Nichts ist unumstößlich

…und alles relativ? Selbst Beweise entfalten ihre Kraft jeweils in Bezug zu einem bestimmten Denksystem. Die FernUni-Philosophen Jens Lemanski und Theodor Berwe forschen zum Thema.


Malerei: Hand mit Zirkel auf Tafel Foto: Granny Enchanted via Wikimedia Commons
Wie kaum eine andere Wissenschaft lebt die Mathematik von Beweisen. (Ausschnitt aus einer Darstellung Euklids, Justus van Gent, ca. 1474)

Ist ein Beweis erstmal erbracht, gilt er gemeinhin als verlässlich. Die Alltagssprache versieht ihn gerne mit Attributen wie stichhaltig, zwingend oder eindeutig. Ein Blick auf die Wissenschaftsgeschichte zeigt jedoch, wie umstritten der absolute Wahrheitsgehalt von Beweisen zu allen Zeiten war. Eben diese Vielschichtigkeit macht sie zu interessanten Forschungsobjekten für PD Dr. Jens Lemanski und Theodor Berwe von der FernUniversität in Hagen. Zuletzt organisierten die beiden Wissenschaftler aus dem Lehrgebiet Philosophie I (Prof. Dr. Hubertus Busche) einen Online-Workshop mit dem Titel „Beweise. Historische und systematische Perspektiven“. Über 50 Teilnehmende aus verschiedenen Ländern von Deutschland über Griechenland und Estland bis Argentinien waren zugeschaltet.

„Es gibt diesen standardisierten Blick auf Beweise: Irgendetwas ist bewiesen und damit Ende! Bei der Tagung haben wir jedoch immer wieder gemerkt, dass es viele Beweise gibt, die einfach nicht akzeptiert werden“, berichtet Jens Lemanski. Das kann verschiedene Gründe haben. Beweise können zum Beispiel an Gültigkeit verlieren, wenn sich das Denksystem, auf das sie sich beziehen, nicht anerkannt wird oder sich verändert. Selbst der gründlichste Beweis ist nur so stabil, wie der theoretische Boden, auf dem er aufbaut. Das betrifft sogar vermeintlich wasserdichte geometrische Lehrsätze: „Die Geometrie galt eigentlich als Paradebeispiel eines absolut gewissen Beweissystems – seit der Antike und über die Jahrhunderte hinweg. Bis man irgendwann festgestellt hat, dass sich im Einzelfall Probleme ergeben können“, sagt Theodor Berwe mit einem Schmunzeln. „Die Gewissheit endete im 19. Jahrhundert mit der Entdeckung nichteuklidischer Geometrien.“ Diese nämlich deckte das altbewährte System des antiken Mathematikers Euklid einfach nicht mehr mit ab.

Eingeschränkte Gültigkeit

Euklids klassische Beweise sind deswegen nicht falsch – allerdings wurde ihr vormals absoluter Geltungsbereich stark eingeschränkt. „Sie gelten nur im sogenannten euklidischen Raum, von dem man lange annahm, dass er dem physischen Raum entspreche. Spätestens seit Albert Einstein wissen wir jedoch, dass dies nicht der Fall ist“, erklärt Lemanski. Damit verschieben sich die Prämissen ein weiteres Mal. Berwe veranschaulicht den Paradigmenwechsel mit einem Modell: „Was für ein Dreieck auf einem flachen Blatt Papier gilt, das gilt eben nicht für ein Dreieck, das auf die Oberfläche einer Kugel gezeichnet ist.“ Denkbar wäre durchaus, dass auch viele heute gültige Beweise in hundert Jahren nur noch eingeschränkt gelten; je nachdem, welchen Erkenntnisfortschritt die Menschheit in Zukunft erzielt.

Portraits Foto: Hardy Welsch, Bernd Müller
Jens Lemanski und Theodor Berwe forschen aus philosophischer Perspektive zu Beweisen.

Kulturelle Dimension

„In unserer Forschung zu Beweisen konzentrieren wir uns besonders auf die Philosophie der Logik und Mathematik,“ so Lemanski. Bei der Tagung hat sich aber auch gezeigt, dass Beweise oft eine starke kulturelle und politische Dimension haben. Ein popkulturelles Beispiel stammt aus George Orwells dystopischem Klassiker „1984“. Hier behauptet ein machthabender Inquisitor wider jede mathematische Einsicht: „Manchmal gilt zwei plus zwei gleich fünf.“ Die fiktive Szene verdeutlicht ein Problem, das auch in Wirklichkeit existiert – beispielsweise mit Blick auf die kirchlichen Dogmen des Mittelalters. Verändern sich ihre Grundlagen durch politische oder religiöse Mächte, können einst sichere Beweise ins Wanken geraten.

Grundannahmen entscheidend

„Mit einem Beweis einher gehen immer bestimmte Voraussetzungen“, unterstreicht Berwe. „Wenn wir in der Geschichte zurückgehen, können das zum Beispiel religiöse oder metaphysische Voraussetzungen sein. Aktuell kursieren etwa sogenannte Flatearther-Theorien, deren Anhängerinnen und Anhänger Beweise für die Kugelgestalt der Erde leugnen – und das teils unter methodologischen Annahmen: Sie erkennen nur das als Beweis an, was sie mit den eigenen Sinnen erfassen können.“ Wissenschaftliche Beweise, die nicht auf einem solch naiven Verständnis von Sinnlichkeit basieren, hätten bei ihnen per se keine Chance.

Weitere Tagung geplant

Anknüpfungspunkte bietet das Thema zahlreiche – für die beiden Forscher ist klar: „Wir wollen weitermachen!“. Sie haben bereits Kooperationen in Hagen und darüber hinaus ins Auge gefasst. Erst im Wintersemester war der griechische Mathematikhistoriker Prof. Dr. Ioannis Vandoulakis (Hellenic Open University) an der FernUniversität zu Gast und lehrte und forschte zum Thema Vom 25. bis 31. Juli 2021 ist zudem eine weitere Online-Tagung zu Beweisen geplant. Den Rahmen bildet der 26. „International Congress of History of Science and Technology“. Es soll um das Verhältnis zwischen Ost und West gehen. Daraus ergeben sich weitere vielversprechende Ansätze: „Beweise haben zum Beispiel im asiatischen Raum noch mal eine ganz andere Geschichte als im Westen. Da bestehen interessante kulturelle Perspektiven.“

 

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Benedikt Reuse | 17.05.2021