(Pseudo-)Wissenschaftlich untermauerter Aberglaube
Trotz der Aufklärung nahm der Spiritismus im 19. Jahrhundert zu. Neue Massenmedien machten seine „Stars“ weltweit bekannt. Damit befasst sich PD Eva Ochs von der FernUniversität.
Das 18. Jahrhundert ist durch grundlegende, miteinander in Beziehung stehende umwälzende Entwicklungen gekennzeichnet, die bis heute nachwirken. Von etwa 1650 bis 1800 entwickelte sich im „Zeitalter der Aufklärung“ eine neue Denkrichtung, die die Vernunft des Menschen und ihren richtigen Gebrauch zum Maßstab allen Handelns erklärte: Nur was mit dem Verstand begründet werden kann, könne Richtschnur des eigenen Verhaltens sein. Mit einem geringen zeitlichen Versatz revolutionierte das „Zeitalter der Industrialisierung“ die Wirtschaft. Bindeglieder beider Entwicklungen waren Wissenschaft und Technologien, mit deren Rollen und Wirkungen sich Dr. Eva Ochs, Privatdozentin und Wissenschaftliche Mitarbeiterin des Instituts für Geschichte und Biographie der FernUniversität in Hagen, befasst.
Eine erstaunliche Wirkung war, dass etwa parallel zu Aufklärung und Industrialisierung Spiritismus und Okkultismus erstarkten. Der Glaube an das Übersinnliche und Übernatürliche hatte sich seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert in der Auseinandersetzung mit Aufklärung, Rationalismus und den naturwissenschaftlichen und technischen Errungenschaften des Industriezeitalters verändert und vom traditionellen Volksaberglauben der Spökenkiekerei in Dorfstuben oder dem Glauben an die Erscheinungen Verstorbener, die an unheimlichen Orten auf Unrecht aufmerksam machen wollten, entfernt. „Die Wissenschaft verdrängte nicht sofort Unwissenheit, Aberglauben und Spökenkiekerei, zunächst arrangierten sie sich in gewisser Weise“, erläutert die Historikerin Eva Ochs. „Die Wissenschaft wurde sogar instrumentalisiert, um ‚Beweise‘ für die Wahrhaftigkeit von nicht Erklärbarem zu erhalten.“
Verschiedene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sehen dies als Flucht in den Irrationalismus, andere als einen Prozess der Rationalisierung des Transzendenten, also des jenseits von Erfahrung und Bewusstsein Liegenden: „Jetzt suchte man auch für traditionelle Spukgeschichten (pseudo-)wissenschaftliche Erklärungen“, erläutert die FernUni-Historikerin.
Kontaktaufnahme mit Verstorbenen
Die Anhängerinnen und Anhänger des Spiritismus glauben an die Möglichkeit der Kontaktaufnahme mit Verstorbenen und an deren Hineinwirken in die Welt der Lebenden. Der Spiritismus zählte zu der breitesten Strömung innerhalb des Okkultismus, der im 19. Jahrhundert als Sammelbegriff für „alle Lehren und Praktiken, die sich mit „übersinnlichen“, „übernatürlichen“ Kräften beschäftigten, verwandt wurde. Hellsehen, Gedankenlesen, Geistheilungen zählten genauso dazu wie der sogenannte Somnambulismus – der tranceartige Zustand besonders sensitiver Personen, sogenannter Medien, die in Séancen „übernatürliche“ Kräfte entwickeln beziehungsweise angeblich den Kontakt mit Verstorbenen herstellen konnten.
Orientierung an naturwissenschaftlichem Leitbild
Viele Spiritistinnen und Spiritisten orientierten sich im 19. Jahrhundert zunehmend an einem naturwissenschaftlichen Leitbild, man verstand den Spiritismus nun selbst als Wissenschaft, die sich mit Kräften beschäftigte, die noch nicht erforscht waren, aber mit Hilfe der neuen naturwissenschaftlich-technischer Verfahren unbedingt erforscht werden müssten und könnten. Hier hoffte man insbesondere auf die Physik, aber auch auf die sich gerade erst als Wissenschaft etablierende Psychologie.
Damit verstanden Spiritistinnen und Spiritisten sich größtenteils sogar als „modern“. Immer wieder wünschten sie sich, dass die etablierte Wissenschaft sich mit diesen Phänomenen beschäftigte. Sie hatten jedoch das Empfinden, gegen eine Mauer des „Todtschweigens“ anzurennen und von einer falsch verstandenen Aufklärung „spöttisch verächtlich“ in das Abseits des Aberglaubens gerückt zu werden.
„Verblüffenderweise sahen sich die Anhängerinnen und Anhänger mit ihrem Glauben an übernatürliche Kräfte keineswegs im Gegensatz zu den wissenschaftlichen Erkenntnissen ihrer Zeit“, erläutert Eva Ochs, „sie versuchten vielmehr, gerade mit naturwissenschaftlichen Methoden die Existenz der jenseitigen Kräfte zu beweisen.“ Dies geschah auch in der Form von Laien-Experimenten unter Einsatz damals moderner Technik wie der Fotografie.“
Technik-affine Geister
„Interessanterweise sollten auch die ‚jenseitigen Existenzen‘ Zugang hierzu haben“, schmunzelt Ochs. Sie stellt ein „merkwürdiges Mischungsverhältnis“ beim deutschen Spiritismus in dieser Phase in den 1880er Jahren fest. In Versuchsreihen des Spiritisten Alexander Aksakov etwa sollte sich der private Salon der Gastgeberin bei einer Séance nicht zuletzt durch die Anwendung von Wissenschaft und Technik in ein Versuchslabor eines mediumistischen Experiments verwandeln. Der Autor und Experimentator gab in seinen Beiträgen immer wieder exakte Beschreibungen der Versuchsanordnungen mit präzisen Zeit und Raumangaben.
Auf der einen Seite stehen hier die Bedingungen einer Séance, deren Erfolg von einer Vielfalt nicht rational zu bestimmenden Faktoren abhängt und nicht berechenbar ist. Das Arrangement in privaten Räumlichkeiten, die Behelfskonstruktion bei der Einrichtung des Dunkelkabinetts, die unerklärliche Herkunft „geistiger Führer“, ihre unberechenbaren Klopfzeichen und „Communicationen“, schließlich das Erscheinen der wundersamen Gestalt weisen auch Elemente von Beschwörungsritualen volksmagischer Praktiken auf. Sie stehen in starkem Gegensatz zu den auf der anderen Seite bestehenden Erfordernissen eines sorgfältig dokumentierten naturwissenschaftlichen Experiments unter Laborbedingungen, das im Übrigen bei gleichen Bedingungen wiederholbar sein müsste.
In einer Online-Vorlesung
in der „BürgerUniversität Coesfeld“ hat sich PD Eva Ochs ausführlich mit der Thematik befasst: „Geister oder psychische Kraft? – Der deutsche Spiritismus im 19. Jahrhundert“.
Die Veränderungen des Spiritismus zeigten sich nun auch in der Konzentration auf die „psychischen Kräfte“ von als Medien bezeichneten Personen, die während der Séancen in irgendeiner Form mit den übersinnlichen Phänomenen in Verbindung standen. Entsprechend veränderten sich auch die Begriffe: Statt „Séance“ wurde nun häufig „mediumistische Sitzung“ verwandt. Auch nannte man die Erscheinungen nicht mehr unumwunden „Geister“, sondern sprach von „jenseitigen Intelligenzen“ oder „transzendenten Kräften“.
Die Kräfte, die in diesen mediumistischen Sitzungen am Werk sein sollten, sollten mittels naturwissenschaftlich-empirischer Verfahren unter Einsatz der neuesten technischen Mittel wie Photographie und Phonografie erforscht und dokumentiert werden. Die Deutungen dieser Kräfte erfolgten nun auch in Verknüpfungen mit „naturwissenschaftlichen Entdeckungen“ wie der Telepathie oder der drahtlosen Telegrafie.
Spiritismus wurde vermarktet
Neu waren zudem auch die Wege der medialen Massenverbreitung spiritistischer Phänomene, die für eine kontinuierliche öffentliche Präsenz sorgten, die wiederum von einer wachsenden Unterhaltungsindustrie (Varieté, Jahrmärkte, Revuen) vermarktet werden konnte. Dies stand im Zusammenhang mit der ebenfalls um 1900 herum beginnenden „Epoche der Unterhaltungsindustrie“: Das Unterhaltungsbedürfnis der Bevölkerungsteile, die nun mehr Freizeit hatten, stieg. Weltweit bekannte „Stars“ des Unterhaltungsspiritismus traten in Revuen und Varietees auf, worüber Familienzeitschriften und Illustrierte sogar mit Fotos berichteten, ebenso die immer größere Zahl von Tageszeitungen. „Die Welt rückte informationsmäßig enger zusammen“, so Eva Ochs, „gerade auch durch das Telegrafenkabel“.
Dies führte in der Weimarer Republik zu einer „Krise der historischen Epoche der Moderne“, die all diese Entwicklungen auch infrage stellte. Die Ursprünge dieser Krise werden von verschiedenen Fachleuten jedoch früher, oft um die Jahrhundertwende herum, gesehen. Als ein Weg aus dieser Krise sah sich der „seriöse, wissenschaftlich orientierte“ Spiritismus.
Nährboden für Spiritismus
Nachdem bereits der Erste Weltkrieg für Millionen Menschen eine verunsichernde Zäsur darstellte, dürften auch die folgenden Jahre „ein guter Nährboden für Weltuntergangsprediger und andere geistige Erneuerer wie ‚Barfußpropheten‘“ gewesen sein, die alle zumindest okkultistisch inspiriert waren, so Ochs. Sogar die Kriminalpolizei setzte immer wieder „hellseherische“ Medien für die Suche nach Vermissten und Leichen ein, während sie zunehmend mit modernen Methoden wie Fotokartei, Fingerabdrücken oder Tatortsicherung arbeitete. So wurden auch in den 1920er Jahren und später weiter Experimente mit den psychischen Kräften spiritistischer Medien gemacht, mit immer wilderen, pseudo-naturwissenschaftlichen Theorien.
Auch vielen führenden Nationalsozialisten wird eine Nähe zum Okkultismus nachgesagt. Belegen lässt sich das für Rudolf Hess und Heinrich Himmler, der im Rahmen des ‚SS-Ahnenerbe‘-Forschungsprogramms abenteuerliche Projekte förderte. In der Bundesrepublik wurde 1950 in Freiburg – nach Ochs‘ Worten bis heute eine Hochburg der Esoterik – ein Institut für Parapsychologie an der Universität gegründet, das noch heute in etwas geänderter Form existiert.
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- Artikel im Wissenschaftsmagazin Fernglas (erscheint ca. Mitte November 2021) | mehr