„Nummern“ in Nazi-Akten ein menschliches Gesicht gegeben
Die FernUni-Mitarbeiterin Gabriele Lübke hat Leben und Leiden ihrer von den Nazis ermordeten Großmutter aufgearbeitet. Die Vorstellung ihres Buches ist jetzt als Stream zu finden.
„Meine Großmutter war immer ein Thema in unserer Familie. Bis 2015 kannte ich aber nur ihr Leben bis 1936, danach fehlten mir fünf Jahre.“ Was Gabriele Lübke vom Leben Rosa Schillings bis 1936 wusste, fand sie immer sehr spannend. In den „fehlenden Jahren“ befand sich Rosa Schillings in der Heil- und Pflegeanstalt Galkhausen, wegen angeblicher paranoider Schizophrenie. Am 2. Mai 1941 wurde sie im Rahmen der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Morde von Menschen mit Behinderungen in der Tötungsanstalt Hadamar umgebracht. In jahrelanger akribischer Arbeit wertete ihre Enkelin zahlreiche Dokumente aus. Daraus entstand ein Buch, das sie in einer Online-Lesung der Bibliothek der FernUniversität in Hagen mit anschließender Diskussion öffentlich vorstellte. Die Aufzeichnung der Veranstaltung ist jetzt als Stream frei verfügbar.
Obwohl Gabriele Lübke keine Historikerin ist, stößt ihr Buch „‚Ich bin ohne Sinnen gestorben.‘ Leben und Leid der Rosa Schillings“ (Marta-Press, 2021) auf großes Interesse in der Geschichtswissenschaft wie in der interessierten Öffentlichkeit. Unter anderem berichtete DER SPIEGEL über die Ergebnisse ihrer Recherchen. Die Autorin berichtet aus einem ungewohnten Blickwinkel über das Schicksal ihrer Großmutter: Anders als die meisten Akten von ermordeten Patientinnen und Patienten enthält die von Rosa Schillings kaum Unterlagen über Verwaltungsakte und Behandlungen, sondern ihre unverblümten Aussagen über „das Treiben der Scherginnen und Schergen“ von Adolf Hitler in den Heil- und Pflegeanstalten.
Bei ihren umfangreichen Recherchen fand Lübke viele Dokumente: die Sterbeurkunde ihrer Großmutter, das Familienbuch, ihren Reisepass und Briefe, Akten. Viele Informationen und Unterstützung erhielt sie von ihrem Vater, als sie begann, dem Leben von „Rosa“ – wie sie nennt – nachzuforschen. Und ihrem Leidensweg, der sie letztendlich nach Hadamar führte. Von 1941 bis 1945 wurden dort von den Nationalsozialisten im Rahmen ihrer sogenannten „Aktion T4“ und der anschließenden Euthanasie-Massenmorde circa 14.500 Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen ermordet – durch Gas, Injektionen, Medikamente und verhungern lassen.
Nicht nur Fachwissenschaftlerinnen und Fachwissenschaftler gefragt
„Gabriele Lübkes Ziel war es, Menschen, die in den Akten der Tötungsanstalten oft nur Nummern sind, mit dem Buch ein Gesicht zu geben“, so der Historiker Robert Parzer, der ihr Buch vorstellte und der an der Diskussion nach der Lesung teilnahm. „Es sind nicht nur Fachwissenschaftler gefragt, um die Geschehnisse in Erinnerung zu halten“, betonte er. Es gibt heute noch mehrere 100.000 Angehörige von Menschen, die aufgrund von Behinderungen von den Nazis und ihren Helferinnen und Helfern ermordet wurde: „Fünf bis zehn Prozent der deutschen Bevölkerung hat einen direkten Bezug.“
Der Dekan der Fakultät für Kultur- und Sozialwissenschaften der FernUniversität, der Historiker Prof. Dr. Jürgen G. Nagel, lobte die „historische Kärrnerarbeit“ der Autorin. Er sprach auch „wenig erfreuliche Ereignisse in unserer Gesellschaft in letzter Zeit“ an: Übergriffe und rechtsradikale Störungen. Es sei wichtig, „daran zu erinnern, was vor gar nicht langer Zeit in unserem Land passiert ist“. Zu sprechen kam er auch auf Überlegungen an der FernUniversität, einen Weiterbildungsstudiengang auf der Grundlage des Verbundforschungsprojekts Covio zu entwickeln. Für ihn ist auf jeden Fall wichtig, dass der Wissenstransfer aus der FernUniversität in die Gesellschaft auf verschiedenen Wegen erfolgt.
Gespräch beleuchtete Erinnerungskultur
Die Veranstaltung wollte auch die durch das Buch aufgeworfenen Fragen nach Formen und Möglichkeiten der Erinnerung diskutieren, denn von vielen der Opfer sind – anders als bei Rosa Schillings – keine eigenen Zeugnisse geblieben. Die Krankenakten wiederum bieten nur den durch die NS-Ideologie verzerrten Blick, der meist entpersonalisierend und entwürdigend war. In dem von Dr. Jeanine Tuschling-Langewand (UB) moderierten Gespräch diskutierten daher Gabriele Lübke, Robert Parzer und Sarah Saulheimer, FernUni-Referentin für Inklusion, über neue Perspektiven auf eine Erinnerungskultur, in der die persönlichen Erinnerungen und die Sichtbarmachung des Individuums einen zentralen Platz einnehmen.
Die Veranstaltung fand in Kooperation der Universitätsbibliothek mit dem AStA, der Gleichstellungsbeauftragten und dem Referat für Chancengerechtigkeit der FernUniversität statt.