„Vom Kaufmanns- zum Finanzmarktkapitalismus. Zur Herausbildung eines Transformationsprozesses mithilfe der Kategorie ‚Organisation‘“

Der soziologische Vortrag richtet sich in erster Linie an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Studierende der FernUniversität. Weitere Interessierte sind gerne willkommen.


In den „wissenschaftsgesprächen“ der Fakultät für Kultur- und Sozialwissenschaften der FernUniversität in Hagen geht es am 21. Juni um das Thema „Vom Kaufmanns- zum Finanzmarktkapitalismus. Zur Herausbildung eines Transformationsprozesses mithilfe der Kategorie ‚Organisation‘“. Referent ist Dr. Thomas Matys vom Lehrgebiet Soziologie II / Soziologische Gegenwartsdiagnosen (Prof. Dr. Uwe Vormbusch). Der Vortrag richtet sich in erster Linie an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Studierende der FernUniversität. Weitere Interessierte sind gerne willkommen. Veranstaltungsort ist das Seminargebäude, Universitätsstr. 33, 58097 Hagen, Räume 1 bis 3. Beginn ist um 16 Uhr.

Inhaltlicher Überblick

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Dr. Matys erläutert:

„Der Vortrag hat aktuelle Forschungen im Rahmen meines Habilitationsprojektes zum Inhalt. Grundlage ist die gegenwartsdiagnostische Feststellung, dass die derzeitige Phase der kapitalistischen Gesellschaftsformation als ‚Finanzmarktkapitalismus‘ bezeichnet werden muss und dieser sich deutlich von der vorherigen Form eines Kapitalismus, der – nicht selten familienzentriert – Vermögen, ehrbare Kaufmannstätigkeit und persönliche Haftungen beinhaltete, unterscheidet.

Im Zentrum des Befundes des Finanzmarktkapitalismus steht der empirisch auffällige Sachverhalt, dass eben jener Finanzmarkt eine weltweite strukturelle Dominanz erlangt hat, die ihrerseits nationalstaatliche oder sonstige Einflussgrößen auf Gesellschaft erodiert bzw. weit hinter sich lässt. Wir müssen wohl davon ausgehen, dass ‚das Regime des Finanzmarktkapitalismus‘ (Vormbusch 2017) so gar nicht funktionieren würde, ohne die ‚massiven weltwirtschaftlichen Ungleichgewichte, die zur Bildung gewaltiger privater Kapitalvermögen‘ (ebd.) geführt haben.

Meines Erachtens ist es daher notwendig, eine querliegende Variable als machtvolle Bedingungsinstanz für finanzmarktliche Prozesse freizulegen: die Kategorie der Organisation. Es dürfte relativ leicht Einigkeit erzielt werden können darüber, dass bestimmte Organisationen im Zentrum eines Finanzmarktkapitalismus wirken, ohne die sich dieses empirische Feld wahrscheinlich so nicht zeigen würde, man denkt hier schnell etwa an Banken, aber nicht zuletzt auch an Rating-Agenturen. Wie selbstverständlich nehmen wir diese Organisationen bzw. deren Handlungen wahr, als seien sie alternativlos.

Doch gerade Selbstverständlichkeiten nachzuspüren, ist eine der ersten Aufgaben der Soziologie. Wie ist also etwas entstanden, was heute selbstverständlich erscheint? Das bedingt eine historische Perspektive, die danach fragt, worin die Bedeutung von Geschichtlichem für aktuelle Phänomene liegt. Am Beispiel von Rating-Agenturen kann aufgezeigt werden, dass diese zu mächtigen Organisationen innerhalb des finanzmarktlichen Settings geworden sind, indem sie Finanzprodukte, Banken oder sogar ganze Staaten ‚bewerten‘. Ihre historischen Vorläufer fanden die Rating-Agenturen in den sog. „mercentile agencies“ (Handelsagenturen) in den USA des 19. Jhds. Jene bereiteten den Weg dafür, dass Großhändler erstmals auf Maßzahlen zur kategorisierenden Organisationsbewertung ihrer Schuldner vertrauten. Spätere erste Rating-Agenturen entwickelten daraus im Laufe der Zeit komplexe Beurteilungskriterien, die heute in besonderer Weise, neben den Praxen von Banken, zum Inventar eines organisationalen Zahlengebrauchs gehören. Als ein aufschlussreiches Dokument kann in diesem Kontext bspw. das ‚Poor´s Manual on Railroads‘ von 1865 gelten.“

Benedikt Reuse | 09.06.2017