausel, die den guten Sinn hatte, zu sagen: Wir bauen ein gemeinsames Europa aber nicht in der Form eines Super- und Einheitsstaates, der alles von oben herab regeln will, sondern eines Zusammenschlusses, der die besonderen Eigenheiten, Traditionen und Identitäten der Menschen in ihren verschiedenen soziokulturellen Zusammenhängen erhält.“

Das funktioniert so lange, wie sich alle Mitgliedsstaaten auf denselben Wertekanon berufen. Allerdings ist das nicht garantiert: „Wir sehen problematische Entwicklungen in Ungarn und Polen, den Brexit. Wir wissen nicht, wie sich die Mitte-Rechts-Koalition in Italien entwickelt oder die Wahlen in Frankreich ausgehen können“, mahnt Schiffauer. „Es bleibt sogar unvorhersehbar, wie es in Deutschland weitergeht.“ Deshalb sei es aus nationaler Sicht völlig legitim, sich abzusichern – so wie in der BRD eben durchs Verfassungsgericht: „Wenn sich die Europäische Union in eine Richtung entwickeln würde, die die Achtung der Menschenwürde infrage stellt, wäre es die vornehmste Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, sich dem entgegenzuwerfen.“

Wenn wir auf die bedeutenden geopolitischen Fragen blicken, sehen wir mehr Europa als es die Verträge und das ganze institutionelle Gerangel erahnen lassen.

Prof. Dr. Peter Schiffauer

Kontrollmechanismus der EU unzureichend

Auch die Union besitzt mit Artikel 7 EUV ein Kontrollinstrument: Mitgliedstaaten, die die Werte der EU verletzen, kann sie theoretisch ihr Stimmrecht im Europäischen Rat entziehen. Also dem Gremium, das maßgeblich die politische Agenda der EU bestimmt. Die Wirkmacht des Mechanismus stellt Schiffauer allerdings infrage: Um den Rechtentzug aufzuhalten, reicht nämlich ein einfaches Veto. „Momentan verhindern Ungarn und Polen, also genau die beiden Staaten, die die Werte der Union infrage stellen, dass von Artikel 7 Gebrauch gemacht werden kann.“ Als der EU-Vertrag entstand, rechnete kaum jemand mit einem Demokratie-Abbau. „Dass er in zwei EU-Staaten zugleich stattfinden könnte, war damals unvorstellbar. Man kann also nie genug auf der Hut sein!“

Trotzdem hält der Experte die EU für entscheidungskräftig. „Das hat man sehr schön in der Corona-Pandemie gesehen“, nennt Schiffauer ein Beispiel. „Die Interessen der Mitgliedsstaaten lagen weit auseinander. Trotzdem haben sie sich geeinigt, einfach, weil sie sich einigen mussten!“ So komplex die Identitätsfragen zwischen EU und Einzelstaaten auch sein mögen, Peter Schiffauer ist sich in Anbetracht von Gefahren wie dem Ukraine-Krieg sicher: „Wenn wir auf die bedeutenden geopolitischen Fragen blicken, sehen wir mehr Europa als es die Verträge und das ganze institutionelle Gerangel erahnen lassen.“

Vertiefender Blick am 9. Februar

Auf einen vertiefenden Blick rund um Fragen zu nationaler und europäischer Identität freut sich Prof. Schiffauer am Donnerstag, 9. Februar: Das Dimitris-Tsatsos-Institut begrüßt den renommierten EU-Forscher Dr. Wilhelm Lehmann auf dem Campus der FernUniversität in Hagen. Sein Gastvortrag trägt den Titel: „Zwischen Art. 2 und Art. 4 EUV: Nationale und europäische Grundlagen gemeinschaftlicher Identität“. Interessierte können an der Veranstaltung online via ZOOM oder vor Ort in Hagen (s. Infobox) teilnehmen. Wilhelm Lehmann ist Autor zahlreicher bedeutender Studien zur europäischen Integration, in denen er sich insbesondere mit Fragen zur Verfassung der EU auseinandersetzt.

 

Das könnte Sie noch interessieren

Benedikt Reuse | 01.02.2023