Neue Deutsche Welle wissenschaftlich

FernUni-Soziologe Prof. Frank Hillebrandt und sein Team untersuchen, warum die Stadt Hagen in den 1980ern zum musikalischen Hotspot und wie die Neue Deutsche Welle populär wurde.


Sechs Personen stehen als Gruppe draußen zusammen, zwei halten ein Plakat zwischen sich. Foto: FernUniversität
Das Forschungsteam (v.li.): Sarah Rempe, Franka Schäfer, Amela Radetinac, Prof. Frank Hillebrandt, Anna Daniel und Jasper Böing

Die Neue Deutsche Welle (NDW) – ein kurzes erfolgreiches Kapitel in der Musikgeschichte, das sich insbesondere in Hagen „tief in die Körper und Köpfe der Menschen eingeschrieben hat“, wie Soziologe Prof. Dr. Frank Hillebrandt von der FernUniversität zusammenfasst. Die Ruhrgebietsrandstadt Hagen – oder: das Tor zum Sauerland mit dem Flair eines ehemaligen Stahlstandortes – war Musikhauptstadt der Republik. Besungene Popstar-Schmiede.

Wenn es um die NDW geht, um Namen wie „Grobschnitt“, „Extrabreit“, „Nena“ und Orte wie „Musiker-Treff“ oder „Jugendheim am Buschey“, wird es emotional. „Es gibt eine große Verbundenheit und viele Weißt-du-noch-damals-Geschichten“, beschreibt Hillebrandt. NDW in Hagen hatte Einfluss auf die gesamte Musikszene.

Hagen = Liverpool

FernUni-Wissenschaftler Hillebrandt und sein Team aus dem Lehrgebiet Allgemeine Soziologie untersuchen, warum sich das Phänomen ausgerechnet in Hagen abspielte und die Stadt zum „neuen Liverpool des teutonischen New Wave“ avancierte, wie ein Hamburger Musikmagazin damals urteilte.

Eine Band macht auf einer Bühne Musik. Foto: Heike Wahnbaeck
1984: Stefan Kleinkrieg und Wolfgang „Hunter“ Jäger von „Extrabreit“ tourten gemeinsam über die Bühnen.

Für eine Buchpublikation, die von der FernUniversität finanziell unterstützt wird, haben sie eben diese persönlichen Erinnerungen in wissenschaftlichen Interviews eingeholt. Zugang zu den vielen damals Beteiligten ermöglichte den FernUni-Forschenden die Hagenerin Heike Wahnbaeck. Sie ist Zeitzeugin und erlebte die Jahre als Ehefrau eines Extrabreit-Musikers hautnah mit. Wahnbaeck hat noch viele Kontakte, verfügt über eine Sammlung zahlreicher Fotos und Filme. Sie ist auch Herausgeberin des Buches, das nun zum 40-Jährigen der NDW begleitend zu einer Ausstellung erscheint, deren Kuratorin sie ist.

NDW an der FernUniversität

Ausstellung und Buch sind eingebunden in ein Festival, mit dem die NDW-Ära auflebt: Zahlreiche Veranstaltungen laden zu einer Zeitreise ein. Ein Höhepunkt ist das Campusfest der FernUniversität am 1. September, auf dem Frank Hillebrandt über die wissenschaftliche Perspektive auf den Hotspot Hagen sprechen wird.

Foto: The Ramblers
Die Hagener Rockformation „The Ramblers“ mischte ebenfalls kräftig mit. Ein Rambler der ersten NDW-Stunden war Carlo Karges, der später für Nena spielte und Hits schrieb.

Das Lehrgebiet analysiert die NDW praxissoziologisch und multidimensional: Dr. Franka Schäfer geht der Frage nach, inwieweit Popmusik protesthaft ist. „Die NDW hat eine Neon-Welt entworfen, die den bis dahin herrschenden Rockstandards entgegen stand. Der Protest äußerte sich in Texten, in der Musik, in den Outfits und im Auftreten.“ Während „Trio“ mit „Da da da“ eher für kritische Sinnfreiheit stand, übten etwa „Geier Sturzflug“ oder „Extrabreit“ durchaus Kritik an Kapitalismus und Konsumwahn. „Die NDW hat selbst das Feld des Schlagers besetzt – und ironisch gewendet“, erinnert Schäfer an Auftritte von Hubert Kah oder Nena in der „Hitparade“.

Wie die NDW (sich) bewegte, untersucht Sarah Rempe. Sie hat die Bühnenperformance der Künstlerinnen und Künstler im Blick: „Ich beobachte die ganze Bandbreite zwischen Minimalismus und Konfetti. Die NDW war karg bis kitschig.“ Außerdem nimmt sie die Massen vor den Bühnen in Augenschein und forscht nach einem spezifischen Tanzstil.

Aus stadtsoziologischer Sicht erklärt Dr. Jasper Böing, wie Hagen zur „NDW-Schmiede“ werden konnte. „Es gab bestimmte räumliche Rahmenbedingungen: Szenetreffs, Discotheken, Proberäume und Tonstudios. Orte, an denen man sich auch immer wieder traf und neu formierte für die damaligen Bands.“ Mit Jugendzentren, Gemeindehäusern oder auch der Freiluftbühne im Volkspark („Rock in die Ferien”) hatten alle Auftrittsmöglichkeiten. Zudem gab es günstigen Wohnraum. „Man wohnte in einer Gegend mit rauem Charme, der sich in der Musik widerspiegelt. Man ist rau.“ – …aber erfolgreich.

Drei Männer lehnen sich an eine Hauswand, eine Frau steht in einem offenen Türrahmen. Foto: Heike Wahnbaeck
„Lola“ aus Hagen – Für viele Bands war die NDW ein Sprungbrett, um bekannt zu werden.

Grundstein für Karrieren

Ein Dreh- und Angelpunkt war sicherlich das Geschäft „Musikertreff“, eine Anlaufstelle für alle, die in den 1970ern und -80ern Musik machten. Dessen Betreiber war gut vernetzt, engagierte sich auch als Fanzine-Herausgeber und Konzertveranstalter. „In der Zeit wurden durchaus auch Karrieren hinter der Bühne gemacht. Die NDW legte den Grundstein“, skizziert Franka Schäfer. „Manche gründeten Plattenfirmen, es gab gut ausgebildetes technisches Personal – auch Frauen mischten kräftig mit“, betont die Soziologin, die gemeinsam mit ihrer Kollegin Dr. Anna Daniel dazu eine Talkrunde im Festival moderiert.

Neben der Konzentration auf Frauen in der Musikbranche hat Anna Daniel herausgearbeitet, wie sich die NDW von der subversiven zur kommerziellen Populärmusik entwickelte. „Die großen Verlage griffen irgendwann die eher sperrige Musik auf – und es lief.“ Für Gruppen wie „Grobschnitt“ und „Extrabreit“, die sich ursprünglich als (Kraut-)Rockmusiker sahen, schnellten Verkaufszahlen nach oben. Allerdings brachte die Kommerzialisierung auch Retortenkünstler wie Markus („Ich geb‘ Gas, ich will Spaß“) oder Fräulein Menke („Tretboot in Seenot“) hervor.

NDW als Wirtschaftsfaktor

„NDW war ein Wirtschaftsfaktor in Hagen. Von Hagen aus wurde damit Geld verdient“, resümiert Hillebrandt. Einige wagten sich und gingen weg: Inga und Annette Humpe etwa zog es aus der Hagener Szene in die Berliner. Andere folgten ihnen. „Annette Humpe ist nach wie vor ein Kristallisationspunkt in der Branche.“ Inga Humpe stand für ein Interview im Buch zur Verfügung.

Im NDW-Festival
  • Eröffnung der Ausstellung „Komm nach Hagen, …mach dein Glück!“ im Osthaus Museum in Hagen, 31. August ab 18.30 Uhr: 18 Tafeln mit Collagen aus auch bisher unveröffentlichten Fotos und Filmausschnitten plus Exponate wie Plakate, (Goldene Schall-)Platten, Technik und Instrumente
  • Buch „Komm nach Hagen, werde Popstar, mach dein Glück. … sich traun, außer der Reihe, die Zukunft zu bauen. Hagens Musikszene 1975–1985“: mit vielen Interviews und fast 1.000 Abbildungen
  • Talkrunde: Frauen in der Musikbranche“, Lounge im Osthaus Museum, 13. September ab 20 Uhr, Moderation: Franka Schäfer und Anna Daniel

Publikation und Ausstellung sind für Hillebrandts Team erst der Anfang der Forschungsarbeit. „Es gibt noch nicht viele wissenschaftliche Studien zur NDW – und das Spektrum ist ja viel größer als die Hagener Welle“, so der Soziologe. „Eine weitere Hochburg in NRW ist Düsseldorf gewesen, mit Punk und Ska. Hier traf man sich im Ratinger Hof. Dorthin kam die Düsseldorfer Kunst- und Musikszene zusammen.“

Dahinter steht für den Wissenschaftler die grundlegende Frage, wie sich neue Stilrichtungen im Pop und Rock formieren und welche Rolle sie für gesellschaftliche Wandlungsprozesse spielen.

Stolz auf NDW

Blick zurück nach Hagen: Einig ist sich das Lehrgebiets-Team darin, dass „Hagen ruhig stolzer auf das Kapitel NDW sein darf. Die Stadt sollte es durchaus auch im Stadtbild dokumentieren.“

Anja Wetter | 20.08.2018