Die Sichtbarkeit der pädagogischen Berufe stärken

Prof. Julia Schütz ist Sprecherin des neuen Zentrums für pädagogische Berufsgruppen- und Organisationsforschung. Ein Interview über den Fachkräftemangel in Kitas und Grundschulen.


Portrait einer Frau Foto: FernUniversität
Prof. Julia Schütz ist Sprecherin des neuen Zentrums für pädagogische Berufsgruppen- und Organisationsforschung (ZeBO Hagen).

Prof. Dr. Julia Schütz untersucht die Auswirkungen des Fachkräftemangels auf die pädagogische Arbeit. Die Wissenschaftlerin leitet seit September 2017 das Lehrgebiet Empirische Bildungsforschung an der FernUniversität in Hagen und ist Sprecherin des neuen Zentrums für pädagogische Berufsgruppen- und Organisationsforschung (ZeBO Hagen). Über das ZeBO Hagen tauschen sich Wissenschaft und Praxis zu aktuellen Themen wie den Fachkräftemangel in Kitas und Grundschulen aus. Auch Bundesfamilienministerin Franziska Giffey startet gerade eine Fachkräfteoffensive gegen den Erzieherinnenmangel in der frühen Bildung. Denn in immer mehr pädagogischen Einrichtungen arbeiten durch den Seiten- und Quereinstieg Menschen ohne pädagogische Ausbildung.

Warum ist es für junge Menschen scheinbar nicht attraktiv, Erzieherin oder Grundschullehrer zu werden?

Julia Schütz: Das ist ein großes Problem. Es gibt in allen Branchen einen Run auf junge Menschen in Deutschland. Die Bezahlung ist ein wichtiger Faktor. Hinzu kommt die gesellschaftliche Ankerkennung, mit der beide Berufsgruppen nicht zufrieden sind. Um Erzieherin oder Grundschullehrer zu werden, ist eine hohe intrinsische Motivation erforderlich. Zudem sind die Anforderungen gestiegen: Inklusion, Integration und Digitalisierung sind zusätzliche Herausforderungen.

Sie haben die soziale Anerkennung für pädagogische Berufsgruppen erforscht. Zu welchem Ergebnis sind Sie gekommen?

Am zufriedensten mit der gesellschaftlichen Anerkennung sind die Hochschullehrenden. Am Ende der Skala stehen die Erzieherinnen und Erzieher. Oft heißt es: Der Ernst des Lebens beginnt erst in der Schule. Tradition und gewachsene Strukturen bei der Bezahlung und den Rollenbildern spielen ebenfalls eine Rolle. Hochschullehrende sind der „Herr Professor“ und die „Professorin“, im Kindergarten arbeitet die „Basteltante“. Auch Sprache konstruiert Wirklichkeit.

Unterrichtssituation, zwei Lehrerinnen mit Kindern in einer Klasse Foto: Westend61/Getty Images
Wie zufrieden sind Lehrerinnen und Lehrer mit der sozialen Anerkennung für ihren Beruf?

Dabei ist doch bekannt, wie wichtig die frühkindliche Erziehung und Bildung ist. Warum gibt es trotzdem ein Problem mit dem gesellschaftlichen Ansehen?

Hier spielen unterschiedliche Faktoren eine Rolle. Je mehr Frauen in einem Beruf arbeiten, desto weniger angesehen ist diese Gruppe. Praktische Aufgaben wie zum Beispiel Windeln wechseln sind weniger anerkannt als die Wissensvermittlung. Auch das Alter der Klientel spielt eine Rolle. Je älter diese ist, desto angesehener ist die Berufsgruppe. Ungünstig ist es außerdem, wenn die Leistung wenig oder nicht sichtbar ist, weil nichts Sichtbares produziert wird.

Was kann denn getan werden, um mehr Erzieherinnen und Grundschullehrer zu gewinnen?

Dass etwas geschehen muss, ist klar. Was sich ändern muss? Eine angemessene Bezahlung, die dem Wert der pädagogischen Arbeit in der frühen Bildung entspricht, ist sicherlich eine Variante. Dadurch könnten diese Berufsbilder auch für Männer an Attraktivität gewinnen. Eine weitere Idee wäre es, die Berufsbilder auszudifferenzieren sowie Karriereperspektiven in vorschulischen Institutionen und auch in Schulen zu schaffen. Zudem sollten Unternehmen stärker in die Verantwortung gezogen werden. Dabei denke ich keineswegs an eine Privatisierung von frühkindlicher Bildung, Erziehung und Betreuung. Aber inwieweit sind wirtschaftliche Organisationen daran interessiert, bestmögliche Voraussetzungen für ihre Mitarbeitenden zu entwickeln? Und dazu gehört eben auch die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, zum Beispiel durch qualitativ hochwertige Bildung von Anfang an. Und was noch ganz wichtig für die pädagogischen Akteurinnen und Akteure ist: mehr Bewusstsein für eine gemeinsame Aufgabe, indem pädagogische Einrichtungen stärker kooperieren.

Das ZeBO Hagen

Gründungsmitglieder ZeBOFoto: FernUniversität

Das Zentrum für pädagogische Berufsgruppen und Organisationsforschung (ZeBO) wird am 23. Mai auf dem Campus der FernUniversität in Hagen mit einer Feier offiziell gegründet. Prof. Dr. Julia Schütz (links) hat es gemeinsam mit ihren langjährigen Wegbegleitern Prof. Dr. Rudolf Tippelt (LMU München, 2.v.l.) und Prof. Dr. Dieter Nittel (Goethe-Universität Frankfurt, rechts) sowie ihrer ehemaligen Mitarbeiterin Prof. Dr. Christina Buschle (IUBH Internationale Hochschule, 2.v.r.) auf den Weg gebracht.

Und dazu kann die Gründung des ZeBOs beitragen?

Die einzelnen Berufsgruppen kümmern sich zu wenig um das Miteinander. Jeder macht sein Ding. Dabei arbeiten immens viele Menschen in Deutschland in pädagogischen und sozialen Berufen. Das Potenzial und die gebündelte Kraft sind daher wahnsinnig groß. Das ZeBO soll dazu dienen, das große Ganze zu sehen. Wir wollen nicht im Elfenbeinturm unabhängig von der Praxis forschen. Konkret heißt das: nicht über Erzieherinnen und Lehrer forschen, sondern mit ihnen. Genau das kann über das ZeBO stattfinden. Im Sinne des Lebenslangen Lernens nehmen wir den gesamten Bereich des Erziehungs- und Bildungssystems von der Kita bis zur Altenbildung in den Blick. Das ZeBO trägt auf diese Weise zur Sichtbarkeit der pädagogischen Berufe bei und stärkt diese in ihrer gesellschaftlichen Bedeutung.

Bei der Gründungsfeier am 23. Mai wird auch über den Fachkräftemangel diskutiert. Wie sieht die Zukunft des ZeBOs aus?

Dazu haben wir unterschiedliche Formate für die Gründungsveranstaltung entwickelt. An Thementischen werden brisante Fragen pädagogischer Berufsarbeit diskutiert. Welche Erwartungen haben Wissenschaft und pädagogische Praxis? Was brauchen sie? Ich kann mir gut vorstellen, dass die gemeinsamen Überlegungen in Weiterbildungsformaten und Fachtagen für Wissenschaft und pädagogische Praxis münden. Zudem wird es in 2020 eine Hybridvorlesungsreihe für Studierende, Forschende und alle Interessierten geben. Darin geht es um pädagogische Professionalität, gerade vor dem Hintergrund eines Fachkräftemangels stellt sich die Frage erneut.

Carolin Annemüller | 29.04.2019