Mehr Fakten = gerechtere Arbeitswelt?

Die massenhafte Auswertung von Beschäftigtendaten birgt Gefahren, aber auch Chancen. Ein neues internationales Projekt forscht jetzt an der FernUniversität zu People Analytics.


Mann in Fabrik arbeitet an drei Bildschirmen Foto: Tom Werner/Stone/Getty Images
Wer mit digitaler Technik arbeitet, produziert automatisch einen Strom auswertbarer Daten.

2008 wurde einer großen deutschen Drogeriekette vorgeworfen, heimlich die Aktivität ihrer Angestellten zu überwachen, unter anderem mithilfe von Lochwänden im Geschäftsraum. Ein datenschutzrechtlicher Skandal, auch aus heutiger Sicht. Rein technisch betrachtet, mutet diese Art der Kontrolle altmodisch an: Im digitalen Zeitalter produzieren Beschäftige jeden Tag Massen von Daten. Alle Chats, Posts, Transaktionen und Klicks hinterlassen detaillierte Infos. Fast jeder Schritt in der virtuellen Welt ist algorithmisch auswertbar. Die Idee, bestimmte Datenströme unternehmerisch zu nutzen, ist längst verbreitet; datengetriebenes Personalmanagement im Sinne von People Analytics mancherorts schon Realität. „Die Daten ermöglichen eine Draufsicht, aggregiert aus verschiedenen Einzelperspektiven. So zeigen sich Muster, die der Einzelne nicht erkennen kann“, erklärt Prof. Dr. Uwe Vormbusch von der FernUniversität in Hagen. Im Idealfall lassen sich dadurch Abläufe optimieren und Leistungen fairer und objektiver bewerten. Gleichzeitig drohen Beschäftigten aber auch ethische Grenzüberschreitungen und erhöhter Leistungsdruck.

International gefördertes Projekt

Um das komplexe Feld wissenschaftlich zu beleuchten, startet der Leiter des Lehrgebiets Soziologische Gegenwartsdiagnosen jetzt gemeinsam mit Prof. Dr. Peter Kels von der Hochschule Luzern ein Projekt zu „People Analytics in Erwerbsorganisationen“. „Wir wollen untersuchen, wie sich Systeme einer umfassenden Datensammlung auf die Beschäftigten, auf Hierarchien am Arbeitsplatz und auf unternehmerische Entscheidungen sowie Autonomiespielräume auswirken“, erklärt Prof. Vormbusch. Das internationale Vorhaben wird für den Zeitraum von drei Jahren von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und dem Schweizerischen Nationalfond (SNF) finanziert. In Hagen entstehen im Rahmen der Förderung zwei neue Stellen für wissenschaftliche Mitarbeitende.

„Gerade im angloamerikanischen Raum wird ein fundamentaler Wandel der Entscheidungsstrukturen gefordert.“

Prof. Uwe Vormbusch

Handlungsfeld mit Grauzonen

Die Forscher gehen in Deutschland und der Schweiz auf Unternehmen verschiedener Branchen zu, um Interviews mit Angestellten wie Management zu führen und die jeweiligen Praktiken und Firmenkulturen genau zu studieren. Zudem suchen sie das Gespräch mit den Anbietern von Analyse-Tools. Relevant ist die deutsch-schweizerische Feldforschung auch deshalb, weil die hiesigen Bedingungen speziell sind – vor allem in Abgrenzung zum angloamerikanischen Raum mit seinem eher lockeren Datenschutzrecht. „Die gesetzlichen Bestimmungen dazu sind in Deutschland und in der Schweiz ähnlich streng“, erläutert Vormbusch. „Die Frage ist jedoch: Was wird wirklich gemacht?“ Die Wissenschaftler müssen deshalb auch künftige Klagen und Präzedenzfälle im Blick halten. Unabhängig von der Frage, inwieweit Grauzonen im Einzelnen ausgenutzt werden oder nicht, geht Prof. Vormbusch auf jeden Fall von einer großen Handlungsvielfalt aus: „Es muss nicht immer Big Data sein. Vorangegangene Studien von uns zeigen: Wie viele Daten einzelne Unternehmen konkret erheben, ist sehr unterschiedlich.“

Weniger Diskriminierung…

Nichtsdestoweniger zeichnet sich ein Trend ab: „Gerade im angloamerikanischen Raum wird ein fundamentaler Wandel der Entscheidungsstrukturen gefordert“, so Vormbusch. „Dahinter steht eigentlich ein emanzipatives Versprechen.“ Das datengestützte Management soll auch den Beschäftigten zugutekommen, so die Argumentation. Algorithmen urteilen angeblich immer fair. Äußerlichkeiten, Geschlecht oder Herkunft zögen demnach keine Diskriminierung nach sich – zählen würde nur noch die tatsächliche Performance.

Portrait Foto: Volker Wiciok
Prof. Uwe Vormbusch arbeitet schon länger zum Thema „People Analytics“ – jetzt mit gebündelten Ressourcen.

…mehr Homogenisierung

Die Frage ist jedoch: Wie bemisst sich Leistung überhaupt? „Algorithmen verlängern bisher von ihnen erkannte strukturelle Muster in die Zukunft. Entsprechend unflexibel sind sie, wenn es darum geht, Veränderungen anzustoßen“, sagt Vormbusch. So würden zum Beispiel Menschen mit ungewöhnlichen Lebensläufen leichter durchs Raster fallen: Wenn eine Person ihr Studium für ein Jahr pausiert hat, wird sie eventuell von der Maschine herausgefiltert, obwohl sie wegen ihrer Kreativität eigentlich perfekt für eine Aufgabe gewesen wäre. „Man muss schon befürchten, dass eine Art von Streamlining entsteht“, prognostiziert der Soziologe. Zusätzlich droht die Gefahr, dass Beschäftigte ihr Verhalten nur noch am maschinellen Beurteilungssystem ausrichten, um „Punkte zu sammeln“ anstatt erfinderisch und eigenständig zu handeln.

Oligopole verwalten die Daten

Kritisch sieht Vormbusch zudem, dass die meisten Daten gar nicht von den Unternehmen selbst gesammelt und ausgewertet werden, sondern von großen IT-Dienstleistern, die Lizenzen für ihre Software vergeben. „So entstehen Oligopole, die dann die Daten von tausenden Unternehmen verwalten.“ Die IT-Konzerne verfügen somit nicht nur über die kommerzielle Gewalt über die fremden Daten, sie wenden eventuell auch standardisierte Wertungsschemata an, die wahrscheinlich nicht zu jedem Unternehmen passen. Bauchentscheidungen zu meiden, könnte sich in manchen Branchen auch negativ auswirken. Zwar rechnen Maschinen auf eine Weise mit Daten, die den menschlichen Verstand übersteigt. Bedingungslos klüger sind sie dadurch aber nicht.

 

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Benedikt Reuse | 08.06.2021