Was ist wichtiger: das Theoretische oder das Praktische?

DAAD und argentinischer Forschungsrat fördern eine Kooperation von Prof. Thomas Sören Hoffmann (FernUniversität) und Prof. Jimena Solé (Buenos Aires) zum „Primat des Praktischen“.


Eine auf zwei Jahre angelegte Kooperation zwischen der FernUniversität in Hagen und der Universität von Buenos Aires (UBA) wurde jetzt vom Deutschen akademischen Austauschdienst (DAAD) und seinem Partner, dem argentinischen Forschungsrat CONICET, für eine bi-nationale Förderung ausgewählt: Prof. Dr. Jimena Solé (Buenos Aires) und Prof. Dr. Thomas Sören Hoffmann (Hagen) wollen gemeinsam den Ursprung der Idee eines „Primats des Praktischen“ erforschen, die für das neuzeitliche Denken zentral ist. Nicht zuletzt in der Philosophie Kants spielt dieser Gedanke eine zentrale Rolle, er weist aber auch verschiedene Vorläufer im Denken des 18. Jahrhunderts auf, die in ihrem Zusammenhang noch nicht untersucht sind.

Ein Mann und eine Frau blicken in Richtung Kamera. Foto: FernUniversität / Jimena Passadore Gentile
Prof. Thomas Sören Hoffmann und Prof. Prof. Jimena Solé

In unterschiedlichen Kulturen und zu unterschiedlichen Zeiten wurde die Frage, ob das Theoretische oder das Praktische wichtiger ist, unterschiedlich beantwortet. Prof. Hoffmann, der das Lehrgebiet Philosophie II, Praktische Philosophie: Ethik, Recht, Ökonomie an der FernUniversität leitet: „In der Antike, bei den Griechen, hätte zumindest jeder Philosoph gesagt, dass das Theoretische wichtiger ist – ‚Da ist der Geist bei sich, da haben wir Kontakt mit dem Ewiggültigen und sind nicht durch praktische Anforderungen belästigt‘.“ Auch im Mittelalter hatte tendenziell nicht der Nutzen, sondern die reine Erkenntnis Vorrang. „Man war überzeugt: ‚Eine gute Praxis setzt solide Erkenntnis und eine gute Theorie voraus. Deshalb ist die letztere wichtiger.‘“

Verändertes Bewusstsein in der Neuzeit

In der Neuzeit, vom späten 16. Jahrhundert an, kam ein neues Bewusstsein auf: „Der Mensch rückt sein Interesse ins Zentrum, die Welt nicht nur zu betrachten, sondern sie nach seinen Zwecken zu verändern. Der Zweck der Wissenschaft ist nicht mehr nur selbstgenügsame Meditation über das, was es gibt, sondern verlangt einen Abgleich mit unseren Zielen.“ So bekannte Galileo Galilei ausdrücklich, er habe mehr von den Ingenieuren als von den Naturphilosophen gelernt. Der Wissenschaftstheoretiker Francis Bacon betonte, es ginge darum, mit Hilfe der Wissenschaft die Herrschaft des Menschen über die Erde zu begründen. Die Philosophie versuchte, diesen Standpunkt einzuholen und sich klar zu machen, was damit eigentlich gesagt war.

Zwei alte Bilder mit den Philosophen Immanuell Kant und Baruch de Spinoza. Foto: FernUniversität / F. L. Lehrmann (gest. 1848) / unbekannt
Die Philosophen Immanuel Kant (li.) und Baruch de Spinoza. Quelle des Kupferstichs von Kant sind die Preußischen Provinzial-Blätter, Band 10, Königsberg 1837. Das Gemälde einen unbekannten Malers von Spinoza um 1665 gehört zur Sammlung der Herzog August Bibliothek, Wolfenbüttel.

Am Ende dieser Entwicklung steht nach Hoffmanns Worten Immanuel Kant, der einen grundlegenden Vorrang des Praktischen gegenüber dem Theoretischen vertritt. Hoffmann: „Nach Kant gibt es keine theoretische Erkenntnis, keine tragfähige Theorie, die nicht in einem praktischen Selbstverhältnis des Menschen ihren letzten Halt hat“ – Kant brachte das auf die Formel vom „Primat des Praktischen“. Hoffmann: „Auch wenn wir in der Regel nicht ausdrücklich darüber nachdenken, dass Forschungsobjekte nicht ‚neutral’ sind, heißt dies nicht, dass sie nicht immer schon eine bestimmte Bedeutung und einen praktischen Wert haben. Kant legte das offen: Jede Theorie geht zurück auf ein im Kern praktisches Interesse an unserer rationalen Selbsterhaltung – man muss sich darüber nur erst klar werden, kann es dann aber an allen Wissenschaften durchbuchstabieren.“

Jimena Solé und Thomas Sören Hoffmann geht es in diesem Projekt um die Vorgeschichte zu Kant im 17. und 18. Jahrhundert und darum, wie sich in den Jahrzehnten nach Kant das Bewusstsein hierzu änderte.

Fachtagungen und Personenaustausch

Auf dem Weg zu Kant gab es verschiedene Etappen: Solé ist Expertin für die Philosophie Spinozas, die deutsche Schulphilosophie des 18. Jahrhunderts und auch für Fichte. Hoffmann deckt den Bereich der vorkantischen Philosophie und der Nachfolger Kants bis Hegel ab: „Unsere Gutachter haben darin offenbar eine gute Ergänzung gesehen, um die es sich auch wirklich handelt“, sagt Hoffmann, der sich sehr auf die Zusammenarbeit mit der argentinischen Kollegin freut. „Der DAAD und sein Partner CONICET ermöglichen uns die Durchführung von zwei Fachtagungen sowie einen regen Personenaustausch“, so Hoffmann weiter. Reisen werden dabei auch zwei Hagener Doktoranden, von denen der erste schon im November nach Argentinien gehen wird. Hoffmann: „Eine Promovendin aus Buenos Aires erwarten wir genauso wie ihre Betreuerin im kommenden Jahr in Hagen.“

Hoffmann sieht das Projekt als „wichtige Ergänzung und Zuarbeit“ für das Deutsch-lateinamerikanische Forschungs- und Promotionsnetzwerk Philosophie FILORED: „Es ist in gewisser Weise eine ‚Zuarbeit‘ zu FILORED. Unsere Partneruniversität UBA beim ‚Primat des Praktischen‘ ist die größte und eine der wichtigsten Universitäten Argentiniens. Sie ist aber noch kein Mitglied unseres Netzwerkes. Ich bin sehr erfreut, dass wir mit Jimena Solé eine sehr renommierte Kollegin gewonnen haben, die mit uns kooperiert. Sie steigt damit ja indirekt auch in die FILORED-Kooperation ein. Die erste Zusammenkunft zu unserem neuen Projekt im November wird zugleich eine FILORED-Tagung sein.“

FILORED wird von Hoffmann koordiniert. Ihm gehören acht lateinamerikanische und drei deutsche Universitäten an.

Gerd Dapprich | 17.06.2019