Der Lösung des Rätsels „Erinnerung“ einen Schritt näher

Sein Modell von 2014 zur Orientierung von Ratten konnte das Lehrgebiet Mensch-Computer-Interaktion untermauern: Simulationen machen deutlicher, wie Affenhirne den Blick der Primaten steuern.


Portraitfoto von Professorin Gabriele Peters
Prof. Gabriele Peters und...
Portraitfoto von Dr. Jochen Kerdels
... Dr. Jochen Kerdels...
Portraitfoto eines Affen
... untersuchten, wie Affenhirne die Blickrichtung der Tiere steuern (Foto: ThinkstockPhotos / Ingram Publishing)

„Das Gehirn ist bei der Entwicklung interaktiver Systeme das beste Vorbild, aber wir haben es noch nicht wirklich verstanden“, erläutert Dr. Jochen Kerdels. „Bis das so weit ist, müssen wir viele kleine Schritte gehen.“ Ein weiterer kleiner, aber notwendiger Schritt ist dem Informatik-Lehrgebiet Mensch-Computer-Interaktion (MCI) an der FernUniversität in Hagen unter Leitung von Prof. Dr. Gabriele Peters jetzt wieder gelungen. Es geht unter anderem neurowissenschaftlichen Fragen nach, um Lösungen für die Entwicklung interaktiver und intelligenter Systeme zu finden.

Im Jahr 2014 gelang es Prof. Gabriele Peters und ihrem Wissenschaftlichen Mitarbeiter Jochen Kerdels, auf der Basis von Arbeiten der Nobelpreisträger Edvard und May-Britt Moser sowie John O’Keefe ein Modell zu entwickeln, mit dem sie die Orientierung von Ratten erklären konnten: Dem Hippocampus vorgelagerte Bereiche im Gehirn der Nagetiere zerlegen einen Raum, in dem sie sich befinden, in dreieckige Strukturen („Gitterzellen“ bzw. „Grid Cells“). Im Hippocampus werden dann „Ortszellen“ aktiv: Sie „feuern“, wenn das Tier an bestimmten Stellen im Raum ist. Jedes dieser Neuronen ist für einen Teil des Raums zuständig. Eine Gruppe von Ortszellen stellt somit eine Art von „Karte“ der Umgebung dar. Ein ähnliches Aktivitätsmuster ist in der Informatik bei „selbstorganisierenden Lernverfahren“ zu beobachten. In einem Modell konnte das Lehrgebiet der FernUniversität dieses natürliche Navigationssystem mit seinen „Straßen“ und den „feuernden“ Neuronen abbilden und erklären.

„Darüber hinaus handelt es sich bei unserem Modell um ein allgemeines Verarbeitungssystem, das in der Natur nicht nur für die Navigation in Räumen genutzt wird“, haben Prof. Peters und Jochen Kerdels inzwischen herausgefunden.

Auch bei Affen „feuernde“ Zellen

Bereits im Jahre 2012 hatte die Zeitschrift „Nature“ berichtet, dass bei Affen im Hippocampus „feuernde“ Zellen gefunden wurden, die den Gitterzellen der Ratten ähneln. Sie reagierten jedoch nicht bei Bewegungen in einem Raum, sondern auf Änderungen der Blickrichtung. Kerdels: „Wir haben mit unserem Modell auch diese Art von Zellen simulieren können, indem wir die Signale der Muskeln simuliert haben, die die Augen steuern.“

Jedes Auge von Primaten wird von vier Muskeln bewegt, die von Moto-Neuronen angesteuert werden. Diese Moto-Neuronen senden gleichzeitig eine Kopie des Signals, das sie an die Muskeln geben, ins Gehirn. Dieses weiß also sofort: Die Muskeln steuern das Auge in eine bestimmte Position. Diese Signalkopien nutzten Peters und Kerdels, um in ihrem Modell zu simulieren, wie Muskelbewegungen auf Neuronen im Gehirn wirken (beim Ratten-Grid-Modell von 2014 verwendeten sie ein anderes Signal).

Besseres Verständnis der menschlichen Informationsverarbeitung

Da Affen dem Menschen näher stehen als Ratten, sind diese Ergebnisse, die auf der International Conference on Neural Computation Theory and Applications 2016 mit dem Best Paper Award ausgezeichnet wurden, besonders in Hinblick auf das Verständnis der menschlichen Informationsverarbeitung interessant.

Worin liegt nun der Nutzen dieser Entwicklung? „Wir konnten zwei unterschiedliche Phänomene, die bei zwei verschiedenen Tierarten beobachtet wurden, mit einem einzigen Modell erklären“, erläutert Kerdels. „Das stärkt unser Modell und beweist, dass das Informationsverarbeitungssystem von der Natur über die Navigation auch für die Dekodierung der Blickrichtung genutzt werden kann – und wer weiß, wofür noch.“

Das allgemeine Modell für die Dekodierung von Informationen erlaubt es nun, besser zu verstehen, was in der Gehirnregion vor sich geht. Damit kommt das Forscherteam der FernUniversität der Antwort auf die Frage „Wie formt diese Gehirnregion Erinnerung?“ einen Schritt näher.

Zwar gibt es bereits verschiedene Theorien hierzu, doch gehen sie nicht konkret darauf ein, was die Zellen genau tun. „Und dabei handelt es sich letztendlich nicht um einzelne Zellen, die hieran beteiligt sind, sondern um Cluster mit mehr als 100.000 Zellen“, betont Kerdels. „Zurzeit bewegen sich die Neurowissenschaftler dabei noch auf der Ebene weniger Dutzend Zellen – es ist also noch ein weiter Weg. Wir können den Neurowissenschaftlern aber hoffentlich Modelle liefern, die ihnen beim Verstehen dieser höchst komplexen Vorgänge helfen.“

Die neu gefundene Art der Informationsverarbeitung kann auch für Ingenieure bei ihren Entwicklungen interessant sein: „Interaktive Systeme werden zukünftig sehr viel intelligenter sein als heutige Methoden“, ist sich Peters sicher.

Best Paper-Award

Dr. Jochen Kerdels konnte auf der 8th International Conference on Neural Computation Theory and Applications (NCTA 2016) im portugiesischen Porto den Best Paper Award für die Veröffentlichung „Jochen Kerdels, Gabriele Peters: Modelling the Grid-like Encoding of Visual Space in Primates“ entgegen nehmen. Sein zweiter Vortrag zu „Jochen Kerdels, Gabriele Peters: Noise Resilience of an RGNG-based Grid Cell Model” war ebenfalls für einen Best Paper Award nominiert.

Informationen zum Lehrgebiet: http://www.fernuni-hagen.de/mci/

Kein Tier beteiligt – nur Bits und Bytes

Prof. Gabriele Peters und Dr. Jochen Kerdels betonen, dass sie weder bei den Versuchen zu Ratten wie zu Affen mit lebenden Tieren gearbeitet haben: „Alles spielte sich ausschließlich mit Bits und Bytes in Computern ab!“

Gerd Dapprich | 03.03.2017