„Inzwischen empfinde ich die Wiedervereinigung auch als Gewinn“

Dr. Gregor Gysi brillierte im „Lüdenscheider Gespräch“ mit Prof. Alexandra Przyrembel und Prof. Arthur Schlegelmilch mit biografischen Geschichten und politischen Anekdoten.


„Die DDR ist kein Unrechtsstaat, aber es hat viel grobes Unrecht gegeben.“ Dr. Gregor Gysi vertrat klare Positionen. Diese hatte er sich für den Abschluss aufgehoben. Nach etwas über anderthalb Stunden beendete der Privatmensch und Politiker Gysi einen gleichsam unterhaltenden wie informativen Abend in der Reihe „Lüdenscheider Gespräche“ der FernUniversität im Rahmen des Hagener Forschungsdialogs. Die Videoaufzeichnung der Veranstaltung startet vom Foto rechts aus.

Die Moderation übernahmen Prof. Dr. Alexandra Przyrembel, Leiterin des Lehrgebiets Europäische Moderne, und Prof. Dr. Arthur Schlegelmilch, Direktor des Instituts für Geschichte und Biographie an der FernUniversität.

Bereits eine Dreiviertelstunde vor Beginn ist der Vortragssaal bis auf den letzten Platz besetzt. Auch der zweite Saal füllt sich schnell, in den die Gesprächsrunde mit Gregor Gysi per Video übertragen wurde. Um drei Minuten nach dem offiziellen Beginn rauscht Gysi herein: Die Show kann beginnen.

Gysi beherrscht das Podium – nicht laut und grell, sondern mit Witz und Charme. Der Bundestagabgeordnete und führende Kopf der Partei Die Linke brilliert als der bekannte Rhetoriker. Sich zu entziehen fällt schwer.

„Antifaschistisch eingestellt“

Der damals jüngste Rechtsanwalt der DDR (1979) redet über seine Sozialisation in Ost-Berlin, die starken Frauenpersönlichkeiten in seinem häuslichen Umfeld und seinen Vater. Klaus Gysi, der 1931 der Kommunistischen Partei Deutschlands beitratund für die DDR unter anderem als Botschafter und Kulturminister arbeitete. „Als er Kulturminister wurde, war ich echt sauer“, bekennt Gregor Gysi, damals 18 Jahre alt und „antifaschistisch eingestellt“.

Politische Kurz-Vita

Dr. Gregor Gysi, Jahrgang 1948, Sohn des DDR-Kulturministers Klaus Gysi, vertrat als Rechtsanwalt Rudolf Bahro, Robert Havemann und Bärbel Bohley. Seit 1967 war Gysi Mitglied der SED, von 1989 bis 1993 Parteivorsitzender der SED-PDS und von 2005 bis 2015 Fraktionsvorsitzender der Partei Die Linke im Deutschen Bundestag.

Er selbst genoss vor allem durch seine familiäre Situation gewisse Privilegien in der DDR: den Zugang zu Kunst und Kultur und die Besuche aus dem Ausland, die seinen Horizont erweiterten. Plus die wöchentliche Ausgabe des Spiegels. „Die bekam ich von dem damaligen Spiegel-Korrespondenten in der DDR zugeschickt. Musste also nicht durch den Zoll. Plötzlich hatte ich viele neue Freunde, die mich einmal in der Woche besuchten“, erzählt Gysi, der im Dezember zum Präsidenten der Europäischen Linke gewählt worden ist. „Vorsitzender war ich schon so häufig, aber jetzt bin ich zum ersten Mal Präsident.“ Seine Augen blitzen schalkhaft.

Gysi unterhält, informiert und bildet anderthalb Stunden. Seine politischen Botschaften hält er bis zum Schlusswort zurück. Sie klingen in seinen biografischen Geschichten zunächst nur durch. Für den Rechtspopulismus der Alternative für Deutschland indes findet er deutliche Worte: „Sie sprechen zwar eine klare Sprache, wissen aber, dass es die Unwahrheit ist.“

Publikum beim Lüdenscheider Gespräch mit Gregor Gysi Foto: FernUniversität
Im vollbesetzten Saal im Kulturhaus Lüdenscheid saßen auch Rektorin Prof. Ada Pellert und Gründungsrektor Prof. Otto Peters (v.).

Wendezeit: Rolle als Vermittler

Auch wenn er nach der Wende 1989/1990 zunächst für den Fortbestand der DDR eintrat, forderte Gysi die Aufarbeitung der DDR-Geschichte ein. Als Parteivorsitzender der SED-PDS vertrat er die Gefühlslage vieler Ostdeutscher. „Ich habe ja immer DDR gelebt“, sagt er über sich selbst und als Ausweis seiner Selbstironie: „Das DDR-Recht beherrschte ich perfekt, da wollte ich nicht auf das bundesdeutsche umschwenken.“ Abhauen wollte er nie, schätzte das Volkseigentum – „nur mit Freiheit und Demokratie war es problematisch. Inzwischen empfinde ich die Wiedervereinigung auch als Gewinn.“

Es geht auch um seine Rolle als Vermittler in der Wendezeit. „Wolfgang Schäuble hat mir attestiert, dass dank meiner kein einziger Schuss gefallen ist.“ Der Linke und die CDU – kein Liebesverhältnis. Dennoch erzählt er auch gern Anekdoten über Begegnungen mit Bundeskanzlerin Angela Merkel.

Schlussworte

Den Abschluss des Abends moderiert Gysi selbst: „Jetzt könnten Sie mich fragen, warum ich so wenig Zeit habe.“ Die Antwort liefert er im selben Atemzug mit und skizziert die Stationen seines Tages: Zürich am Morgen, Köln am Nachmittag, Lüdenscheid am frühen und Brüssel am späten Abend. Die Einladungen haben sich verdoppelt, seit er Präsident der Europäischen Linke ist.

Dann ergänzt der das Schlusswort noch um politische Aussagen, in denen seine persönlichen Wurzeln zusammenzulaufen scheinen: sein Statement zur DDR als Unrechtsstaat sowie die aus seiner Sicht zentralen gesellschaftlichen Fragen. „Wir haben heute eine soziale Ausgrenzung“, sagt Gysi und ergänzt: „Wir müssen allen den Zugang zu Bildung ermöglichen und den Zugang zu Kunst und Kultur.“

Anja Wetter | 13.01.2017