Poesie von der Platine

In der Universitätsbibliothek läuft derzeit eine hybride Ausstellung rund ums Thema „Elektronische Literatur“ – unter anderem mit Programmen, die prozedural Gedichte verfassen.


Gedicht vom Nadeldrucker gedruckt Foto: FernUniversität
Automatisch erstelltes Gedicht

„Was ist der Sinn des Lebens, frag ich mich. In dunklen Stunden, wenn die Wolken ziehen. Ist es der Tod, der uns am Ende holt und alles auslöscht, was wir hier getragen?“ Mit diesen Zeilen begibt sich nicht etwa eine melancholische Dichterin auf Sinnsuche, sondern ein Algorithmus. Vorgestellt wurde er im Rahmen der hybriden Ausstellung „Machine in Residence – Spielarten elektronischer Literatur“ in der Universitätsbibliothek der FernUniversität in Hagen. „Es gab immer eine gewisse Angst davor, dass digitale Literatur den traditionellen literarischen Kanon infrage stellt. Davor sollten wir uns nicht fürchten, sondern uns lieber mit den Fragen auseinandersetzen, die das Spannungsfeld zwischen Mensch und Technik aufwirft“, erklärt Dr. Jeanine Tuschling-Langewand. „Digitale Literatur bietet der Gesellschaft eine tolle Möglichkeit, über sich selber nachzudenken – auch auf spielerische und vergnügliche Weise.“ Die Fachreferentin für Geschichts- und Literaturwissenschaft leitet die Ausstellung, deren Titel auf die Tradition US-amerikanischer Universitäten anspielt, Gegenwartsautor:innen als „Poets in Residence“ mit Lehraufgaben zu betrauen.

Zwar bildete die Jahrestagung des FernUni-Forschungsschwerpunkts „digitale_kultur“ den Rahmen für die Eröffnung; entwickelt wurde die Ausstellung jedoch im Zuge von Lehrangeboten: Dr. Jeanine Tuschling-Langewand gestaltete gemeinsam mit Prof. Dr. Peter Risthaus (Lehrgebiet Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Mediengeschichte) ein Seminar, das in „Digitale Literatur“ einführte. Als Expertin für deren Geschichte und Theorie brachte sie den Studierenden den Hintergrund des Themas näher. Die Ausstellung bot den Teilnehmenden gleich das passende Experimentierfeld für die erlernten Inhalte. Flankierend dazu konnten sich Interessierte auch das informationstechnische Werkzeug aneignen – so führte Helmut Hofbauer, wissenschaftlicher Online-Tutor für Digital Humanities, zum Beispiel in die Programmiersprache Python ein. Das konkrete Ziel der Ausstellung vor Augen motivierte: „Wir hatten wirklich tolle Studierende dabei, die sich sehr reingekniet haben – und trotz anderer Verpflichtungen immer mit Lust und Spaß bei der Sache geblieben sind“, lobt Tuschling-Langewand das hohe Engagement.

Vier Personen vor Tisch mit Nadeldrucker Foto: FernUniversität
Ausstellungseröffnung: Zwischen Jeanine Tuschling-Langewand (re.) und Andreas Jörg steht der Nadeldrucker bereit, um Gedichte zu drucken. Daneben Helmut Hofbauer (li.) und Peter Risthaus.

E-Lyrik aus dem Nadeldrucker

Einer der Studierenden ist Andreas Jörg. Der Fotograf und 3D-Artist aus dem Allgäu fuchste sich in die Anwendung von Deep-Learning-Algorithmen für die Texterzeugung ein. Heraus kam ein besonders vielschichtiges Exponat. „Mein Projekt war eine Poesie-Maschine“, erklärt Jörg. Unter anderem erstellt sie Gedichte, wie das eingangs zitierte. Das dabei erreichte Niveau ist eng an den technischen Entwicklungsstand geknüpft. „Bis vor wenigen Jahren hatte ich nicht die Tools und Rechenleistung zur Verfügung, um auf diesem Level Gedichte zu produzieren“, resümiert Jörg. Das Programm läuft nun in der Universitätsbibliothek auf einem kleinen Einplatinencomputer, dem sogenannten Raspberry Pi. Ein Nadeldrucker bringt die Lyrik in langen Bahnen zu Papier. Auf die technischen Hintergründe dieses und anderer Stücke geht der digitale Ausstellungsteil näher ein. Hier sind von den Studierenden verfasste Katalogtexte gesammelt – und virtuelle Exponate verlinkt, etwa ein Literaturbot, den Studierende speziell für Twitter entwickelt haben.

Ausgerechnet(e) Poesie!

„Digitale Literatur ist zu jeder Zeit, in der sie diskutiert wurde, immer als das Allerneuste verstanden worden“, erinnert Tuschling-Langewand. „Mittlerweile kann sie aber auch schon auf eine Tradition zurückblicken, die bis in die 1950er Jahre reicht.“ Die Ausstellung vollzieht diesen Weg mit ihren Exponaten nach. Angefangen bei früher „aleatorischer Dichtung“ – Texten die aus modularen Versatzstücken kombiniert werden – über erste elektronische Gehversuche bis hin zu wichtigen theoretischen Abhandlungen. Doch welche Bedeutung hat Autor:innenschaft überhaupt noch, da ausgerechnet die Poesie als eine der vermeintlich letzten Bastionen menschlichen „Genies“ an die Maschinen verlorengeht? Andreas Jörg zumindest stellt seine Rolle als Künstler infrage und differenziert: „Da ich genuin kein Poet bin, macht der Computer hier etwas viel besser, als ich es je könnte. Ich würde deshalb zwar behaupten, die Maschine ist hier der Poet – allerdings habe ich sie programmiert und sie tut das, was ich ihr gesagt habe.“

Kontroverses Thema

Tuschling-Langewand weiß, dass manche die künstlerische Eigenleistung sogar noch höher schätzen, etwa mit Blick auf auktoriale Rahmung und Montage. Zwar verfasst letztlich ein Rechner die Gedichte. „Es gibt aber zum einen den Auswahlprozess, erstmal zu entscheiden, mit welchem Korpus man das Programm eigentlich arbeiten lässt. Zum anderen findet oft auch mit Blick auf die Ergebnisse, die der Rechner ausspuckt, eine Auswahl statt.“ Auch ein besonders eleganter Code gilt manchen als ästhetisches Ziel. Fest steht aus Sicht der Wissenschaftlerin in jedem Fall: Elektronische (Mit-)Autor:innenschaft erhitzt die Gemüter und polarisiert. „Beim Umgang mit digitaler Literatur zeigt sich oft, dass die Leute entweder total auf den Hype setzen oder das Ganze völlig abwerten.“

Alte Gewissheiten hinterfragen

Gerade das Verwischen alter Grenzen wertet den Diskurs jedoch auf. „Das Thema eignet sich so gut für eine Ausstellung und Diskussionen im Seminar, weil hier die ganzen Selbstverständlichkeiten der Literaturwissenschaft hinterfragt werden“, freut sich Tuschling-Langewand über die intellektuelle Sprengkraft. „Was erwarten wir überhaupt von Literatur? Wie definieren wir, was Literatur ist und was nicht?“ Auch Fragen danach, was mit den maschinell erstellten – und teils sehr ausufernden – Texten eigentlich geschehen soll, findet die Dozentin relevant: „Lesen wir solche Texte ganz oder rezipieren wir sie nur in Teilen? Und mit welchem Ziel lesen wir sie? Müssen sie uns Spaß machen? Auf welche Art von ästhetischem Vergnügen konzentrieren wir uns?“ Dieses kann schließlich über den reinen Inhalt hinausgehen. Gleichermaßen Freude bereitet vielleicht, den zugrundeliegenden Code zu entschlüsseln oder die Textauswahl zu besprechen, mit der die Maschine zuvor gefüttert wurde.

Alter PC in Vitrine Foto: FernUniversität
Digitale Archäologie: Portabler Computer, auf dem eventuell noch Arbeiten des Medientheoretikers Friedrich Kittler verborgen sein könnten.

Digitale Ausgrabung

Neben Denkanstößen wie diesen ging aus der Ausstellungseröffnung auch eine Folgeveranstaltung hervor: Prof. Risthaus präsentierte einen alten Rechner, den er seit Jahrzehnten aufbewahrt. Wahrscheinlich stammt er aus dem Umfeld des 2011 verstorbenen Medientheoretikers Friedrich Kittler, könnte gar von ihm selbst benutzt worden sein. Ob auf der Festplatte noch wissenschaftliche Schätze schlummern, ist bislang unbekannt, vor allem wegen der technischen Hürden, die eine Auswertung der Daten mit sich brächte. Risthaus kündigte nun an, dem Gerät auf den Grund gehen zu wollen – allerdings nicht alleine, sondern mit professioneller Hilfe, gerahmt von einem studentischen Workshop, der Ende des Jahres stattfinden soll.

Kreativität als neue Stärke?

„Wir leben in einer aufgeregten Zeit, was das Thema digitale Literatur anbelangt“, fasst Andreas Jörg zusammen. Er ist gespannt auf künftige Innovationen – und darauf, wie die Gesellschaft mit ihnen umgehen wird. „Die Art, wie künstliche neuronale Netze arbeiten, könnte auch als kreativer Prozess interpretiert werden. Jedenfalls fordert uns die künstliche Intelligenz immer wieder erneut dazu heraus, Kreativität besser zu definieren, wenn wir sie als etwas auffassen möchten, das dem Menschen vorbehalten ist.“

 

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Benedikt Reuse | 15.07.2022