(K)ein günstiger Zeitpunkt für den Ruhestand

Eine Katastrophe für die Menschheit, aber mathematisch spannend. Wie Prof. Hermann Singer über die Corona-Krise denkt und warum ihm der Ruhestand gerade jetzt gelegen kommt.


Foto: FernUniversität
Prof. Hermann Singer (Mitte) verabschiedet sich von Rektorin Prof. Ada Pellert und dem Dekan der Fakultät für Wirtschaftswissenschaft, Prof. Stephan Meyering.

Eigentlich sollte es in diesem offiziell letzten dienstlichen Interview gar nicht um das Coronavirus gehen. Eigentlich sollte es ein Rückblick auf die vergangenen 19 Jahre an der FernUniversität sein. Zurück bis in das Jahr 2001 als Prof. Dr. Hermann Singer dem Ruf nach Hagen folgte, sich als damals noch bekennender Vertreter der Präsenzveranstaltung langsam an die Fernlehre herantastete. Es sollte auch um Prof. Singers aktuellste Forschungsergebnisse gehen.

Er befasst sich mit der Weiterentwicklung komplizierter Messverfahren, die bei der Vorhersage von Wahrscheinlichkeiten eingesetzt werden, den sogenannten sequenziellen Schätz-Algorithmen. Sie zählen zu den berühmtesten Algorithmen überhaupt. Mit ihnen wird etwa das Wetter vorhergesagt und prognostiziert, mit welcher Wahrscheinlichkeit das Vorhergesagte eintritt.

Aber dann nimmt das Coronavirus doch einen Großteil des Gesprächs ein. Vielleicht weil es jetzt gerade jedes Gespräch beherrscht, aber vielleicht auch, weil Hermann Singer ein Mann ist, der neben aller Sorgen, die er sich macht, auch hier einen Anwendungsfall für eine mathematische Funktion sieht – die Exponentialfunktion. Am Coronavirus interessiere ihn besonders, wie steil oder flach die Infektionskurve weiter verläuft. „Leider wird der explosive Charakter der Exponentialfunktion oft nicht verstanden.“ Soziale Distanz lautet die Strategie, der auch Singer weitestgehend folgt.

„Es war ein etwas holpriger Start“

Unter diesen Voraussetzungen ist der Zeitpunkt seiner Pensionierung vielleicht nicht der schlechteste, „weil ich jetzt viel zu Hause bleiben kann“. Dabei werden dem aufgeschlossenen Wissenschaftler besonders die Präsenzseminare an der FernUni fehlen. „Ich habe auch früher schon immer gerne im Hörsaal gestanden“, erinnert sich Singer, der vor seiner Zeit an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaft der FernUniversität Statistik für Psychologen als Privatdozent in Regensburg lehrte.

Davor studierte er Physik und Mathematik in Ulm, Cambridge und Berlin. Eine Promotionsstelle am Max-Planck-Institut für Festkörperforschung in Stuttgart schlug er zugunsten eines sozialwissenschaftlichen Zweitstudiums (Psychologie und Soziologie in Konstanz) aus. Es folgten Promotion und Habilitation im Fach Statistik.

Im Jahr 2001 übernahm er den Hagener Lehrstuhl für angewandte Statistik und Methoden der empirischen Sozialforschung, der damals noch Statistik und Ökonometrie hieß. Die Denominations-Änderung des Lehrstuhls war schwieriger als gedacht, sodass Singer zunächst eine Lehrstuhlvertretung in Hagen antreten musste. „Es war ein etwas holpriger Start“, erinnert er sich. „Vor allem die administrativen Aufgaben und gewisse Altlasten habe ich am Anfang unterschätzt.“

Mehr Forschung im Homeoffice

Doch Personalangelegenheiten, die Tätigkeiten in Kommissionen und Gremien, Anträge und Formulare sowie hochschulpolitische Fragen, mit denen er vor allem in seiner Zeit als Dekan von 2013 bis 2015 zu tun hatte, fallen nun endgültig weg. Die Zeit im Homeoffice möchte der Statistiker daher sinnvoll nutzen und wieder tiefer in die Erforschung der sequenziellen Schätz-Algorithmen einsteigen.

Singer hat ein Verfahren ausgearbeitet (PDF 2 MB), aus dem sich genauere statistische Wahrscheinlichkeitswerte ermitteln lassen. Dazu bedient sich der Forscher an einem finanzmathematischen Modell (Black-Scholes-Gleichung), das er auf statistische Gleichungen (Zakai-Filter) überträgt. „Das ist das Schöne an der Statistik, es lassen sich Methoden anderer Fachbereiche auf statistische Modelle übertragen. Aber gerade dadurch ist die Statistik auch sehr abstrakt und manchmal schwer verständlich.“

Prof. Hermann Singer war von 2001 bis 2020 Inhaber des Lehrstuhls für angewandte Statistik und Methoden der Sozialforschung an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaft der FernUni. Habilitiert wurde er im Fach Statistik an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften der Universität Regensburg (1998) zu kontinuierlich-diskreten Zustandsraum-Modellen und der Anwendung stochastischer Differentialgleichungen in Ökonometrie und empirischer Kapitalmarktforschung.

Wenn er sich nicht damit beschäftigt, statistische Algorithmen zu entwickeln, will Singer sich seinen Freizeitbeschäftigungen widmen, auch das abgestimmt auf die Mathematik hinter der Corona-Krise: Wenn die Maßnahmen der Bundesregierung greifen, könne er bald seinen Sohn am Studienort besuchen oder wieder zum Gitarrenunterricht gehen. Denn selbst mit dem Gitarrenlehrer treffe er sich in Zeiten von Corona virtuell, um klassische Musikstücke zu erarbeiten.

Vor allem aber soll nun mehr Zeit für Hobbys wie Kochen und ausgedehnte Wanderungen im Sauerland oder anderen lohnenden Zielen wie Madeira bleiben. Und ein bisschen was zu tun hat Singer an der FernUni dann doch noch: Klausuren begutachten, die eigentlich schon geschrieben wären, aber wegen des Coronavirus verschoben wurden, oder sich mit seinem Doktoranden austauschen. Ihm möchte Prof. Singer auch nach seiner offiziellen Verabschiedung, die am 1. März stattfand, weiterhin als Betreuer zur Seite stehen.

Sarah Müller | 14.04.2020