DIY-Gegenkultur: Kritik, die nach vorne geht

Anna Daniel wirft mit ihrer Habilitation einen soziologischen Blick auf Do-it-yourself-Bewegungen – und dringt dafür auch zu deren Wurzeln vor, die in der Punk-Szene liegen.


Sänger schreit in ein Mikrofon Foto: NickS/E+/Getty Images
Auch wenn die Musikrichtung Hardcore-Punk auf viele roh und laut wirkt – meist geht es um positive Energie und den Mut, Dinge selbst in die Hand zu nehmen.

Was hat der französische Philosoph Michel Foucault mit Punk zu tun? Mehr als man denkt, findet PD Dr. Anna Daniel von der FernUniversität in Hagen. Die Soziologin hat vor kurzem an der Fakultät für Kultur- und Sozialwissenschaften ihre Venia Legendi erhalten. Ihre Habilitationsschrift schlägt eine Brücke von den historisch-philosophischen Untersuchungen des Franzosen hin zu einem Thema, das praxisbezogener nicht sein könnte: der Kultur des Selbermachens – bekannt unter dem englischen Schlagwort „Do-it-yourself“, oder kurz DIY.

Habilitationsschrift

„Die Kunst, es anders zu machen – Eine Soziologie der kritischen Praxis in Anschluss an Foucaults Spätwerk“

„Im Zusammenhang mit der Klimakrise sind mir viele Praktiken des Andersmachens aufgefallen“, erinnert sich Daniel. „Zum Beispiel, der Trend wieder mehr selbst zu gärtnern. Oder das Containern, um weggeworfene Lebensmittel vor der Verschwendung zu bewahren.“ Es sind solche DIY-Initiativen aus der Breite der Gesellschaft, die Anna Daniel interessieren: von der Ausleihbibliothek, über Mietshaus-Syndikate und Reparaturcafés bis hin zu ziviler Seenotrettung. Sie beschreiben nicht nur einen Missstand – hier wird direkt angepackt und gezeigt, wie es anders geht. Doch wie lassen sich solche Praktiken theoretisch greifen? „Es gab bisher keinen geeigneten Ansatz, der diese spezielle Form der Kritik in den Fokus rückt“, so die Akademische Rätin. Anknüpfungspunkte fand sie jedoch in den späten Vorlesungen Foucaults. „Er vertritt ein sehr viel weiteres Verständnis von Kritik – und bezieht eine praktische und transformatorische Dimension mit ein.“

Der Art und Weise, wie Kritik geübt wird, hat Foucault sehr viel mehr Aufmerksamkeit geschenkt, als dies von der Foucault-Rezeption bisher beachtet wurde – entsprechend viel hatte Anna Daniel mit der Aufbereitung zu tun: „Der Hauptteil meiner Arbeit war die Rekonstruktion von Foucaults Genealogie der Kritik.“ Mit seiner historischen Analyse verschiedener Kritikpraktiken hoffte der Denker selbst etwas zu bewirken: „Er wollte diejenigen unterstützten, die in lokale Kämpfe und Kritikpraktiken eingebunden sind.“ Daniel arbeitete Foucaults Ansätze weiter aus und entwickelte daraus eine eigene „Soziologie der kritischen Praxis“.

Kulturelle Wurzeln von DIY

Doch von Foucaults historische Betrachtungen zurück auf die Straße – und zu den Wurzeln der DIY-Kultur: „Wir müssen los!“, so fasste einst das Punk-Urgestein Agnostic Front ein Lebensgefühl zusammen, in ihrem Song „Gotta go“. Los geht’s! Etwas tun, einfach machen, beweglich bleiben. Die Hardcore-Punks der 1980er-Jahre entwarfen mit ihrer Selfmade-Ästhetik und offenen Mitmachkultur ein neues Verständnis von Selbstständigkeit, Ermächtigung und Gemeinschaft. „Was ich an der Bewegung inspirierend finde, ist der Solidaritätsgedanke, der eine große Rolle spielt“, wertet Anna Daniel. Aus ihrer wissenschaftlichen Sicht ist die Geschichte der Szene hochrelevant. Denn auch heutige Formen von „Gegenverhalten“, wie Foucault es genannt hätte, stehen noch im pragmatischen Geist der Hardcore-Punks. „Es hilft, sich mit historischen Formen der Kritik auseinanderzusetzen, um selbst zu lohnenden Formen zu kommen.“

Ästhetik des Selbstgemachten

Wie sah die kritische Praxis in der Hardcore-Szene aus? Statt etablierten kommerziellen Spielregeln zu folgen, wurden Musikaufnahmen in der Garage produziert, Kassetten-Cover und Fanshirts kurzerhand selbst gemalt, eigene Zeitungen gebastelt und Konzerte in Kellern oder Jugendzentren organisiert. Wegweisende Bands wie Minor Threat, Gorilla Biscuits, Black Flag, Bad Brains, Dead Kennedys und viele andere erreichten zwar weltweite Bekanntheit in der Untergrundszene – Stars im herkömmlichen Sinne wurden die Musiker:innen jedoch nie, und wollten es auch nie werden. „Es war eine Kritik am Ausverkauf der Szene. Die Punks wollten sich ihre Kunst nicht von der Industrie wegnehmen lassen.“ Der Szene mit ihren zahllosen neuen Indie-Labels ging es um einen bodenständigen Gegenentwurf. „Teilweise gab es nicht mal richtige Plattenverträge“, erklärt Daniel. „Alles basierte auf Vertrauen.“

Foto: FernUniversität
Dekan Prof. Michael Stoiber (li.) und Prof. Frank Hillebrandt (Allgemeine Soziologie und Soziologische Theorie) gratulierten Anna Daniel zum Meilenstein.

Was machen wir jetzt?

Auch wenn sich die Bewegung über Jahrzehnte in zig Untergenres verästelt hat, es gibt sie noch, und ihr Engagement ging schon immer über die eigene Liebe zur Musik hinaus: „Die Punk-Szene ist zum Beispiel sehr umtriebig bei Initiativen gegen Rassismus“. Mittlerweile finde sich der DIY-Spirit auch in vielen anderen Szenen, betont die Soziologin – von selbstorganisierten Hip-Hop-Jams bis zur heimlichen Electro-Party im Wald. „Es gibt auch heute viele junge Menschen, die ähnliche Werte vertreten“, sagt Daniel mit einem Augenzwinkern, „nur inzwischen vielleicht mit einem anderen Musikgeschmack.“

 

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Benedikt Reuse | 02.09.2025