„Weitaus mehr als ein Satz in einem Ordner“

Am „Tag der Forschung“ lud die Fakultät für Kultur- und Sozialwissenschaften zu fünf Antrittsvorlesungen auf einmal ein – und erinnerte an den besonderen Status der Venia Legendi.


Gruppenfoto Foto: FernUniversität
Habilitiert und nun Privatdozenten und Privatdozentin (v.li.): Gunnar Schumann, Steffen Herrmann, Thomas Matys, Markus Tausendpfund und Franka Schäfer.

„Heute machen sie ganz offiziell zum ersten Mal von ihrer Lehrbefugnis Gebrauch“, gratulierte Dekan Prof. Dr. Peter Risthaus gleich fünf Forschenden zur Venia Legendi: PD. Dr. Franka Schäfer, PD Dr. Markus Tausendpfund, PD Dr. Steffen Herrmann, PD. Dr. Thomas Matys und PD Dr. Gunnar Schumann habilitierten sich in den letzten Monaten an der Fakultät für Kultur und Sozialwissenschaften der FernUniversität. Beim „Tag der Forschung“ stellten sie sich und ihr Fachgebiet mit einzelnen Antrittsvorlesungen vor. Verbunden mit seinen Glückwünschen verwies Prof. Ristaus zugleich auf die besondere gesellschaftliche Pflicht, die mit der wissenschaftlichen Lehrbefugnis einhergehe: „Der von Ihnen erreichte Stand – die Selbstständigkeit in Forschung und Lehre – muss nicht nur erreicht, sondern gehalten werden.“

Die zwei Antritte von Ernst Kantorowicz

Beispielhaft bezog sich der Dekan auf den Historiker und Mediävisten Ernst Kantorowicz, Schüler von Stefan George und Autor des Standartwerks Die zwei Körper des Königs (1959): Die Nazis drängten 1933 mit dem „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ ideologisch unerwünschte Menschen aus dem Staatsdienst. Kantorowicz entstammte zwar einer jüdischen Familie, hätte als Veteran aber vorerst weiter an der Universität in Frankfurt lehren dürfen. Aus Protest ließ sich der Honorarprofessor jedoch für ein Semester beurlauben. Erst zum Wintersemester 1933/34 hielt er wieder eine Vorlesung zum Thema „Das Geheime Deutschland“, in der er sich mit kritischem Unterton und im Sinne einer erneuten Antrittsvorlesung „seinem künftigen Hörerkreis bekannt machte“. Bald darauf folgte Kantorowicz einer Einladung nach Oxford, nachdem seine Lehrveranstaltungen massiv von der NS-Studierendenschaft gestört und boykottiert wurden. „Ich habe Ihnen diese kurze Geschichte erzählt, um daran zu erinnern, dass die Venia Legendi eben weitaus mehr ist, als ein Satz in einem Ordner“, so Risthaus.

Mann an Pult Foto: FernUniversität
Prof. Peter Risthaus gratulierte zu den erlangten Lehrbefugnissen und unterstrich zugleich die damit verbundene Verantwortung.

Ziviler Ungehorsam

Passend daran schloss PD Dr. Steffen Herrmann an – das philosophische Thema seines Vortrags: „Ziviler Ungehorsam. Ein performativer Ansatz“. Weil Bewegungen wie Fridays for Future, Last Generation oder Black Lives Matter bei ihren politischen Handlungen bewusst in Kauf nehmen, Gesetze zu brechen, stehen sie teils im Verdacht, sich Formen von Zwang und Erpressung zu bedienen. Hermann reagierte darauf und ordnete verschiedene Arten des Protests philosophisch ein. Er betonte: „Recht und Gerechtigkeit sind nicht zwangsläufig deckungsgleich.“ Unter anderem verwies er auch auf die wirkmächtige Geschichte zivilen Ungehorsams, etwa mit Blick auf Martin Luther King, Rosa Parks oder Mahatma Ghandi.

Politisches Wissen in Deutschland

Eine empirische Perspektive aufs politische Geschehen nahm PD Dr. Markus Tausendpfund ein. Sein Vortrag drehte sich um „Politisches Wissen in Deutschland: Niveau – Determinanten – Konsequenzen“. Damit Bürgerinnen und Bürger am politischen Leben in einer Demokratie partizipieren können, ist politisches Wissen notwendig. „Demokratie gilt allgemein als eher anspruchsvolle Regierungsform“, so der Politikwissenschaftler. In diesem Sinne müsse nicht nur die Politik, sondern auch die Bürgerschaft „viel leisten“. Tausendpfund nutzte die Daten der Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (ALLBUS), um dem Wissensstand der wahlberechtigten Personen in Deutschland nachzuspüren.

Öffentliche Soziologie?

„Antrittsvorlesungen beginnt man in der Soziologie gerne mit einer Reflexion ihrer selbst“, leitete PD Dr. Franka Schäfer ihren Vortrag ein zum Thema: „Postnormale Wissenschaft in postnormalen Zeiten? Zum ob, wie und wo gegenwärtiger Soziologie“. In Anspielung auf den Song „It's The End Of The World As We Know It (And I Feel Fine)“ von REM, blickte die Forscherin auf die bemerkenswerte Gleichzeitigkeit von Krise und gleichgültiger Hinnahme. „Nach zwei Jahren Pandemie und drei Jahren Fridays for Future ist das Ende der Welt, wie wir sie kennen, so präsent wie nie – aber alle sind irgendwie ‚fine‘ damit, was mein Unbehagen eher steigert als relativiert.“ Angesichts dieser Ausgangslage fragte Schäfer nach der zeitgemäßen Rolle ihrer Disziplin.

Philosophie der Philosophie

Selbstreflexiv gestaltete auch PD Dr. Gunnar Schumann seine Antrittsvorlesung „Zur Philosophie der Philosophie“. Dabei ging es ihm um die Sonderstellung der Philosophie in Abgrenzung zu anderen Wissenschaften. „Ich möchte zeigen, dass Philosophie keine Wissenschaft ist“, stellte er seinen Ausführungen voran. „Philosophie ist zwar durchaus eine akademische Disziplin, in ihr wird durchaus wissenschaftlich gearbeitet.“ Es gäbe sogar die Idee, dass alle Wissenschaften aus der Philosophie hervorgegangen seien, so Schumann. Aber: „Sie ist keine empirisch forschende Tätigkeit. In ihr wird nicht der Versuch unternommen, die Tatsachen der Welt zu entdecken, zu beschreiben und zu erklären – und sie macht auch keine Vorhersagen.“ Vielmehr sei sie eine Disziplin begrifflicher Untersuchungen, die ihren Erkenntnisgewinn „aus dem reinen Verstand“ ziehe.

Alltag als Soziologe

Dem eigenen Fach den Spiegel vor hielt schließlich auch PD Dr. Thomas Matys. In seinem Vortrag „Mein Alltag als Soziologe. Perspektiven und Erkenntnisse“ steckte er die Grenze zwischen alltagsweltlichem und wissenschaftlichem Wissen ab. Unter anderem fragte er: „Was kann eigentlich Soziologie leisten, zahlreiche – für viele alltäglich relevante – Phänomene zu erklären?“ Er betonte dabei ihren Blick auf ein Geflecht aus Zusammenhängen und Variablen. Monokausale Erklärungen würden bewusst aufgebrochen. Für ihn sei die Soziologie daher eine Deutungswissenschaft, argumentierte Matys. „Sie schöpft ihr Potenzial aus dem systematisch analysierenden und interpretierenden Vorgehen zwecks der Herausarbeitung plausibler Gründe für dieses oder jenes Handeln.“

Feierlicher Rahmen

Nach langer Pause durch die Pandemie war der „Tag der Forschung” auch ein willkommener Anlass zum persönlichen Wiedersehen innerhalb der Fakultät. So folgten die rund 65 Gäste nicht nur den Vorträgen, sondern nutzten auch die Gelegenheit, sich während des feierlichen Rahmenprogramms lebhaft auszutauschen und miteinander zu diskutieren. Angesichts des Erfolgs der Veranstaltung stellte Dekan Prof. Risthaus auch bereits eine Fortsetzung in Aussicht: „Wir würden den ‚Tag der Forschung’ gerne auf Dauer anbieten.“

 

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Benedikt Reuse | 21.10.2022