Historische Handschriften ordnen Erinnerungen

Geschichte deuten: Privatdozentin Dr. Uta Kleine von der FernUniversität forscht zu Fragen nach „Zeit und Erinnerung in klösterlichen Traditionsbüchern“.


Foto: Uta Kleine
Das Goldene Buch: Das Liber aureus von Prüm ist die wohl bedeutendste erhaltene Urkundensammlung aus aus dem 12. Jahrhundert.

Menschen sind bestrebt, die Geschichte im Rückblick (neu) zu ordnen. Sie sortieren Erinnerungen so, dass sie sich an die Gegenwart anpassen. Aber was treibt sie dazu an? Uta Kleine beschäftigt sich schon lange mit Zeitlichkeit: „Wie wird Erinnerung in geordnete Erinnerung, in zusammenhängende Geschichte, überführt – nach dem Zufall der Überlieferung oder nach bestimmten Mustern oder der eigenen Kombinatorik folgend?“ Die Geschichtswissenschaftlerin untersucht die Deutung dieser Erinnerungen.

Als noch keine ausgebildeten Historikerinnen und Historiker die Vergangenheit systematisch analysierten und ,in Reihe‘ brachten, waren es die Institutionen, die Schriftüberlieferung gepflegt haben: Kirchen und Klöster. „Auffällig ist dabei, dass es Phasen in der Geschichte gibt, in denen häufiger Neuordnungen passierten – etwa im sogenannten langen 12. Jahrhundert.“ Es war eine Spanne intensiver Reformen des religiösen Lebens.

„Das war eine Zeit“, so die Historikerin aus dem Lehrgebiet Geschichte und Gegenwart Alteuropas, „in denen die Mönche und Nonnen systematisch die Archive durchforstet haben, um sich einen Überblick über die Besitztümer des Klosters zu verschaffen.“ Denn: Je mehr Land, desto höhere Einkünfte waren zu erwarten. Vielleicht hatte das Kloster ein Anrecht auf Land und konnte eine Rückgabe fordern. Davon hing die wirtschaftliche Existenz eines Klosters ab.

Traditionsbücher

Das Interesse, die Güter zu mehren, war also groß. Die Mönche und Nonnen stießen auf Urkunden, lose Zettel, Güterverzeichnisse und unter Umständen ältere Annalen und Inventarlisten in Truhen, Regalen und bereits angelegten Archiven. „Meistens überarbeiteten sie die vorliegenden Schriftstücke, schrieben Bücher nochmal. Dafür war eine Ordnung erforderlich: Sie konnten räumlich, chronologisch oder nach Kategorien sortieren.“ In der Folge entstanden „Traditionsbücher“. So nennt die Hagener Wissenschaftlerin sie. Tradition geht zurück auf das Lateinische traditio, das Übergabe bedeutet. „Besitzübertragung“, sagt Kleine.

Foto: Veit Mette
Privatdozentin Uta Kleine

„Die Vergangenheit entsteht aus organisierter Erinnerung, die von der Gegenwart abhängt“, so Uta Kleine. „Was sagt eine andere als die ursprüngliche Ordnung über die Wahrnehmung von Zeit und Raum aus?“ Das ist das Leitthema, das Uta Kleine untersuchen möchte. „Sicher waren die Schriftkundigen motiviert davon, die Vergangenheit an die Gegenwart – das eigene Erleben – anzupassen.“

Urkundenchronik

Für Klöster und ihre Geschichte spielen diese Besitzverzeichnisse/-register eine bedeutende Rolle: „Anhand dieser Alltagszeugnisse konnten sie ihre eigene Historie rekonstruieren. Es entsteht eine Urkundenchronik.“ Spätantike und mittelalterliche Handschriften waren zudem ein Machtinstrument: „Das Geschriebene galt als Autorität.“ Insbesondere den schriftunkundigen Bauern gegenüber ließen sich Anspruchszahlungen leicht durchsetzen. „Klosterbesitz war zudem weit gestreut und musste organisiert sowie verwaltet werden.“

Außerdem erzählten die Bücher eine Nutzungsgeschichte. Einige wurden auch besonders verehrt. In den Klöstern Prüm und Echternach stehen „Goldene Bücher“ kostbar gebundene Handschriften, die im Grunde eine profane Sammlung enthalten.

Foto: Uta Kleine
Auszug aus dem Traditionsbuch aus Echternach von 1191 – eine illustrierte Abschrift der Gründungsurkunde

Die alten Schriften enthielten nicht nur Text, oftmals waren auch Bilder, Tabellen und Diagramme eingefügt. „Die Seiten waren übersichtlich und optisch ansprechend gestaltet.“ Allerdings: Mit jeder neuen Ausgabe eines Traditionsbuches, mit jeder Umsortierung veränderte sich der Bezug zum Original. Unter Umständen wurden die Urkundenoriginale bewusst verfälscht, also den Bedürfnissen der Gegenwart angepasst. Das wiederum diente unter anderem dazu, die Einkünfte zu erhöhen. Manche Traditionsbücher verbrannten auch.

Phänomen Zeitlichkeit

Die Fragen nach Zeitlichkeit in der Geschichtswissenschaft werden zwar seit ein paar Jahren über Netzwerke erforscht, sind aber ein noch relativ junger Zweig in der Forschung. Uta Kleine hat mit ihrem Vorhaben eine Forschungsfördersumme eingeworben und bereitet aktuell einen Drittmittelantrag bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) vor. Sie denkt auch an eine Tagung zum Thema und internationale Zusammenarbeit. Das Phänomen Zeitlichkeit kennt keine Grenzen.

Außerdem knüpft ihr Forschungsprojekt an ältere Forschungsinteressen an: Für ihre Arbeit zu spätantiken und mittelalterlichen Handschriften bekam sie die Venia Legendi. „Jede Handschrift ist ein Unikat. An Handschriften lässt sich Zeitgeschichte ablesen. Das Pergament spielt eine Rolle. Man sieht auch, ob zu einem späteren Zeitpunkt etwas nachträglich ein Dokument eingefügt wurde. An Handschriften bilden sich dynamische Prozesse ab.“ Gemeinsam mit einer Mitarbeiterin erfasst sie die Handschriften systematisch in einer Datenbank. „Dank der Digitalisierung gibt es schon einen soliden Fundus aus Bibliotheken im Netz.“


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Anja Wetter | 20.09.2021