Wenn aus Opernabenden Gute-Nacht-Lieder werden

Eine neue Studie der FernUni zeigt: Nach der Geburt des ersten Kindes brechen kulturelle Aktivitäten stark ein und erholen sich selbst nach zehn Jahren nicht vollständig.


Kulturelle Teilhabe von Eltern Foto: Mike Harrington/Getty Images
Zeit im Wohnzimmer statt im Konzertsaal: Mit Kindern verlagert sich kulturelle Freizeit oft nach innen.

Es beginnt meist leise. Erst fällt der Theaterbesuch aus, dann das Konzert, schließlich auch das Sonntagskino. Wo früher spontane Kneipenabende möglich waren, dominieren heute Abendrituale und Einschlafgeschichten. „Als Eltern spürt man sofort, wie sich Prioritäten verschieben“, sagt PD Dr. Hendrik Sonnabend von der FernUniversität in Hagen. „Dass es ein Absinken bei kulturellen Aktivitäten gibt, würden viele erwarten, aber wie groß und dauerhaft dieser Rückgang ist, hat uns dann doch überrascht.“

Gemeinsam mit Prof. Dr. Matthias Westphal (Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Wirtschaftspolitik) hat Hendrik Sonnabend (Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Internationale Ökonomie) untersucht, wie sich die Geburt von Kindern auf die kulturelle Teilhabe von Eltern auswirkt. Grundlage der Studie ist das Sozio-oekonomische Panel (SOEP), eines der umfangreichsten Langzeit-Datenprojekte Deutschlands, bei dem seit 1984 einmal jährlich Privathaushalte zu Einkommen, Wohnsituation, Bildung, Gesundheit, Lebenszufriedenheit und politischen sowie gesellschaftlichen Einstellungen befragt werden.

Mütter und Väter haben unterschiedliche Hürden

Das zentrale Ergebnis ist deutlich: Mit der Geburt des ersten Kindes sinkt die Teilnahme an kulturellen Aktivitäten um 13 bis 54 Prozent – je nach Aktivität. Dieser Einbruch betrifft Beschäftigung mit Kunst wie Museumsbesuche, kulturelle Veranstaltungen, Sport und auch Kino- oder Konzertbesuche gleichermaßen.

Besonders bemerkenswert: Die Teilnahme erholt sich selbst nach zehn Jahren nicht wieder auf das Niveau vor der Elternschaft. „Das war eines der überraschendsten Ergebnisse“, sagt Sonnabend. „Selbst wenn das jüngste Kind schon in der Schule ist, holen Eltern den kulturellen Rückstand nicht auf.“ Dabei ist der kurzfristige Effekt zunächst mechanisch: weniger Zeit, weniger Flexibilität, mehr Betreuung. Aber auch langfristig scheint die Einschränkung bestehen zu bleiben – ein struktureller Einschnitt im Lebensrhythmus, der nachhaltiger wirkt als vermutet.

PD Dr. Hendrik Sonnabend Foto: Hardy Welsch

„Selbst wenn das jüngste Kind schon in der Schule ist, holen Eltern den kulturellen Rückstand nicht auf.“

PD Dr. Hendrik Sonnabend

Der Rückgang betrifft beide Geschlechter, aber auf unterschiedliche Weise. Mütter reduzieren ihre kulturellen Aktivitäten zunächst stärker und übernehmen mehr Haus- und Betreuungsarbeit. Bei Vätern sinkt dadurch die Wahrscheinlichkeit, kulturell überhaupt aktiv zu sein. Sonnabend erklärt: „Viele kulturelle Aktivitäten werden gemeinsam als Paar erlebt. Wenn einer nicht kann, geht der andere oft auch nicht.“ Das betrifft etwa Theater- oder Museumsbesuche besonders stark. Finanzielle Unterschiede spielen hingegen eine geringere Rolle als erwartet: Eltern mit höherem Einkommen erleben denselben Einbruch.

Die Sache mit den Zwillingen

Um herauszufinden, ob zusätzliche Kinder noch einmal den Kulturkalender durcheinanderwirbeln, nutzte das Forschungsteam auch Zwillingsgeburten als natürliches Experiment. Eltern, die bei der ersten Geburt ungeplant Zwillinge bekommen, wollten ursprünglich nur ein Kind – erhalten aber durch Zufall zwei. Dieser Vergleich erlaubt es, den Effekt eines zusätzlichen Kindes besonders klar zu identifizieren. Das Ergebnis: Ein weiteres Kind – selbst wenn es gleichzeitig geboren wird – führt nur zu deutlich milderen oder gar keinen zusätzlichen Effekten.

Der kulturelle Einschnitt ist somit kein schrittweiser Prozess, beim dem jedes weitere Kind ein Stück Kultur kostet. Vielmehr zeigt sich, dass Elternschaft selbst der entscheidende Wendepunkt ist.

Was bedeutet das für Politik und Kultur?

Kulturelle Teilhabe fördert nachweislich Wohlbefinden, Integration und sozialen Zusammenhalt. Wenn sie gesellschaftlich erwünscht ist, dann müssen Angebote stärker auf Eltern mit kleinen Kindern zugeschnitten werden. Sonnabend formuliert es so: „Wir zeigen, wo die Hürden liegen. Die Studie macht deutlich: Der entscheidende Einschnitt findet beim ersten Kind statt. Also wäre hier ein Hebel, an dem dem Kultur- und Familienpolitik ansetzen kann.“

Ideen wären zum Beispiel: Familienfreundliche Kulturformate mit flexiblen Uhrzeiten, Betreuungsangebote in Kulturinstitutionen, um Eltern eigene Kulturerlebnisse zu ermöglichen, niedrigschwellige, lokale Kulturangebote, die ohne großen Aufwand erreichbar sind oder am besten direkt Programme, die Kinder- und Erwachsenenangebote parallel denken.

Dass Kultur für viele Eltern leiser wird, ist nicht überraschend. Dass sie so lange leise bleibt, schon. Die Studie macht sichtbar, wie stark die Lebensphase der frühen Elternschaft die kulturelle Teilhabe prägt. Und sie zeigt, dass es sich lohnt, Eltern auf dem Weg zurück in die Kultur zu unterstützen. Denn Kultur bleibt – auch und gerade für Familien – ein wesentlicher Bestandteil eines lebendigen gesellschaftlichen Miteinanders.

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Sarah Müller | 18.12.2025