Korb für einen Jahrhundertroman

1960 cancelte der Bremer Senat einen Literaturpreis für Günter Grass‘ „Blechtrommel“. Was steckte dahinter? Studierende begaben sich auf Spurensuche in den Archiven der Hansestadt.


Eine Blechtrommel Foto: John Smith/Corbis/Getty Images
Kein Trommelwirbel für Grass: Auf dem letzten Meter verhinderte der Senat 1960 die Vergabe des Bremer Literaturpreises für das damals von vielen als anstößig wahrgenommene Werk des Schriftstellers.

Eigentlich hat sich der Literaturpreis der Stadt Bremen seit seiner Gründung 1954 einen guten Ruf erarbeitet: Bisher zeichnete der Senat bekannte Größen aus, etwa Ingeborg Bachmann, Ernst Jünger oder Paul Celan. 1960 soll sich ein weiterer erfolgreicher Autor einreihen: Günter Grass, der ein Jahr zuvor mit seinem Roman „Die Blechtrommel“ für Aufsehen gesorgt hat. Doch zur Vergabe des Preises kommt es nicht. Der Senat der Hansestadt stellt sich gegen die Jury-Entscheidung; Grass erhält keine Auszeichnung – angeblich aus „moralischen Gründen“. Ein Skandal in der Literaturszene der Bundesrepublik, der die Jury düpiert zurücklässt und den Preis als kulturelle Institution ramponiert. Erst 1962 kommt es zu einer Neuformierung. Der Zensur bezichtigt, sorgt der Senat dafür, dass der Literaturpreis fortan von einer unabhängigen Stiftung vergeben wird.

Soweit die medial bekannte Erzählung. In Bremen schlummert jedoch noch mehr Hintergrundwissen zur historischen Blamage: Für die FernUniversität in Hagen öffneten jetzt das Staatsarchiv und das Günter-Grass-Medienarchiv ihre Pforten. Studierende der Kultur- und Literaturwissenschaft folgten im Rahmen eines Exkursionsseminars, geleitet von Prof. Dr. Peter Risthaus (Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Mediengeschichte), der Einladung – um am Grass-Beispiel mehr über Archivarbeit zu lernen.

Die Blechtrommel (1959)

Der Debütroman von Günter Grass erzählt von Oskar Matzerath, der im Alter von drei Jahren beschließt, nicht mehr zu wachsen. Mit einer Blechtrommel als lautstarkem Ausdrucksmittel verarbeitet und kommentiert er seine Erlebnisse während Nationalsozialismus und Nachkriegszeit in Danzig. In der noch jungen Bundesrepublik sorgten die scharfen Beobachtungen und expliziten Darstellungen im Buch für Gesprächsstoff, viele fühlten sich durch den Inhalt provoziert. Auch wegen seiner Sprengkraft zählt das Werk noch heute zu den einflussreichsten deutschen Romanen des 20. Jahrhunderts.

Persönliche Verbindung

Eine der Teilnehmenden war Kerstin Herrnkind, Studentin im literaturwissenschaftlichen Master an der FernUni. (FernUni-Porträt über Kerstin Herrnkind) Eine akribische Spurensuche in den Katakomben des Bremer Staatsarchivs? Für die Journalistin und Buchautorin ein Pflichttermin: „Ich hatte einen persönlichen Grund, am Seminar teilzunehmen.“ Denn von 1995 bis 1999 arbeitete Herrnkind als Redakteurin für die taz in Bremen. In dieser Zeit führte sie eines der letzten Interviews mit Annemarie Mevissen zum Thema „Frauen in der Politik“.

Mevissen war von 1967 bis 1975 stellvertretende Regierungschefin der Hansestadt. 1960, zur Zeit des Grass-Skandals, war sie als Jugendsenatorin tätig. Damals schoss sich die öffentliche Debatte vor allem auf ihre Person ein. „Die Presse hatte sie damals für den Skandal haftbar gemacht“, so Herrnkind. Die gängige Erzählung: Mevissen habe die Auszeichnung der Blechtrommel aus Gründen des Jugendschutzes abgelehnt. Eine Episode, über die die SPD-Frau im taz-Interview mit Herrnkind jedoch nicht sprechen wollte – was die junge Journalistin damals zwar akzeptierte, „aber wissen, was dahintersteckt, wollte ich eigentlich schon.“ Die Exkursion im Fernstudium brachte eine neue Wendung für Herrnkind: „Jetzt hatte ich endlich die Chance, mehr über den Skandal zu erfahren.“

„Armselig um deutsche Literatur bestellt“

„Wir durften mit den Originalen arbeiten“, erzählt Herrnkind. „Wir haben wirklich die kompletten Akten zur Verleihung des Literaturpreises zu sehen bekommen – inklusive des Senatsprotokolls.“ Die Recherche in den originalen Dokumenten ergab für die Literaturstudentin schließlich ein weitaus differenzierteres Bild, als gemeinhin kolportiert. Bürgermeister Wilhelm Kaisen war zwar der Ansicht, dass der Senat „nicht über künstlerische Werte urteilen“ könne, gab aber zu bedenken, dass der Senat der Verfassung verpflichtet sei und die „Sittlichkeit und die Menschlichkeit“ beachten müsse, zitiert Herrnkind eine Passage. Sie hat sich das Protokoll abgescannt. Weiter zitiert sie Senator Dr. Georg Borttscheller, der meinte, „die in der ,Blechtrommel’ anstößigen Stellen“ seien „vielleicht nicht schädlich“, allerdings sei das „keine Literatur mehr, die vom Staat durch eine Preisverleihung gefördert werden dürfe.“

Senator Dr. Wilhelm Nolting-Hauff hielt die „Grenze zur Pornografie“ für „überschritten“. Senator Alfred Balcke warnte gar: „Ein solches Werk könne nicht vom Senat ausgezeichnet werden. Wäre einer solchen Arbeit ein Welterfolg sicher, sei es armselig um die deutsche Literatur bestellt.“ Senator Karl Eggers schickte voraus, dass er „noch keine Gelegenheit gehabt“ habe, das Buch zu lesen, wies jedoch „grundsätzlich“ darauf hin, „dass es nicht Aufgabe des Senats sein könne, über die Moral der Bürger zu wachen.“ Eggers war damals gerade Wirtschaftssenator geworden – und von Hause aus Schmied. „Er war einer der wenigen Nichtakademiker und hat meiner Meinung nach die vernünftigste Meinung vertreten“, sagt sie.

Gruppenfoto auf Treppe Foto: privat
Wieder aus den Tiefen des Archivs aufgetaucht: die Teilnehmenden der Exkursion (links unten Kerstin Herrnkind, dahinter Seminarleiter Prof. Peter Risthaus)

Überraschend ausgewogene Meinung

Und Annemarie Mevissen? War die öffentliche Kritik an ihr berechtigt? Wirkte die damalige Jugendsenatorin tatsächlich als wesentliche Triebfeder? „Mevissen sagte, sie hätte den Roman zur Hälfte gelesen und sei ungewöhnlich gepackt gewesen. Sie habe keine Zweifel daran, dass das Buch auf dem Wege in die Weltliteratur sei. Die Jury habe ein richtiges Urteil gefällt.“ Mevissen stellte auch klar, dass Grass keine „Kritik an menschlichen Dingen“ übe, sondern „seine Hauptperson in die Abnormität der Zeit“ stelle. Der Roman lasse „keine Identifizierung von Gut und Böse zu.“ Einige Stellen schienen ihr allerdings „geradezu pervers“, sagte sie und gab zu bedenken, dass es passieren könne, „dass die Kommission für jugendgefährdende Schriften fordere, den Band auf die Liste der Bücher zu setzen, die nicht in die Hände Jugendlicher gehörten.“

Daher Mevissens vorsichtige Empfehlung: Der Senat solle sehr wohl erwägen, ob einem Schriftsteller ein staatlicher Preis für ein solches Werk verleihen werden könne.“ Herrnkind: „Das ist eine eher differenzierte Meinung, die Annemarie Mevissen im Senat geäußert hat. Als Jugendsenatorin meinte sie vielleicht, dass es ihre Pflicht sei, darauf hinzuweisen. Dass vor allem sie dann als Frau und Jugendsenatorin am Ende von der Presse verhaftet wurde, war für mich als Studentin der Literatur- und Medienwissenschaft sehr interessant.“

Handeln aus Loyalität?

Auch Mevissens Verschwiegenheit im taz-Interview erklärt sich für Herrnkind jetzt: „Ich glaube nun zu verstehen, warum Frau Mevissen über die Sache nicht mehr reden wollte. Sie war ihren Senatskollegen gegenüber loyal. Hätte sie mit mir darüber gesprochen, hätte sie Farbe bekennen müssen – und die teils viel schärferen Meinungen der übrigen Senatoren offenbaren müssen.“ Herrnkind freut sich, durch die wissenschaftliche Brille im FernUni-Seminar Einblicke bekommen zu haben, die ihr als Journalistin bislang verwehrt waren.

„Der Blick ins Archiv lohnt sich“, rät sie daher Mitstudierenden, die noch auf Themensuche, zum Beispiel für Abschlussarbeiten, sind. Persönlich komplettierte sich für Kerstin Herrnkind das bislang noch unvollständige Bild von Mevissen: „Ich muss sagen, Hochachtung vor dieser Frau und ihrer Loyalität.“ Karriere machte die SPD-Politikerin übrigens ungeachtet des Skandals: 1967 ging sie als erste Bürgermeisterin in die Stadtgeschichte ein.

 

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Benedikt Reuse | 18.08.2025