„Public Health statt Hippokrates“: Erste Ergebnisse eines Medizinethik-Projekts

Covid 19: FernUni-Philosophen und ihre kroatischen Partner untersuchen zentrale Aspekte der öffentlichen Gesundheitswesen ihrer beiden Staaten aus Sicht der Integrativen Bioethik.


Foto: FernUniversität
Prof. Thomas Sören Hoffmann (re.) und Dr. Marcus Knaup untersuchen zusammen mit ihren Kollegen in Zagreb zentrale Aspekte des öffentlichen Gesundheitswesens in Deutschland und Kroatien aus der Perspektive einer Integrativen Bioethik.

Mit einem brennend aktuellen Thema befassen sich seit Anfang 2021 Philosophen der FernUniversität in Hagen und der Universität Zagreb: Aus der Perspektive einer Integrativen Bioethik untersuchen sie zentrale Aspekte des öffentlichen Gesundheitswesens in Deutschland und Kroatien am Beispiel der Bekämpfung und der Gefahreneindämmung bei Epidemien. Den unmittelbaren Bezugspunkt des medizinethischen Vorhabens „Public Health and State of Emergency Issues from the Perspective of Integrative Bioethics“ bieten die gesundheitspolitischen und sanitären Maßnahmen, die zur Eindämmung von Covid-19 in beiden Staaten getroffen wurden.

Die Integrative Bioethik ist an beiden Universitäten seit vielen Jahren fest verwurzelt. Prof. Dr. Thomas Sören Hoffmann leitet das Hagener Lehrgebiet Philosophie II, Praktische Philosophie: Ethik, Recht, Ökonomie. In Zagreb ist Prof. Dr. Hrvoje Jurić Direktor des Exzellenzzentrums für Integrative Bioethik.

Erste belastbare Ergebnisse

Zusammen mit Mitarbeitenden konnten die beiden wissenschaftlichen Projektleiter jetzt zur Halbzeit erste belastbare Ergebnisse dieser zweijährigen Zusammenarbeit vorstellen. Gefördert wird sie vom Deutschen Akademischen Austauchdienst (DAAD) und vom kroatischen Wissenschaftsministerium.

In Hagen diskutierten Prof. Jurić und Postdoc Dr. Marko Kos mit Prof. Hoffmann, Dr. Marcus Knaup und Ludwig Krüger intensiv über politische Maßnahmen in beiden Staaten zur Bekämpfung der Corona-Krise und verglichen diese miteinander. Im persönlichen Zusammentreffen reflektierten sie gemeinsam die Leitkonzepte „Öffentliches Gesundheitswesen“ und „Ausnahmezustand“. Jurić: „Wir haben auch wissenschaftliche, medizinische, rechtliche, politische, soziale, mediale und andere Reaktionen auf die Pandemie vergleichen können, ebenso verschiedene Maßnahmen.“

Daher sei er der Hagener Hochschule, Prof. Hoffmann und seinen Mitarbeitern – vor allem Knaup und Krüger – dankbar, dass er jetzt „die reichen Ressourcen der FernUniversität für die Forschung nutzen und die Projektziele erreichen“ könne. Er beteiligte sich zudem mit einem Vortrag an der Hagener Woche der Philosophie für Studierende. Kurz zuvor hatte das Projekt eine Bioethik-Tagung in Kroatien mitgestaltet, eine erste Publikation folgt bald.

In Pandemie veränderter Blick auf Individuum

Eines der für Thomas Sören Hoffmann wichtigsten Zwischenergebnisse war, „dass sich in der Pandemiesituation der Blick auf das Individuum ändern kann: ‚Public Health‘ tritt an die Stelle der hippokratischen Medizin, die auf das Individuum schaut“. Dadurch könne im Extremfall so etwas wie eine „Gesundheitspflicht“ entstehen, die keine Rücksichten mehr auf individuelle Bedürfnisse nimmt. Hoffmann weiter: „Man vergisst leicht, dass es die Aufgabe der Medizin ist, den einzelnen Menschen zu heilen, nicht die Menschheit, wie bereits Aristoteles festgestellt hat.“

Nach seiner Beobachtung ist die Gefahr, ein abstraktes Gesundheitsideal höher zu stellen als das dem Individuum Zuträgliche, in Deutschland größer als in Kroatien. Dort treffe man auch unter Pandemie-Bedingungen eher einen humanen Pragmatismus an als in Deutschland.

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Eine Erkenntnis von Prof. Hoffmann ist, „dass ‚Public Health‘ an die Stelle der hippokratischen Medizin, die auf das Individuum schaut“, treten kann.

Transparente Lösungen

Notwendige Maßnahmen müssen im Horizont gesundheitlicher, rechtlicher, ethischer, ökonomischer, sozialer und politischer Dimensionen getroffen werden.

Dr. Marcus Knaup

„Einig waren wir uns, dass ein wichtiges Kriterium zur Findung einer guten Lösung darin bestehen sollte, dass politische Entscheidungen transparent und nachvollziehbar sein müssen“, resümiert Dr. Marcus Knaup. „Auch eine Revisionsmöglichkeit sollte bestehen. Notwendige Maßnahmen müssen im Horizont gesundheitlicher, rechtlicher, ethischer, ökonomischer, sozialer und politischer Dimensionen getroffen werden.“ Es sei also wichtig, verschiedene Perspektiven zu berücksichtigen und einzubeziehen. „Allein die Berufung auf ein gutes Ziel genügt auch nicht, um eine menschliche Handlung oder eine politische Maßnahme zu rechtfertigen, die per se auch Risiken und Nebenwirkungen in sich bergen kann“, bilanziert Prof. Hoffmanns Habilitand.

Knaup, der in Hagen die Fäden des Projekts in Händen hält, kommt auf ein weiteres Thema zu sprechen: „Mit den kroatischen Kollegen haben wir uns auch über explizite und implizite gesellschaftliche Grundhaltungen wie die Einstellung zum Tod und eine zunehmende Medikalisierung des Lebens ausgetauscht. Ebenso haben wir den Stellenwert erörtert, den wir heutzutage der Gesundheit zuzuschreiben bereit sind.“ Die Wissenschaftler kamen zu dem Schluss, „dass ein Leben ohne Risiken nicht zu haben und eine Gesellschaft ohne Krankheiten utopisch ist. Wir können uns auch nicht gegen alle Unwägbarkeiten versichern und absichern.“

Interdisziplinäre Betrachtung

„Integrative Bioethik ermöglicht eine interdisziplinäre und vielseitige Betrachtung, Diskussion und Lösung komplexer Problemstellungen wie der ‚Corona-Krise‘.“

Prof. Dr. Hrvoje Jurić

Prof. Jurić freute sich, „dass wir dank des Projekts zur Pandemie gezeigt und bewiesen haben, dass die Philosophie präsent und durchaus gegenwartsbewusst ist“. Philosophie könne sowohl auf theoretischer als auch auf praktischer Ebene zur Klärung aktueller, auch chaotischer Situationen beitragen. Dieses „Pandemie-Projekt“ ist Teil einer erfolgreichen deutsch-kroatischen Kooperation im Bereich der Bioethik, die seit mehr als 15 Jahren andauert. Es zeige und beweise auch, dass das zugrundeliegende Konzept der „Integrativen Bioethik“ bei der Bewältigung der schwierigsten Probleme dienen könne: „Integrative Bioethik ermöglicht eine interdisziplinäre und vielseitige Betrachtung, Diskussion und Lösung komplexer Problemstellungen wie der ‚Corona-Krise‘.“

Entscheidungsprozesse gezielt beeinflussen

„Die Kosten einer Pandemie-Situation spiegeln sich in dem Zerfall verschiedener soziokultureller Akteure wider“, kommt Postdoc Dr. Marko Kos auf einen weiteren Aspekt zu sprechen: „Im Rahmen des Projekts zeigte sich, dass sich dieser Zerfall besonders im Verhältnis von Gesellschaft und Wissenschaft manifestiert.“ Vergleiche man Beispiele aus Kroatien und Deutschland, zeige sich in beiden Ländern ein Problem in der Vermittlung wissenschaftlicher Fakten. Dieses Problem habe sich auf gesellschaftlicher, aber auch auf kultureller Ebene als Orientierungsverlust dargestellt. Kos: „Die unklare Kommunikation von Informationen zur Bewältigung eines Notfalls – wie einer Pandemie – hat zu bereits bestehenden Mustern unverantwortlichen Informationsverhaltens beigetragen.“ In diesem Fall seien dies Fehlinformationen beziehungsweise Desinformationen, die auf vorsätzliche Täuschung abzielen. „Wir könnten argumentieren, dass ihr einziger Zweck darin besteht, den Entscheidungsprozess negativ zu beeinflussen – so wie Fake News und ‚alternative Fakten‘.“ Das sei beim Umgang mit einer Pandemie problematisch.

Gerd Dapprich | 20.12.2021