Sich mit den Augen mitteilen

FernUni-Forschende ergründen gemeinsam mit einem Team des BG Universitätsklinikums Bergmannsheil, wie Eye-Tracking-Systeme Schwerkranken auf der Intensivstation helfen können.


Foto: BG Universitätsklinikum Bergmannsheil
Dr. Christopher Ull von der Chirurgischen Klinik des Bergmannsheils führte die klinischen Untersuchungen für die Studie durch.

Wer krank oder verletzt auf der chirurgischen Intensivstation liegt, kann sich oft nicht mündlich mitteilen. Ein alternatives Mittel zur Kommunikation kann die Bewegung der Augen sein. Sogenannte Eye-Tracking-Systeme helfen dabei, die Blickrichtung zu erfassen und damit wichtige Fragen zu klären – zum Beispiel, wie sich Betroffene fühlen, ob sie Schmerzen haben oder etwas Bestimmtes brauchen. Wie sich die Technologie am besten einsetzen lässt, das erforscht ein Projekt unter Leitung der Chirurgischen Klinik des BG Universitätsklinikums Bergmannsheil in Zusammenarbeit mit der Psychologischen Fakultät der FernUniversität in Hagen. Für ihre jüngst im Journal of Trauma and Acute Care Surgery publizierte Studie wurde die Arbeitsgruppe mit dem International Paper Award 2021 der „American Association for the Surgery of Trauma“ ausgezeichnet. Die zugrundeliegende Versuchsreihe bezog 75 Schwerkranke auf der Bochumer Intensivstation mit ein und zeigte klar: Auf Basis bestimmter Skalen und Scores können Betroffene mit den Augen mitteilen, wie sie ihre persönliche Lage einschätzen und empfinden. Damit die Methode letztlich auch im Klinikalltag verankert werden kann, forscht das Team weiter.

„Es geht darum, dass sich Menschen auf der Intensivstation mitteilen können, obwohl das mündlich nicht möglich ist – beispielsweise wegen der notwendigen Beatmung“, fasst Christina Weckwerth zusammen. Aufseiten der FernUniversität waren sie und Prof. Dr. Robert Gaschler (beide aus dem Lehrgebiet Allgemeine Psychologie: Lernen, Motivation, Emotion) beteiligt. Das Vorhaben begleiteten sie dabei nicht nur in der Auswertung, sondern auch technisch: „Wir haben zum Beispiel den Eye-Tracker eingerichtet und mit den Fragebögen bestückt“, erklärt die Psychologin. Hierfür passte das Team etablierte Bewertungsschemata, etwa aus der Logopädie, speziell für die Messgeräte an. Die Daten sind für die FernUni-Forschenden von hohem Wert. Unter anderem möchte Weckwerth sie in ihrer Dissertation berücksichtigen, weitere Forschungsartikel sind in Arbeit.

Foto: Hardy Welsch
Methodisches Knowhow: Vonseiten der FernUniversität begleiten Christina Weckwerth und Prof. Robert Gaschler das Eye-Tracking-Projekt.

Praktikables Verfahren, großer Nutzen

„Die Patientinnen und Patienten sind bei Bewusstsein und nicht kognitiv eingeschränkt“, unterstreicht die Psychologin die grundsätzliche Fähigkeit der Schwerkranken, auf Fragen zu antworten. Um zu reagieren, mussten sie bestimmte Antwort-Felder mit den Augen fixieren – eine Vorgehensweise, die gut funktionierte. Ein Hinweis darauf ist die große Einigkeit der Befragten in markanten Messpunkten: „Viele sagen zum Beispiel mit den Augen, dass sie sich gefangen fühlen“, so Prof. Gaschler. Auf die Frage, wie optimistisch die Betroffenen in die Zukunft blickten, fielen die Antworten hingegen individueller aus. „An der Verteilung merken wir, dass sie gezielt Antworten ausgewählt haben“, erläutert Weckwerth. Damit erscheinen Eye-Tracker als attraktive medizinische Ergänzung. Zudem halten die Forschenden eine flächendeckende Anwendung auch finanziell für realisierbar: „Im Vergleich zu sonstigen Gerätschaften und zum Personal auf Intensivstation kosten die Geräte nicht viel“, überschlägt Gaschler.

Bessere Prioritätensetzung

Bis das neue Verfahren jedoch einen Platz im Gesundheitssystem findet, bleibt noch einiges zu tun, so der Professor: „Wir arbeiten aktuell erst einmal daran, die Patentinnen und Patienten besser zu verstehen.“ Damit sei das Team indes einen großen Schritt vorangekommen. „Wir haben so viele Personen befragt, dass wir nun wahrscheinlich auch schon ohne Eye-Tracking eine bessere Ahnung davon hätten, was Betroffene brauchen. Wenn wir Personen in Zukunft befragen, wie wir ihre Situation angenehmer machen können, wissen wir jetzt außerdem, welche Fragen besonders wichtig sind und unter Zeitdruck zuerst gestellt werden sollten.“

Starker Praxisbezug

Die Forschenden bleiben dran und denken langfristig: Bislang fußen die Daten nur auf punktuellen Befragungen und bilden damit eher kurze Zeitfenster ab. „Wir müssen prüfen, ob eine kontinuierliche Nutzung der Eye-Tracking-Geräte tatsächlich dazu beiträgt, dass sich Patientinnen und Patienten besser entwickeln – also zum Beispiel ihr Risiko psychiatrischer Auffälligkeiten sinkt, wenn sie über mehrere Wochen hinweg im Intensivbett liegen“, stellt Gaschler in Aussicht. Ihn freut, wie direkt die gemeinsame Arbeit ausfällt: „Aus unserer Sicht ist interessant, dass viele der im Projektkontext erschienenen Artikel sehr praktisch sind.“ Während sonst Forschung in der Allgemeinen Psychologie oft grundlagenorientiert mit Labor-Experimenten stattfindet, gehe es hier um die unmittelbare klinische Anwendung. „Wir zeigen der Fachöffentlichkeit sauber begründet: Eye-Tracking lohnt sich – und so macht man es!“

Ausgezeichnete Studie

Ull, Christopher MD; Hamsen, Uwe MD; Weckwerth, Christina MSc; Schildhauer, Thomas Armin MD, PhD; Gaschler, Robert PhD; Jansen, Oliver MD; Waydhas, Christian MD, PhD The use of predefined scales and scores with eye-tracking devices for symptom identification in critically ill nonverbal patients, Journal of Trauma and Acute Care Surgery: April 2022 - Volume 92 - Issue 4 - p 640-647 doi: 10.1097/TA.0000000000003494

 

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