Wie werden in Kriegszeiten aus „ganz normalen Menschen“ Massenmörder?

Man muss kein Psychopath sein, um schreckliche Dinge zu tun, sagt Andreas Mokros, Professor für Persönlichkeits-, Rechtspsychologie und Diagnostik an der FernUniversität.


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Barbarische Kriegsverbrechen ziehen sich seit Jahrtausenden in aller Welt durch die Menschheitsgeschichte bis hin in die jüngere Vergangenheit wie im Zweiten Weltkrieg und heute in der Ukraine. Hier gibt es starke Belege dafür, dass russische Soldaten Zivilistinnen und Zivilisten gefoltert, vergewaltigt und ermordet haben. Erklärt wird dies unter anderem damit, dass sie uninformiert, unmotiviert, schlecht ausgerüstet in einen ungeplant langen Krieg gegen ein „Brudervolk“ geschickt worden seien, das sich von ihnen gar nicht befreien lassen will. Und dass sie deshalb frustriert seien. Was sind Gründe dafür, dass in Kriegszeiten aus „ganz normalen Menschen“ Massenmörder werden? Hierzu äußert sich Prof. Dr. Andreas Mokros, der an der FernUniversität in Hagen das Lehrgebiet Persönlichkeits-, Rechtspsychologie und Diagnostik leitet.

Herr Prof. Mokros, entlädt sich Frustration in Gewalt?

Prof. Andreas Mokros: Die „Frustrations-Aggressions-Hypothese“ ist eine relativ alte Theorie zur Entstehung von Aggression. Demnach entstehen durch nicht erreichte Ziele, durch verpasste Chancen oder Frustration nicht nur Unzufriedenheit und Ärger, sondern auch die Bereitschaft zu Aggression und Gewalt.

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Prof. Andreas Mokros

Ich nehme aber an, dass hier andere Prozesse ausschlaggebender sind: nämlich eine vorherige Radikalisierung im Denken. Also das klassische Freund-Feind-Schema mit Stärkung der Binnengruppe: Maßgeblich ist demnach nur das, was in der eigenen Gruppe passiert. Die Außengruppe wird als Bedrohung wahrgenommen. Und als unwert – in dem Fall als angebliche „Nazis“, die laut russischer Staatspropaganda die Ukraine beherrschen sollen. Das macht es natürlich leichter, Ukrainerinnen und Ukrainer als „die Bösen“ wahrzunehmen, denen man nicht mit Respekt und Menschlichkeit entgegentreten müsse.

Dabei werden die Ukrainerinnen und Ukrainer nicht als homogen wahrgenommen. Da gibt es eben aus Sicht der russischen Propaganda die „Guten“, die pro-russischen Separatisten, also gewissermaßen Angehörige der eigenen Binnengruppe. Und auf der anderen Seite die sogenannten „Nazis“ und deren Unterstützerinnen und Unterstützer. Sie werden als Kollaborateurinnen und Kollaborateure dieser vermeintlichen Nazis gesehen.

Die Kampf- und Kriegserfahrung hat zudem eine zunehmende Verrohung mit sukzessiver Erosion vorher bestehender gesellschaftlicher Normen zur Folge: Plötzlich ist vorher Unmögliches möglich. Das würde man als „emergente Normen“ bezeichnen: Ein System kann als Folge des Zusammenspiels seiner Eigenschaften selbst neue Eigenschaften und Strukturen herausbilden.

Warum haben die deutschen Truppen im Zweiten Weltkrieg in Staaten wie Russland noch viel schlimmer als etwa in Frankreich gewütet? Russland war am Versailler Vertrag nicht beteiligt.

Nach meiner Einschätzung als Nichthistoriker waren die Unterschiede in der Kriegsführung vor allem quantitativer Art. Auch in Frankreich hat es ja schreckliche Kriegsverbrechen und Massaker gegeben, denken wir nur an die Vernichtung von Oradour 1944. Allerdings gab es durchaus auch eindeutig qualitative Unterschiede.

Ich gehe davon aus, dass die Wahrnehmung der slawischen Völker als angeblich „nicht gleichwertige“ Menschen aus der Haltung der damals Beteiligten eine enthemmende Funktion dafür hatte, so toben zu können, wie man das für sogenannte „Kulturvölker“ im westeuropäischen Raum nicht als angemessen erachtet hat.

Traf das Freund-Feind-Schema auch für das Verhalten der Deutschen in Russland im Zweiten-Weltkrieg zu? „Die Juden“ wurden ja auch in Deutschland über Jahrhunderte für alles Mögliche verantwortlich gemacht.

Ich bin sicher kein Experte für den Holocaust, ich würde keineswegs eine deutsche Veranlagung zum Massenmord annehmen, aber eine sich über Jahrzehnte hinweg manifestierende Radikalisierung im Denken. Befeuert wurde sie durch den angeblichen „Schandfrieden“ von Versailles nach dem Ersten Weltkrieg und den Glauben, dadurch übervorteilt und zum Gespött der Weltgemeinschaft geworden zu sein. Dafür wurden Schuldige gesucht. Daraus ergab sich eine sehr breite Akzeptanz radikaler Ideen als geeigneter „Mutterboden“ für Gewalt auch gegen Zivilisten und insbesondere gegen jüdische Mitmenschen.

Würden Sie sagen, dass der „Grad der Grausamkeit“ auch abhängig ist von kulturellen Hintergründen?

Das ist wohl eher abhängig vom Grad der Entmenschlichung der Opferseite. Und dieser Grad der Entmenschlichung war eben gegenüber sogenannten „slawischen Völkern“ als vermeintlichen „Untermenschen“ und insbesondere gegenüber jüdischen Mitmenschen besonders stark. Und das hat in den Augen der Täter die Anwendung schlimmster Gewalt gerechtfertigt.

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Auch Kinder werden in Kriegen Opfer von Gewalt - auch von auf sie gezielter.

In einem dokumentarischen Film über eine deutsche Polizeieinheit in Russland wurde deutlich, dass die Mitglieder nicht gezwungen waren, grausam zu sein und an Exekutionen teilzunehmen. Warum haben sie sich nicht widersetzt?

Da kann man die Theorie des geplanten Handelns aus der Sozialpsychologie heranziehen, in der soziale Normen, aber auch internalisierte Normen eine Rolle spielen im Hinblick darauf, ob man ein bestimmtes Verhalten umsetzt oder nicht.

Wenn man sich primär nicht als Soldat, sondern als Christ, als Arbeiter oder was auch immer begreift, wird man vielleicht an einer solchen Stelle auch eine Ausflucht haben und sagen: Ich muss mich hier nicht dieser Erwartung unterwerfen, weil meine Werte andere, wichtigere sind.

Aber man darf nicht vergessen, dass zu dem Zeitpunkt, zu dem das passiert ist, die Männer schon seit geraumer Zeit Teil der Gruppe waren und ja üblicherweise auch zu ihr gehören wollten, also nicht ausscheren und geächtet werden wollten. Und damit geht ja oftmals einher, auch die implizierten Erwartungen einer solchen Gruppe erfüllen zu wollen.

Ich weiß nicht, ob das geplant oder aus dem Moment heraus so umgesetzt war, aber die vermeintliche Freiwilligkeit ist natürlich besonders perfide: Wenn es erst am nächsten Tag zum Einsatz geht, hat man ja die Gelegenheit versäumt, sich dagegen zu entscheiden. Dann ist es unendlich viel schwerer, nein zu sagen, als es ohnehin schon war.

Und – wie es in der Dokumentation dargestellt worden ist – sind ja die Männer, die sich geweigert haben, von ihren Kameraden geächtet worden. Sie sind für niedere Tätigkeiten wie das Reinigen der Latrinen herangezogen worden. Als ob es eine niedrigere Tätigkeit als das Ermorden von Menschen geben würde! Sie mussten sich des Spotts ihrer Kameraden erwehren. Das war gewiss etwas, was dann diese Gruppennorm gefestigt hat.

Sehr erfolgreich war offensichtlich eine Kombination von Zwang und Freiwilligkeit: Wenn ihr es nicht macht, müssen es eure Kameraden machen. So wurde Gruppendruck aufgebaut, es gab soziale Strafen. Die Botschaft lautete: Du bist feige!

Diejenigen, die solche Befehle geben, sind ja im Grund oft ebenfalls „normale Leute“ – oder sie sind es gewesen. Was „befähigt“ sie hierzu?

Es gibt unter Umständen schon gewisse Selektionseffekte, dass Menschen mit einer aus unserer Sicht gefährlichen Prädisposition befördert werden oder Machtpositionen erlangen. Eine ganz aktuell erschienene Arbeit des kanadischen Psychologen Robert D. Hare zu Männern, die im Rahmen des Pinochet-Regimes in Chile Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hatten, mit einer großen Stichprobe von mehr als 100 Personen vom einfachen Feldwebel bis hinauf zum Generalsrang, zeigt: je höher der militärische Dienstgrad, desto höher die Ausprägung psychopathischer Wesensmerkmale – gemessen mit Hares Psychopathie-Checkliste.

Wir beschäftigen uns hier an der FernUniversität mit diagnostischen Verfahren zu dunklen Persönlichkeitseigenschaften, vor allem auch im Hinblick auf Psychopathie. Diese Variante der Antisozialen Persönlichkeitsstörung ist dadurch geprägt, dass die betreffenden Personen hochgradig manipulativ sind, vor allem aber gefühlskalt und infolgedessen rücksichtslos gegen andere. Ein Standardverfahren im Rahmen der forensisch-psychologischen Diagnostik ist die Revidierte Psychopathie-Checkliste (PCL-R) von Robert Hare. Wir arbeiten seit vielen Jahren zusammen.

Wie wird man Psychopathin oder Psychopath?

Das wird man nicht, das ist man, zumindest gibt es starke Anzeichen für eine erhebliche genetische Komponente. Allerdings spielen auch soziale Erfahrungen wie Misshandlung oder emotionale Vernachlässigung – also aversive Kindheitserfahrungen – eine Rolle. Das zeigt auch die Arbeit einer früheren Doktorandin. Es ist aber nicht so, dass man in späteren Jahren, etwa mit 25, plötzlich dazu wird.

Man muss gar keine Psychopathin oder kein Psychopath sein, um schreckliche Dinge zu tun.

Prof. Andreas Mokros

Das Erstaunliche ist: Man muss gar keine Psychopathin oder kein Psychopath sein, um schreckliche Dinge zu tun. Das zeigen wiederum Experimente der Sozialpsychologie aus den 1960-er und 1970-er Jahren, in denen beispielsweise Menschen andere vermeintlich mit Stromschlägen traktiert haben – und auch gewillt waren, das zu tun, bis das Ganze aus den Fugen geriet. Einfach nur, weil man es ihnen gesagt hat. Oder indem Probanden in „Gefangene“ und „Aufpasser“ mit Uniformen und Sonnenbrillen aufgeteilt wurden und sich innerhalb kürzester Zeit ein Hierarchiegefälle entwickelte, in dem die einen die anderen zu schurigeln, zu maßregeln und zu disziplinieren begannen. Es braucht gar nicht so viel, um aus „normalen Menschen“ Leute zu machen, die gewillt sind, gegenüber anderen roh und gewalttätig zu sein. Neuere Untersuchungen deuten allerdings darauf hin, dass hierfür nicht nur eine allgemeine Autoritätshörigkeit ausschlaggebend ist, sondern dass die Identifikation mit der Autoritätsfigur eine Rolle spielt. Und in dem berühmt-berüchtigten Gefängnisexperiment aus den 1970-er Jahren hat der Versuchsleiter die Aufpasser wohl auch aktiv angestachelt.

Spielt dabei unter Umständen auch das Tragen einer Uniform oder etwas Ähnliches eine Rolle?

Klar, weil das natürlich Individualität wegnimmt, Dinge, auf die man sich sonst vielleicht berufen würde – Kleidung, Haarschnitt. Das alles entfällt zugunsten einer Gleichmacherei: Du bist nur noch austauschbares Element einer namenlosen Menge; auch Dein Name spielt eigentlich keine Rolle mehr, Du bist nur noch Teil dieser Meute. Das sind sicherlich Mechanismen, wie sie auch im harmloseren Kontext, zum Beispiel auch beim Sport, passieren.


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Gerd Dapprich | 13.05.2022