Die Katastrophe vor der eigenen Haustür

Vor einem Jahr wurde Hagen schwer überflutet. Beim Politischen Salon auf dem Campus der FernUniversität diskutierte die Stadtgesellschaft über Lehren aus den Geschehnissen.


Foto: FernUniversität
Michael Funke von der Hagener Feuerwehr schilderte seine Sichtweise beim dramatischen Großeinsatz.

Am 14. Juli 2021 kam das Wasser. Teile Deutschlands wurden massiv überflutet. Das Hochwasser forderte Menschenleben, zerstörte Existenzen, hinterließ Trümmerberge. Auch Hagen kämpfte erbittert mit der Flut. Zahllose Betroffene, Einsatzkräfte und Freiwillige stemmten sich gegen die Wassermassen. „Bilder, die sich in unser aller Gedächtnis gebrannt haben“, fasst Prof. Dr. Ada Pellert, Rektorin der FernUniversität zu Beginn des Politischen Salons zusammen. „Ich glaube, es gibt niemanden in Hagen, der diesen 14. Juli nicht in Erinnerung hat. Es war eine Katastrophe, die ganz nah war.“ Der 8. Teil von „ImPuls: Politischer Salon Hagen“ brachte wieder Podiumsgäste aus Wissenschaft, Politik, Wirtschaft und Medien mit der Stadtgesellschaft zusammen. Die FernUniversität richtet die Reihe in Kooperation mit dem Theater Hagen und dem Emil Schuhmacher Museum aus.

„Wir waren damals Non-Stop im Einsatz“, sagte Cordula Aßmann, Chefredeukteurin von Radio Hagen. Sie moderierte den Abend, zu dem rund 70 Gäste auf den FernUni-Campus gekommen waren. Die Flut erlebten auch sie und ihr Team, das rund um die Uhr berichtete, als Extremsituation. Startpunkt war der 13. Juli: „Das war eigentlich der erste Tag des Hochwassers. Und da fing auch für uns die Berichterstattung an. Mit Schlafsack im Studio, einer der Kollegen in Kanukleidung, damit er überhaupt mal rausgehen und O-Töne holen konnte.“ Auch Aßmann unterstrich, wie einschneidend die Flut für viele Menschen aus Hagen war – und, dass viele Betroffene noch heute mit den Folgen ringen.

Nächster Teil der Reihe

Der Hagener Salon setzt sich fort; Interessierte können sich bereits den nächsten Termin vormerken: Am 20. Oktober wird es im Politischen Salon um das Thema „Russlands Krieg gegen die Ukraine“ gehen. Weitere Infos zur Reihe

Stadt im Ausnahmezustand

Die Teilnehmenden des Abends bildeten einen Querschnitt durch die gesamte Stadtgesellschaft ab. Vertreterinnen und Vertreter von Hilfsaktionen, aus der Verwaltung, dem sozialen Sektor und der Kommunalpolitik meldeten sich genauso zu Wort wie betroffene Privatpersonen. Aus dem Publikum kam dabei überwiegend Anerkennung für die gemeinsame Leistung, allerdings auch kritische Töne – etwa in Bezug auf eine als zu langsam empfundene Bürokratie. Wie überwältigend die Flut trotz akribischer Vorbereitung war, schilderte Michael Funke, der bei der Hagener Feuerwehr für Katastrophenschutz und Extremunwetterereignisse zuständig ist. „Wir sind die einzige Stadt in Nordrhein-Westfalen mit vier Flüssen. Wir sind sicherlich gut in der Vorplanung gewesen, aber das, was uns am 14. Juli hier erreicht hat, war für uns unfassbar und unbegreiflich.“ Als Reaktion auf den „Vollalarm für die Stadt Hagen“ arbeiteten Feuerwehr, Polizei, Bundeswehr, Hilfsorganisationen und Bevölkerung in nie dagewesen Ausmaß zusammen. „Wir haben zu Spitzenzeiten 1200 Einsatzkräfte geführt“, erklärte Funke dem Publikum. „Sie können sich vorstellen, was die fünf Tage für uns bedeuteten. In diesen fünf Tagen sind 1.442 Einsätze abgearbeitet worden.“ Viel bleibt noch zu tun – nicht nur an konkreter Arbeit, sondern auch organisatorisch und kommunikativ. „Wir finden noch immer Leute, die hilflos sind und nicht wissen wo sie sich Hilfe suchen können“ berichtet Gerard Gross von der Arbeiterwohlfahrt (AWO) Hagen, der in seiner Funktion als Hochwasser-Beauftragter zu Gast war.

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Auch der Hagener Unternehmer Ingo Bender (li.) und Oberbürgermeister Erik O. Schulz teilten ihre persönlichen Erinnerungen mit dem Publikum.

Ärmel hochkrempeln, aufräumen

Über hundert Anrufe von Notleidenden täglich auf seinem Handy, so erinnerte sich Hagens Oberbürgermeister Erik O. Schulz an die Extremsituation für Stadtverwaltung und Krisenstab. „Es begann eine Zeit in der wir über Tage und Wochen auch als Leitung der Verwaltung rund um die Uhr in Wallung waren.“ Ähnlich ging es auch Ingo Bender, Geschäftsführer der Hagener Feinstahl GmbH. Nach der Zerstörung seines Betriebs blieb ihm nichts anderes übrig, als tapfer die Ärmel hochzukrempeln: Gemeinsam mit Mitarbeitenden und Helfenden versuchte er, seine Firma so schnell wie möglich wieder einsatzbereit zu machen – die Kundschaft aus der Großindustrie sei schließlich nicht ewig bereit auf die Produkte zu warten. „Wir haben, westfälisch gesagt ‚einfach reingehauen‘, ohne groß darüber nachzudenken.“ Dabei halfen dem Geschäftsführer auch seine guten Kontakte, um helfende Hände, Werkzeuge und Geräte zu organisieren.

Katastrophe erwächst aus Schutzlosigkeit

Gesprächsgast Jun.-Prof. Julius Weitzdörfer ordnete dieses Potential wissenschaftlich ein. „Das, was darüber entscheidet, wie gut wir als Gesellschaft mit einer Katastrophe zurechtkommen, sind die menschlichen Netzwerke.“ Die Forschung nenne das „soziales Kapital“. Doch welche Lehren lassen sich nun, ein Jahr später, aus der Katastrophe ziehen? „Die wichtigste Sache, die man über Naturkatastrophen wissen muss, ist, dass es keine Naturkatastrophen gibt“, erklärte Julius Weitzdörfer, FernUni-Juniorprofessor für Ostasiatisches Recht. „Es gibt nur Naturgefahren.“ Diese erlebten Menschen als Katastrophen, insoweit sie ihnen gegenüber ungeschützt und empfindlich seien. Als Experte für Japanisches Recht hat Weitzdörfer genau betrachtet, welche Mechanismen das Land entwickelt hat, um mit den dort besonders häufigen Naturgefahren umzugehen. Eine Stärke liege im Versicherungsmodell Japans, das als Vorbild für Deutschland dienen sollte, denn: „Die Versicherung kann darüber entscheiden, ob eine Katastrophe existenzgefährdend ist.“ Der FernUni-Jurist schlägt vor, hierzulande das staatliche Hilfesystem ebenso intelligent mit dem privaten Versicherungssystem zu verzahnen. „In Japan hat man schon sehr lange Erfahrung damit, die staatlichen und privaten Mittel fifty-fifty ins System einzuwerfen.“

Wohin mit dem Wasser?

Angeregt diskutiert wurden schließlich auch verschiedene Ideen zur ökologischen Vorsorge – zum Beispiel Strategien zur Reduzierung versiegelter Flächen. „Ich möchte, dass in Hagen mehr dafür getan wird, dass die bereits versiegelten Flächen wiederbenutzt werden. Und das Gewerbeflächen nicht immer nur in neuem ungenutzten Gelände entstehen“, plädierte etwa Christa Stiller-Ludwig für einen sorgsameren Umgang mit den Böden. Die Hochwasserexpertin leitet die Untere Wasser-, Bodenschutz- und Abfallbehörde der Stadt. Hagen nun ausschließlich nach Gesichtspunkten der Hochwasserprävention zu strukturieren, das sei angesichts der vielschichtigen Interessenlage in einer Stadt nicht möglich, so Erik O. Schulz: „Am Ende ist Politik immer ein Versuch von Ausgleich.“ Man müsse sich daher jedes einzelne Vorhaben sorgsam angucken. Letztlich sei aber klar: „Einfach so weiterzumachen wie bisher und zu sagen ‚die Stadtentwicklung in den nächsten zehn Jahren wird so sein, wie sie in den letzten hundert Jahren war‘, das geht auch nicht.“

Benedikt Reuse | 03.06.2022