Positives Verhalten über Gruppengrenzen hinweg?

Die Intergruppenforschung konzentriert sich oft auf negative Prozesse wie Vorurteile. FernUni-Psychologin Birte Siem hat in ihrer Habilitation die andere Seite untersucht.


Stürmer und Siem mit Urkunde, lächelnd Foto: FernUniversität
Prof. Stefan Stürmer, Dekan der Fakultät für Psychologie, überreichte Dr. Birte Siem ihre Habilitationsurkunde.

Soziale Gruppen stehen sich oft reserviert gegenüber, vor allem wenn sie sich einander fremd fühlen. Doch was brauchen sie für eine Annäherung? Dieser Frage ist Dr. Birte Siem im Rahmen ihrer Habilitation nachgegangen. Die Psychologin hat ihre Venia Legendi an der FernUniversität in Hagen erhalten. Ihrer Forschungsarbeit vorangestellt ist der Titel „Approaching the Other“ – „aufeinander zugehen“. „Es geht darum, welche Faktoren positives Verhalten zwischen Mitgliedern verschiedener sozialer Gruppen beeinflussen – und wie es sich fördern lässt“, erklärt die Wissenschaftlerin. So hat sie etwa in mehreren Einzelstudien erforscht, was Menschen dazu bewegt, Mitgliedern einer Fremdgruppe zu helfen oder sich mit ihnen zu versöhnen. In der Sozialpsychologie beschreitet sie damit recht neue Pfade: „Bisher lag der Fokus hier vor allem auf negativen Verhaltensweisen – oft ging es da zum Beispiel um Vorurteile und Stereotype.“

Vertrauen spielt zentrale Rolle

Das Habilitationsprojekt folgt zwei Hauptsträngen. Der erste analysiert prosoziales Verhalten, also Hilfeverhalten, vor allem im Kontext ehrenamtlichen interkulturellen Engagements: „Eine Reihe von Studien untersucht zum Beispiel, von welchen Faktoren es abhängt, dass Personen sich für Geflüchtete oder Migrantinnen und Migranten engagieren.“ Dabei interessiert die Wissenschaftlerin vor allem, welchen Einfluss die Gruppenzugehörigkeit hat. Unter anderem weist sie nach, dass Menschen sich eine hilfsbedürftige Person genauer anschauen und zum Beispiel besonders darauf achten, wie vertrauenswürdig sie ist, wenn diese einer kulturellen Gruppen angehört, die als unähnlich zur eigenen Gruppe wahrgenommen wird. Gerade bei „Fremden“ schauen Menschen also besonders genau hin: „Individuelle Eigenschaften, die auf Vertrauenswürdigkeit hindeuten, werden dann besonders relevant – wie ehrlich, wie authentisch wirkt jemand?“. Dieses Bild zeichnen sowohl Studien mit echten ehrenamtlich Engagierten, als auch mit Personen, die sich lediglich in deren Lage versetzen.

Umgekehrt ist ein vergleichbarer Effekt sichtbar: Menschen suchen lieber Unterstützung von Personen, die ihnen, zum Beispiel aufgrund einer geteilten Gruppenzugehörigkeit, ähnlich scheinen, weil sie diese als vertrauenswürdig wahrnehmen. Die empfundene Vertrauenswürdigkeit ist also eine wichtige Brücke, damit heterogene Gruppen dennoch aufeinanderzugehen, sich helfen oder helfen lassen. Dieses Wissen bietet auch Orientierung für Politik und Gesellschaft: „Organisationen, denen es um ehrenamtliche Hilfe geht, können zum Beispiel gezielt vertrauensbildende Maßnahmen einsetzen.“ Zudem sollten sich Organisationen, die Beratung von Hilfesuchenden anbieten, um eine vertrauenserweckende Außendarstellung bemühen.

Hände zweier Menschen ineinandergelegt Foto: PeopleImages/E+/GettyImages
Vertrauen ist wichtig – bei der Entscheidung zu helfen und auch bei der Annahme von Hilfe.

Bedürfnisse berücksichtigen

Beim Blick aufs prosoziale Verhalten setzte Siem ein grundsätzliches Wohlwollen zwischen den Gruppen voraus. Allerdings nähert sie sich dem Thema noch aus anderer Richtung: „Im zweiten Strang meiner Arbeit geht es um konfliktträchtige Intergruppenkontexte.“ Die Psychologin nimmt hier Situationen sozialer Ungleichheit, etwa strukturelle Ungleichheit zwischen Frauen und Männern im Berufsleben, aber auch konkrete Konflikte unter die Lupe. Studien legen dabei offen, was beiden Seiten nach einem Vorfall wichtig ist. „Die Täter oder die Privilegierten haben ein starkes Bedürfnis nach sozialer Akzeptanz – vorausgesetzt, sie sind sich darüber bewusst, dass sie etwas falsch gemacht haben. Sie wollen wieder moralisch rehabilitiert werden“, so Siem. „Die Opfer oder die Benachteiligten verspüren hingegen ein Bedürfnis nach Ermächtigung; sie wollen die Kontrolle zurückerlangen.“

Verständigung ermöglichen

Folgestudien, an denen Siem beteiligt ist, zeigen bereits: Eine Annäherung gelingt tatsächlich leichter, wenn beide Seiten ihren sozio-emotionalen Bedürfnissen nachkommen dürfen. Entsprechend gilt auch der Umkehrschluss: „Es ist wichtig, zu wissen, dass die Nichtadressierung dieser Bedürfnisse einer Versöhnung zwischen Gruppen im Weg steht“, so die Forscherin. Um die Schieflage zwischen den Konfliktparteien zu korrigieren, gibt es verschiedene Möglichkeiten. Hilfe bringe in bestimmten Fällen etwa ein konstruktiver Dialog oder ein klärendes Mediationsgespräch.

Akademische Laufbahn

Birte Siem studierte Psychologie in Trier und Berlin. 2004 wurde sie wissenschaftliche Mitarbeiterin bei Prof. Dr. Stefan Stürmer an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Der heutige Dekan der Hagener Fakultät für Psychologie hatte dort die Juniorprofessur für Angewandte Sozialpsychologie inne. Bei seinem Wechsel an die FernUniversität 2007 folgte ihm Siem ins neue Lehrgebiet Sozialpsychologie. Nach ihrer Promotion über „Prosoziale Emotionen und interkulturelles Helfen“ ging sie 2008 für ein Postdoctoral Research Fellowship an die Friedrich-Schiller-Universität Jena. 2010 kehre sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin wieder ins Hagener Lehrgebiet Sozialpsychologie zurückkehrte. Aktuell arbeitet sie als Lehrkraft für besondere Aufgaben in den Lehrgebieten Sozialpsychologie (Prof. Dr. Stefan Stürmer) und Community Psychology (Prof. Dr. Anette Rohmann). Frisch habilitiert, folgt sie nun einem Ruf an die Leuphana Universität Lüneburg (Professur Sozial- und Organisationspsychologie der Sozialen Arbeit).

Dr. Birte Siems kumulative Habilitationsschrift trägt den Titel: „Approaching the Other: Determinants of Positive Behavior across Group Boundaries in Benign and Conflictual Intergroup Contexts“. Zur Online-Publikation

Benedikt Reuse | 10.11.2020