Demokratie leben lernen

Wie fit sind Kinder in der 5. und 6. Klasse, wenn es um Politik geht? Das fragte ein gemeinsames DFG-Projekt der FernUniversität in Hagen und der Justus-Liebig-Universität Gießen.


Schüler:innen in Klassenraum Foto: Catherine Delahaye/DigitalVision/Getty Images
Wie blicken Schüler:innen der 5. und 6. Klasse auf Politik?

„Demokratie setzt ein Mindestmaß an politischem Interesse und politischer Beteiligung voraus – aber mündige Bürgerinnen und Bürger fallen eben nicht vom Himmel“, erklärt FernUni-Wissenschaftlerin Patricia Kamper. „Das Verständnis für Demokratie und demokratisches Verhalten muss von jeder Generation neu erlernt werden.“ So auch von den Wähler:innen von morgen. Wie diese aktuell auf Demokratie und politische Prozesse blicken, untersuchten Wissenschaftler:innen in einem großangelegten Forschungsprojekt: „Demokratie Leben Lernen 2.0: Politische Sozialisation zu Beginn der Sekundarstufe I“. Geleitet wurde das kooperative Vorhaben von Prof. Dr. Markus Tausendpfund (FernUniversität, Arbeitsstelle Quantitative Methoden) und Prof. Dr. Simone Abendschön (Justus-Liebig-Universität Gießen, Institut für Politikwissenschaft). Als wissenschaftliche Mitarbeiterinnen aus Hagen und Gießen waren Patricia Kamper und Mical Gerezgiher beteiligt. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) fördert das Projekt von 2022 bis 2026.

Erhebung mit besonderer Zielgruppe

„Uns ging es vor allem um Grundlagenforschung“, betont Prof. Abendschön eine Besonderheit der Studie: Anders als üblich nahm sie keine Jugendlichen ab Jahrgangstufe 7 in den Fokus, die in Teilen bereits Politikunterricht erhalten, sondern setzte noch darunter an. So befragte das Forschungsteam systematisch 5. und 6. Klassen verschiedener Schulen – eine Alterskohorte, die bislang weitestgehend unter dem Radar der Forschung geblieben ist. Dabei ist der Prozess der politischen Sozialisation ein lebenslanger: „Politische Wahrnehmung startet nicht erst mit 15 oder 16 Jahren“, sagt Prof. Tausendpfund. „Kinder nehmen Politik schon deutlich früher wahr! In der Schule wird das aber leider kaum aufgegriffen.“

Vorläuferprojekt

Die DFG förderte bereits von 2000 bis 2010 das Projekt „Demokratie Leben Lernen“ an der Universität Mannheim. Hierin fragten Simone Abendschön, Meike Vollmar und Markus Tausendpfund unter der Leitung von Jan W. van Deth die politische Orientierung von Grundschulkindern ab.

Um möglichst aussagekräftige Ergebnisse zu erzielen, fand die Erhebung in zwei Wellen statt: Im Schuljahr 22/23 nahmen 20 Schulen und 1288 Kinder teil. Ein Jahr später, im Schuljahr 23/24, machten 18 Schulen und 1101 Kinder bei der Befragung mit. 774 Kinder konnten zweimal infolge befragt werden. Räumlich konzentrierte sich die Erhebung auf ein Gebiet in Mittelhessen, bezog Städte wie Gießen, Butzbach, Wetzlar oder Marburg, aber auch kleinere Kommunen mit ein.

Kinder füllten Fragebögen aus

„Wir sind in die Klassen gegangen und haben dann eine Unterrichtsstunde zur Verfügung gehabt“, sagt Mical Gerezgiher. Der Fragebogen mit 64 Fragen wurde im gemeinsamen Gespräch erklärt; die Antworten gaben die Kinder dann eigenständig. Inhaltlich ging es sowohl um grundlegendes politisches Wissen als auch um individuelle demokratische Werte und Normen der Schüler:innen. Das Forschungsprojekt umzusetzen, gestaltete sich komplex, die Organisation herausfordernd, erklärt Prof. Tausendpfund: „Es wird für die Wissenschaft immer schwieriger in die Schulen reinzukommen – weil die Institutionen ohnehin schon überlastet sind.“ Außerdem seien weitreichende Regularien zu beachten: „Wir haben zum Beispiel die Zustimmung des hessischen Kultusministeriums, der Schulleitungen, Lehrkräfte und Eltern einholen müssen, bevor wir loslegen konnten.“ Eine weitere Schwierigkeit war die Corona-Pandemie, die den Schulbetrieb zu Beginn des Projekts 2022 durcheinanderwirbelte.

Starkes Fundament…

Was hat die Studie herausgefunden? Zunächst zieht das Team eine positive Bilanz: „Wir stellen fest, dass auf jeden Fall Grundkenntnisse vorhanden sind“, fasst Kamper zusammen. „Zentrale Begrifflichkeiten wie ‚Demokratie‘ oder ‚EU‘ und auch zentrale Ämter wie ‚Bundeskanzler‘ oder ‚Bundespräsident‘ sind auch in dieser Altersklasse durchaus bekannt.“ Auch bei den demokratischen Normen und Werten ist eine stabile Basis gelegt: Zum Beispiel zeigt sich eine hohe Zustimmung zu zentralen Grundsätzen wie Gleichbehandlung, Gesetzestreue und weiteren demokratischen Prinzipien. Zudem teilen viele Kinder ein weitgehend modernes Geschlechterrollenbild und tolerieren Vielfalt.

Foto: FernUniversität
Forschungsteam (v.li.): Markus Tausendpfund, Simone Abendschön, Patricia Kamper und Mical Gerezgiher

…mit einigen Rissen

Dennoch bleibt ein deutlicher Wermutstropfen: „Zwischen den Kindern gibt es große Unterschiede.“ Bemerkbar macht sich ein Gender-Gap: Beim politischen Wissen bleiben Mädchen hinter den Jungen zurück. Auch scheinen Sprache und Herkunft große Auswirkungen zu haben. Der Unterschied des Bildungsgangs – Gymnasium oder nicht – macht sich ebenfalls bemerkbar. „Eine wichtige Rolle spielen auch Faktoren wie das politische Interesse und politische Gespräche in der Familie“, so Kamper. Auch das kulturelle Kapital zählt – also zum Beispiel der Zugang zu Büchern im Haushalt.

Durch den zweiteiligen Aufbau der Befragung lässt sich auch eine Entwicklung ableiten. „Wir stellen fest, dass die Kinder von der 5. zur 6. Klasse einen Wissenszuwachs erleben“, resümiert Gerezgiher. „Ihre Wertorientierung bleibt weitestgehend stabil, war ja aber bereits in der 5. Klasse auf relativ hohem Niveau.“ Allerdings: Auch die Unterschiede zwischen den Kindern nehmen weiter zu. „Die Schere geht hier weiter auseinander.“

Familien nicht allein lassen

„Die Chancen zum politischen Wissenserwerb sind nicht für alle Kinder gleich. Soziale Ungleichheit spielt bereits in dieser frühen Phase der Biografie eine Rolle“, resümiert Kamper. Was leitet das Forschungsteam daraus ab? „Politische Bildung sollte schon möglichst früh in den Schulunterricht integriert werden – sei es als eigenes Fach oder in anderer Form. Damit einher geht auch eine gute Dialog- und Diskussionskultur.“ Diese könnte zum Beispiel durch regelmäßige Klassenratssitzungen usw. gefördert werden. „So wird das Thema Politik in den Alltag integriert“, sagt Kamper. „Demokratie leben zu lernen – das geht am besten in der Praxis.“ Markus Tausendpfund appelliert: „Schulen müssen früher damit anfangen, insbesondere benachteiligte Gruppen zu fördern.“ Auch Simone Abendschön ist sich mit Blick auf die unterschiedlichen sozialen Startbedingungen von Kindern sicher: „Wir dürfen es nicht nur den Familien überlassen, für politische Bildung zu sorgen.“

 

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Benedikt Reuse | 12.12.2025