Technische Professur in Kultur- und Sozialwissenschaften der FernUniversität

Die neue Fraunhofer-Professur Umweltwissenschaften ist ingenieurwissenschaftlich ausgerichtet. Prof. Görge Deerberg verbindet verschiedene Fächer und Wissenschaft und Praxis.


Eine Windkraftanlage steht auf einem Hügel neben einer Talsperre. Foto: Mark-E
Der Bau von Windkraftanlagen, Talsperren und anderen Anlagen, mit denen umweltfreundlich und nachhaltig Strom erzeugt werden kann, ist nicht nur eine technische Herausforderung. Oft müssen auch die Interessen von Bürgerinnen und Bürgern beachtet werden.

Neue Wege in den Umweltwissenschaften geht die FernUniversität in Hagen zusammen mit dem Fraunhofer-Institut für Umwelt-, Sicherheits- und Energietechnik in Oberhausen: Die neue Fraunhofer-Professur ist ingenieurwissenschaftlich ausgerichtet – und dennoch in der Fakultät für Kultur- und Sozialwissenschaften (KSW) angesiedelt. Mit ihrer neuen Kooperation wollen die FernUniversität und das Fraunhofer-Institut UMSICHT ihre fast 20-jährige erfolgreiche Kooperation in der wissenschaftlichen Weiterbildung vertiefen und auf den Forschungsbereich ausweiten. Leiter des neuen Lehrgebiets Umweltwissenschaften ist Prof. Dr.-Ing. Görge Deerberg.

Umweltwissenschaften

sind an der FernUniversität ein multidisziplinärer Arbeitsbereich, der durch nachhaltigkeitsorientierte Problemstellungen definiert ist, die aus lokalen, regionalen und globalen Umweltveränderungen resultieren. Der Arbeitsbereich steht im Dialog mit einer Vielzahl von Disziplinen, wie dem betrieblichen Umwelt- und Nachhaltigkeitsmanagement, der Umweltökonomie, Umweltpolitologie, Umweltpsychologie, dem Umweltrecht, der Ökologie und Ökosystemforschung, der Umweltchemie, Energietechnik, Energiewirtschaft, Biologie, Biotechnologie und der Umweltverfahrenstechnik.

Ausgangspunkt für die Einrichtung der Fraunhofer-Professur war die Frage, wie umweltwissenschaftliche Forschungsfelder in zehn oder 15 Jahren organisiert sein müssen, um interdisziplinär Antworten auf umweltwissenschaftliche Fragen hervorbringen zu können. Ist eine Trennung zwischen Forschungen in technischen und gesellschaftlichen (sowie weiteren) Bereichen noch zielführend? Dr. Thomas Walter, Geschäftsführer der Fakultät KSW, blickt kurz auf die Gespräche zurück, in denen diese und andere Fragestellungen diskutiert wurden: „Wir haben dabei festgestellt, dass es bei Umweltfragen viele Schnittstellen mit anderen Disziplinen gibt. Die technische Sicht kann aus kultur- und sozialwissenschaftlicher Perspektive ergänzt werden und neue Erkenntnisse bringen – und umgekehrt. Natürlich kann man dieses Arrangement als ‚kühn‘ bezeichnen, doch lösungsorientierte Forschung braucht eben auch Mut.“

Ein aktuelles Beispiel für die Komplexität der Problemstellungen ist der Kohleausstieg: Was technisch möglich ist, kann nicht nur rechtliche Fragen aufwerfen und wirtschaftliche und weitere ökologische Folgen haben. Sondern auch gesellschaftliche und kulturelle Auswirkungen. Ähnlich ist es bei der Energiewende und der Klimapolitik. Walter: „Das muss zusammengedacht werden. Die besten technischen Lösungen nützen nichts, wenn die Menschen nicht mitziehen. Die meisten Bürgerinnen und Bürger finden Maßnahmen zum Klimaschutz gut – aber aufs Autofahren wollen wir nicht verzichten und auch kein Stück unseres Gartens für eine breitere Bahnschienentrasse abgeben.“ Die Fakultät versteht die Umweltwissenschaften als interdisziplinäre Wissenschaftsrichtung, die sich mit den Auswirkungen menschlichen Handelns auf die Umwelt ebenso befasst wie mit Strategien zur Reduzierung oder Vermeidung negativer Folgen dieses Handelns.

Hinter großen Solarzellenflächen ragen Windkraftanlagen in die Höhe. Foto: Ron_Thomas_E+_Getty Images
Aktuell wird heftig über die Mindestabstände von Windkraftanlagen zu Wohngebieten diskutiert.

Daher soll nun neben der hervorragend aufgestellten und oft nachgefragten wissenschaftlichen Weiterbildung die interdisziplinäre umweltwissenschaftliche Forschung ausgeweitet und vertieft werden. Dafür allerdings muss die naturwissenschaftlich-technische Kompetenz intern gestärkt werden.

Infernum als Vorbild

Naheliegend war es daher, dies mit Fraunhofer UMSICHT als bewährtem Partner in Angriff zu nehmen, der zudem die unbefristete Professur finanziert. „Vorbild“ für das gemeinsame Forschungsprojekt ist ihre Zusammenarbeit bei dem weiterbildenden Interdisziplinären Fernstudium Umweltwissenschaften (infernum). Auch bei diesem Kooperationsmodell versammelt sich interdisziplinäre wissenschaftliche Expertise in unterschiedlichen Bereichen. Beteiligt sind Lehrgebiete, Lehrstühle und Institute der ganzen FernUniversität wie renommierte externe Institutionen.

Prof. Görge Deerberg verstärkt Forschung zu Energie, Umwelt und Nachhaltigkeit

Prof. Görge Deerberg Foto: PicturePeople

Die FernUniversität hat bei den großen Fragestellungen Umwelt, Energie und Nachhaltigkeit einen Schwerpunkt in der Forschung gesetzt. In ihm gibt es eine ganze Reihe von kompetenten Personen, mit denen wir gut zusammenarbeiten können.

Prof. Görge Deerberg

Die Verbindung zwischen wissenschaftlicher Grundlagenforschung und praktischer Anwendbarkeit der Ergebnisse stellt Prof. Dr.-Ing. Görge Deerberg her. Er bringt sich mit hohem Engagement, vielen Ideen und zahlreichen Kontakten – auch zu außeruniversitären Forschungseinrichtungen – in die Forschung zu Energie, Umwelt und Nachhaltigkeit und in den gleichnamigen Forschungsschwerpunkt der FernUniversität ein. Zu diesem Feld haben seine bisherigen Forschungen zahlreiche Anknüpfungspunkte.

Herr Prof. Deerberg, was hat Fraunhofer UMSICHT bewogen, diese Professur einzurichten?

Deerberg: In den letzten Jahren stellen wir bei Fraunhofer UMSICHT zunehmend fest, dass wir als Technikerinnen und Techniker allein umwelt- und energietechnische Fragestellungen nicht immer zufriedenstellend beantworten können. Denn unsere Problemstellungen sind nicht immer nur rein technischer Natur. Der Erfolg unserer – in der Regel technisch-naturwissenschaftlichen und ingenieurwissenschaftlichen – Lösungen hängt auch von gesellschaftlicher Akzeptanz ab, oft ist auch eine gewisse Mitwirkung von Teilen der Gesellschaft notwendig. Dieser Aspekt wird jedoch in vielen Projekten nur unzureichend berücksichtigt. Daher ist der Austausch mit anderen Disziplinen sehr wichtig, vor allem auch mit kultur- und sozialwissenschaftlichen.

Wir haben schon vor vielen Jahren gesehen, dass die großen gesellschaftlichen Herausforderungen nur im Konzert der Disziplinen und Kompetenzen bewältigt werden können. Daher sind z.B. im Wissenschaftsforum Ruhr auch unterschiedlichste außeruniversitäre Forschungseinrichtungen wie Kinderforschung und Historiker vertreten, um solche Fragestellungen ganzheitlich zu betrachten.

Prof. Görge Deerberg

ist stellvertretender Institutsleiter von Fraunhofer UMSICHT in Oberhausen und außerplanmäßiger Professor für Umwelt- und Prozesstechnik in der Fakultät Maschinenbau an der Ruhr-Universität Bochum. Zusammen mit der Hagener Politikwissenschaftlerin Prof. Dr. Annette Töller leitet er infernum, ein gemeinsames Weiterbildungsangebot von FernUniversität und Fraunhofer UMSICHT. Zudem ist er Vorstandsvorsitzender des Wissenschaftsforums Ruhr e.V

Bei einem UMSICHT-Projekt haben wir z.B. mit Expertinnen und Experten verschiedener Fachrichtungen kooperiert, um gemeinsam eine Lösung für die gegensätzlichen Interessen von Bürgerinnen und Bürgern einer- und denen einer Genehmigungsbehörde andererseits zu finden. Mit Fachleuten aus Naturwissenschaft, Technik, Kommunikation und Demokratieforschung konnten wir einen Partizipationsprozess entwerfen und durchführen. Die Bürgerinnen und Bürger konnten so an dem Entscheidungsprozess teilnehmen, ihre Sorgen einbringen und die Technologien der geplanten umweltrelevanten Großbaumaßnahme neu bewerten. Eine gute technische Lösung allein hätte hier die Bedürfnisse der Gesellschaft nicht befriedigt.

Übrigens war Interdisziplinarität ja auch Ausgangsposition für die Gründung von infernum: Es geht hier darum, die Menschen, die sich mit umweltwissenschaftlichen Aufgaben befassen – in der Weiterbildung also in erster Linie die Studierenden –, in den verschiedenen Disziplinen sprachfähig machen. Dazu gehört es auch, ihnen die unterschiedlichen disziplinären Vorgehensweisen und Methoden zu vermitteln. Auf der anderen Seite sollen sie Fachkompetenz erhalten, um sowohl technische Fragestellungen und Lösungen wie auch sozial- und geisteswissenschaftliche Aspekte beurteilen zu können.

Sie kennen die FernUniversität bereits gut. Sehen Sie hier Ressourcen, die Sie je nach Problemstellung ansprechen würden?

Ja, natürlich, sehr viele. Das war auch ein Grund für diese Professur. Die FernUniversität hat bei den großen Fragestellungen Umwelt, Energie und Nachhaltigkeit einen Schwerpunkt in der Forschung gesetzt. In ihm gibt es eine ganze Reihe von kompetenten Personen, mit denen wir gut zusammenarbeiten können. So kann die Wirtschaftswissenschaft für Energie, Nachhaltigkeit und Umwelt sehr große Impulse geben. Sehr gute Kontakte haben wir natürlich auch zur Politikwissenschaft. Viele unserer aktuellen Themen wie Energiewende oder Kreislaufwirtschaft tangieren unser politisches System. Wir haben uns auch an einigen Stellen mit der Umweltpsychologie beschäftigt, weil Individuen immer wieder eine ganz große Rolle spielen: Wie können sie auf dem Weg in eine nachhaltige Zukunft mitgenommen werden und diese aktiv mitgestalten? Es gibt sicher noch viel mehr Anknüpfungspunkte, innerhalb und außerhalb der KSW-Fakultät.

Eine Frau und zwei Männer stehen nebeneinander und blicken in Richtung Kamera. Foto: FernUniversität
Prof. Dr. Görge Deerberg (Mitte) wurde von Rektorin Prof. Dr. Ada Pellert und Prof. Dr. Alfred Endres, dem Senior Advisor des Forschungsschwerpunktes Energie, Umwelt und Nachhaltigkeit, begrüßt.

Sehen Sie sich auch als „Brückenbauer“ zwischen der FernUniversität und den Institutionen, für die Sie ebenfalls tätig sind?

Sie einander näherzubringen ist eines meiner Ziele. Mit anderen Disziplinen zusammenzuarbeiten funktioniert nur dann „auf Zuruf“, wenn man sich bereits strategisch und längerfristig miteinander beschäftigt hat. Insofern freue ich mich riesig, dass ich in der FernUniversität mitwirken kann und bin sehr gespannt auf die Zusammenarbeit mit meinen Kolleginnen und Kollegen in allen Hagener Fakultäten und insbesondere im Forschungsschwerpunkt Energie, Umwelt und Nachhaltigkeit.

Was können wir in der Lehre erwarten?

Mit unserem weiterbildenden infernum-Studium mit Master of Science-Abschluss möchten wir Interessierte, die bereits einen akademischen Abschluss haben, in interdisziplinären umweltwissenschaftlichen Themen weiterbilden. Dieses Angebot soll in Zukunft weiterentwickelt werden. Hierbei werden auch Blended Learning und Digitalisierung wichtige Ansatzpunkte bieten.

Fraunhofer UMSICHT und Fraunhofer Academy entwickeln ab Januar 2020 in einem von Fraunhofer finanzierten Projekt gemeinsam mit Hagener Kolleginnen und Kollegen einen Studiengang, der Systemdynamik vermitteln soll. Hintergrund ist die hohe Dynamik in allen umweltrelevanten Systemen: z.B. sich immer schneller wandelnde Wetterereignisse, aufgrund der erneuerbaren Energieerzeugung immer stärker schwankende Energiepreise, sich schnell verändernde Verfügbarkeit von Rohstoffen, Veränderungen in der gesellschaftlichen Einstellung zu Themen wie Klimawandel und Suffizienz sowie große Unsicherheiten bei der Voraussage derartiger Effekte. Wir starten zunächst mit den naturwissenschaftlich-technischen Fragestellungen. Mit diesem universitären Zertifikatsstudium wollen wir 2021 beginnen. Längerfristig soll eine Plattform entstehen, auf der interessierte Partnerinnen und Partner Angebote zu ihrer Domäne andocken können. Nach Gesprächen mit Hagener Kolleginnen und Kollegen bin ich überzeugt, dass wir bei beiden Weiterbildungen Angebote der FernUniversität anbinden können.

Gerd Dapprich | 21.11.2019