Alles kommt übers Meer
Reines Landtier war der Mensch nie – zu groß ist der Einfluss des Meeres auf seine globale Geschichte und Gegenwart. Das zeigte jetzt eine hybride Tagung an der FernUniversität.

Wer an den Globus denkt, denkt wohl automatisch ans Meer. Die Erde, größtenteils von Wassermassen bedeckt, zeigt sich aus dem Weltall als blauer Planet. Nicht nur geografisch ist das Meer omnipräsent – auch beim Blick zurück in die Geschichte erscheint das Wasser als große Konstante. Deshalb legte jetzt auch die Gesellschaft für Globalgeschichte (GfGG) mit ihrer Jahrestagung einen besonderen Fokus auf die „Maritime Globalgeschichte“. Der Kongress fand über drei Tage hinweg auf dem Campus der FernUniversität in Hagen statt. Ein wesentliches Argument: Wasser trennte zwar schon immer unterschiedliche Regionen der Welt voneinander – ermöglichte genauso oft aber auch erst den Austausch unter ihnen. Ob interkontinentaler Handel, Zuwanderung, Tourismus oder Krieg – im großen Stil wäre nichts davon ohne Zugang zum Meer denkbar. „Zum Beispiel laufen noch immer 90 Prozent des Warentransports übers Meer“, erklärt FernUni-Historiker Prof. Dr. Jürgen G. Nagel. Der Leiter des Lehrgebiets Geschichte Europas in der Welt organisierte gemeinsam mit seinem Team und Kollegen PD Dr. Felix Schürmann (Historisches Museum Frankfurt) den Jahresgipfel der Fachgesellschaft.
Globalisierung übers Wasser
Das Team rät zur Abkehr vom reinen „Terrazentrismus“. „Der große globale Zusammenhang ist das Meer“, bekräftigt Tabea U. Buddeberg, Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Lehrgebiet. Die Weltmeere? Eigentlich ein riesiger Gesamt-Ozean. „Alles bedingt sich hier gegenseitig.“ Ein planetarer Blickwinkel, der auch das Tagungsprogramm prägte: Sechs große Vortragsblöcke warfen Schlaglichter auf verschiedene Stationen und Entwicklungen der Weltgeschichte – vom ersten Einbaum bis zum hochtechnisierten Kreuzfahrtschiff. „Schon in vorgeschichtlichen Zeiten, von der keine Schriftzeugnisse existieren, gab es Verbindungen über die Meere“, betont Prof. Nagel. „Sie waren schon damals sehr wichtig und haben gar zur Genese von Bevölkerungsgruppen beigetragen.“ Lebewesen, Waren, Ideen – alles Mögliche fand über die Meere auf fremde Landmassen. „Globalisierung ist keine Sache der späten Moderne.“

Raus aus der Technikfalle
„Das Meer ist aber nicht nur ein Durchgangsraum, durch den man irgendwohin gelangt“, ergänzt Lehrgebietskollege Dr. Fabian Fechner. „Für viele ist es selbst ein dauerhafter Lebensraum – etwa für Schiffsbesatzungen.“ Solche Orte auf dem und rund ums Wasser, möchten die Historiker:innen erforschen. „Durch den maritimen Blick fallen manche Orte überhaupt erst auf: zum Beispiel Häfen, Hafenstädte oder eben Schiffe. Das alles sind Orte, an denen viel passiert und Neues möglich ist.“
Dabei empfiehlt Fechner, geisteswissenschaftliche Stärken bewusst zu nutzen, nicht zu sehr in technische Details abzurutschen und diese überzubetonen. „Wenn man in klassische Schifffahrtsmuseen geht, dann sieht man vor allem viele Schiffsmodelle“, so Fechner. „Tobias Goebel hat das in seinem Vortrag ideologiekritisch betrachtet.“ Demnach hätten manche Museen versucht, die Katastrophen des 20. Jahrhunderts zu übertünchen, indem sie eine bruchlose Erfolgsgeschichte der Technik inszenierten. Goebel arbeitete für das Deutsche Schifffahrtsmuseum in Bremerhaven und baut das neue Hafenmuseum in Hamburg mit auf.
Weg vom Eurozentrismus
„Die Technik ist oft Teil einer sehr westlich geprägten Perspektive“, problematisiert Leo Ryczko, Mitarbeiter im Lehrgebiet, den tradierten Eurozentrismus. „Sie tut so, als wären die indigenen Schiffe und Boote nicht auch voll hochkomplizierter Technik gewesen, und teilweise auch in der Lage mehrere Tonnen transportieren zu können.“ Die Leistungen anderer Kulturen, sie wurden von der westlichen Geschichtswissenschaft oft nicht ausreichend gewürdigt. „Technik ist nicht nur, wenn es dampft und Krach macht“, pointiert Ryczko.
„Das fand ich am Vortrag von Jan Simon Karstens spannend“, nimmt Tabea Buddeberg Bezug aufs Tagungsprogramm. „Wie selbstverständlich für native Seemächte in Nordamerika das Leben an und im Wasser war.“ So immens die navigatorische Leistung europäischer Großmächte im Rückblick auch erscheinen mag, „ohne indigenes Wissen wären sie oft einfach gegen das nächste Riff gefahren“, sagt Ryczko.
Das Meer ist lebendig
Ist das Meer nicht manchmal doch eher Barriere denn Straße? „Klar, dass etwas verbindet, heißt nicht, dass es ungefährlich ist“, sagt Nagel. „Zum Beispiel kam man über manche Meere lange Zeit gar nicht richtig, weil die Piraten viel zu stark waren. Die Gefahren sind da, die See ist unberechenbar – und noch heute geht viel auf hoher See verloren.“ Heute sind es vor allem Umweltaspekte, die auch den Blick aufs Meer und seine Fährnisse neu justieren: Klimawandel, abschmelzende Polkappen, steigende Meeresspiegel, Überschwemmungen und Stürme – die Ökologie wird vor allem von der sogenannten Akteur-Netzwerk-Theorie als lebendiger „Aktant“ ernstgenommen. „Zum Beispiel haben manche Fischschwärme inzwischen ihre Wanderrouten verändert, als Folge der Überfischung“, erinnert Leo Ryczko an eine Wechselwirkung, die Johanna Sackel in ihrem Vortrag thematisiert hat.
Zwischen Kolonialismus und Tourismus
Buddeberg schlägt schließlich die Brücke zurück zu einem Schwerpunkt des eigenen Lehrgebiets: die Erforschung von Kolonialismus und seinen Folgen. Orte von Unrecht und Sklaverei – viele von ihnen gelten heute eher als exotische Urlaubsparadiese. „Einerseits möchte man die romantisierten Strände touristisch nutzen, andererseits sind es Massengräber“, so Buddeberg. Wie schwer es ist, erinnerungspolitisch damit umzugehen, besprach PD Dr. Ulrike Schmieder in ihrem Vortrag. Prof. Dr. Ulrike Nennstiel thematisierte zudem die Auswirkungen von Massentourismus auf indigene maritime Gesellschaften.
In seinem Fazit wird das Organisationsteam dann doch einmal selbst „technisch“: Die besondere Ausstattung der FernUniversität ermöglichte es, dass die Jahrestagung zum ersten Mal hybrid ausgerichtet wurde – also gleichzeitig vor Ort und im digitalen Stream. „Es waren sehr viele von unseren Studierenden da“, freut sich Jürgen Nagel. „Das lag uns am Herzen, schließlich sind sie die nächste Generation von Globalgeschichtler:innen.“