Sprachlose Versprechen in Corona-Zeiten

Ellenbogenschlag, „Foot-Shake“, Handheben: Wie einigen sich Menschen auf eine der neuen Begrüßungsformen? Damit hat sich Prof. Dr. Dorett Funcke von der FernUniversität befasst.


Foto: Volker Wiciok

Folge des coronabedingten „Social Distancings“ sind – neben einschneidenden Lebensänderungen – nicht zuletzt vielfältige, oft unbewusste Verhaltensänderungen. Wer z.B. außer Boxsport-Fans hätte es Anfang 2020 für eine Begrüßung gehalten, geballte Fäuste gegeneinanderzudrücken? Auch Ellenbogenschlag, „Foot-Shake“, Handheben, Kopfnicken, die Hand aufs Herz zu legen, die „Namaste-Geste“ und andere neue Begrüßungsrituale lösten Händeschütteln, Umarmungen oder Wangenküsse ab. „Wie einigen sich Menschen auf eine der vielen neuen Begrüßungsformen und was folgt daraus?“ wollte Prof. Dr. Dorett Funcke, Leiterin der Ernsting’s family-Stiftungsprofessur für Mikrosoziologie der FernUniversität in Hagen, wissen. Viele Regeln und Konventionen in den verschiedensten Lebensbereichen gelten ja nicht mehr.

Weil sich durch die Corona-Krise persönliche und körperliche Nähe nur schwer verbinden lassen, müssen die Menschen jetzt häufig wortlos eine Wechselbeziehung durch Gesten gestalten, die Zustimmung ausdrücken, etwa durch „synchron kommunizierte Gegensätzlichkeit“ (natürlich sind auch Ablehnungen möglich). Die „distanzierte Kommunikation“ erfolgt dabei oft nur durch Gesten und Mimik und wird durch Mund-Nase-Masken weiter erschwert. Beim Händeschütteln ist die Form dagegen ja ebenso vorgegeben wie die minimale und maximale Distanz.

Eine Kommunikationsbeziehung aufzubauen, gleichzeitig aber distanziert bleiben zu müssen, ist eine anstrengende Angelegenheit. Sie erfordert ein hochkomplexes Agieren und Reagieren innerhalb von Sekundenbruchteilen, um eine positive Beziehung einzuleiten oder zu bekräftigen.

Welche Funktion hat die Begrüßung grundsätzlich?

Foto: Volker Wiciok
Prof. Dorett Funcke

Ein besonderes Charakteristikum der Menschen ist ihre Kooperationsfähigkeit: „Durch ihr Handeln erzeugen sie eine ‚kooperationsorientierte Sozialität‘“, so Dorett Funcke. Wie groß ihre Kooperationsbereitschaft ist, zeigen sie dadurch, wie sie sich in dem Raum selbst platzieren. Sinnliche Nähe oder Distanz zwischen den Personen drückt sich auch räumlich aus: Berühren sie sich oder halten sie Abstand voneinander? Dabei bestimmt aus raumsoziologischer Sicht (Georg Simmel, 1858 bis 1918) nicht nur der tatsächliche Raum, wie Menschen ihre Beziehung zueinander definieren, sondern auch der Raum im Sinne von Beziehungskonstellation. „Nähe steht für eine enge Kommunikation und Distanz für Fremdheit“, erläutert Dorett Funcke. „Wie wir im übertragenen Sinn zu einander stehen, drücken wir also durch unsere tatsächliche Positionierung aus.“

Die kleinste kommunikative Einheit, welche Sozialität, also menschliche Gemeinschaft, verwirklicht, ist wechselseitiges Grüßen. Begrüßungen begründen eine Wechselbeziehung, als Kontinuitätsversprechen binden sie die Menschen daran.

Funcke: „Diese Mikrokommunikation begleiten wir – insbesondere, wenn wir uns besonders zugeneigt sind – gerne mit einer Umarmung, einem Wangenkuss bzw. einem Handdruck. Mit solchen ‚körpergebundenen Konventionen‘ bekräftigen wir Kommunikationen. Diese Bewegungen folgen gängigen Konventionen, mit ihnen drücken wir unsere verbindliche positive wechselseitige Positionierung aus.“

Hochkomplexes Agieren und Reagieren

Mehr zum Thema

Sind Priorisierungen beim Impfen zu rechtfertigen?

Impfen KrankenhausFoto: Fstop123/E+/Getty Images

Unter bestimmten Bedingungen hat der Schutz der Allgemeinheit Vorrang vor dem individuellen Schutz, sagt die Medizinethikern Jun.-Prof. Orsolya Friedrich von der FernUniversität.

Weiterlesen >

Im alltäglichen Miteinander gehen die Menschen heute mit den neuen Herausforderungen reflexiv, also rückbezüglich, um, hat Prof. Funcke im Corona-Jahr 2020 beobachtet. Die (räumliche) Grenze zwischen denen, die sich begrüßen, wird oft zwar wortlos, aber dennoch kommunikativ gezogen und ist Gegenstand der Reflektion: Darüber, wie weit man sich nähert, wird blitzschnell nachgedacht, wobei das Verhalten des oder der anderen beobachtet und in die eigene (Re-)Aktion einbezogen wird.

Des Weiteren stellte die FernUni-Forscherin fest, dass neue Formen wichtiger wurden: „Diese außersprachlichen Gesten, die kürzelhafte Editionen eines Grußes sind, sollen körpernahe Begrüßungen teilweise ersetzen. Mit diesen Formen können Kommunikationskrisen verhindert werden, die durch Wegfall der konventionellen Austauschweisen entstehen können, und die positive Beziehung bekräftigen. Auch sie symbolisieren ein Kontinuitätsversprechen und binden die Menschen an ihre Wechselbeziehung.“

Kommunikation – mehr als Worte

Grundlegendes Kommunikationsmedium für Wechselseitigkeit ist also zwar Sprache, doch werden auch Körper als Medium genutzt, etwa durch Bewegung in Richtung einer Kommunikationspartnerin bzw. eines Kommunikationspartners oder von dieser Person weg. Auch mit Lachen, Weinen, Erröten und anderen Formen der Leiblichkeit reagieren wir auf Kommunikationsprobleme – oft ganz unbewusst.“

Die Bereitschaft zu „Wechselseitigkeit“ bzw. „Kommunikation“, also aufeinander bezogenes Handeln, wird von Regeln geleitet und durch spezifische Qualitäten bestimmt. Das gilt für alle Begrüßungsformen.

Was macht den Unterschied zwischen einer „körpernahen“ Begrüßung mit Handschlag und einer „distanzierten“ ohne ihn aus? Funcke: „Mit dem Handschlag und beiderseitigem Begrüßen, etwa durch jeweiliges ‚Hallo!‘, wird bei einer ‚körpernahen‘ Begrüßung das Versprechen unterstrichen, in eine gemeinsame Beziehung einzutreten. Das kann dann z. B. durch Fragen wie ‚Wie geht’s?‘, ‚Was hast Du vor?‘ oder ‚Wo willst Du hin?‘ geschehen.“ Der Handschlag stellt nach ihren Worten eine Bekräftigung dar, aber der Unterschied zwischen Grüßen ohne Handschlag und gar nicht Grüßen ist minimal.

Regeln und Normen

Nähe steht für eine enge Kommunikation und Distanz für Fremdheit. Wie wir im übertragenen Sinn zu einander stehen, drücken wir also durch unsere tatsächliche Positionierung aus.

Prof. Dorett Funcke

„In der Soziologie unterscheiden wir strikt zwischen Regeln und Normen“, erläutert Funcke. Die Unterscheidung ist, so die Wissenschaftlerin, sehr wichtig, um klar zu erkennen, was wirklicher Wandel bzw. Transformation ist: „Nicht jede Normveränderung bedeutet immer auch gleich einen Regelbruch. Bestimmte elementare Regeln ändern sich nicht, auch wenn Menschen gegen sie verstoßen, indem sie einer bisher gängigen Praxisnorm nicht mehr folgen.“

Dass Rangniedrigere z.B. zuerst grüßen sollen, die Jüngeren die Älteren, Männer Frauen, hängt mit der Struktur des Grüßens an sich zusammen. Denn der Gruß (z.B. „Guten Tag“, „Hallo“ etc.) eröffnet der oder dem Begrüßten einen Spielraum mit genau zwei Optionen: den Gruß zu erwidern oder eben nicht. Wer den Gruß entbietet, begibt sich selbst in eine riskante Situation, denn der Gruß zurück kann ihr oder ihm auch verweigert werden: Die oder der Begrüßte lehnt also eine Wechselbeziehung ab. Das ist praktisch eine negative Sanktion. „Ranghöhere müssen selbst qua Status entscheiden dürfen, ob sie im Gruß die Minimalform einer Begegnung praktizieren wollen, während man, salopp gesagt, Frauen und Ältere vor einer ‚Abfuhr‘ schützen will“, erläutert Funcke einen Zweck der Grußregeln. „Im Gruß steckt immer auch eine Autonomiezumutung und – mit dieser verbunden und von der Grußregel erst erzeugt – Entscheidungsfreiheit.“ Allerdings unter dem Zwang geltender Regeln.

Auch bei den neuen Begrüßungsritualen gelten Regeln. Ändern kann sich jedoch ihre Ausgestaltung. „Das liegt dann daran, dass sich Menschen nicht mehr an bestimmte Normen, die dem sozialen Wandel unterliegen, halten oder – wie in Zeiten der Corona-Krise – halten können.


Das könnte Sie auch interessieren

Gerd Dapprich | 05.02.2021